Auf nachtkritik erschien vor einigen Tagen ein Diskussionsbeitrag von Matthias von Hartz (auch abgedruckt im Theater der Zeit Arbeitsbuch „ Heart of the City – Recherchen zum Stadttheater der Zukunft“), der sich mit dem Verhältnis zwischen Stadttheatern und sogenannten freien Theatern auseinandersetzte und mehr oder minder erst gemeinte Lösungsansätze für die von ihm konstatierte Krise des deutschen Stadttheatersystems präsentierte.
Wer dieses Blog hier ein wenig mitverfolgt, wird erwarten, dass hier sowohl seine Zustandsbeschreibung als auch die präsentierten Lösungsansätze als bei weitem nicht grundlegend genug betrachtet werden. In den Postings zum Tod des Stadtthaters (Teil 1, Teil 2, Teil 3) dem Siechen von Theatern und Kritik (hier) und dem zuletzt hier geposteten Lösungsvorschlag war ich der Situation ebenfalls nachgegangen – mit allerdings einigen anderen Konsequenzen.
Was sagt von Hartz
Von Hartz zieht die Differenz zwischen Stadttheatern und Freien Gruppen, konstatiert, dass „Innovationen“ im Wesentlichen aus der freien Szene kämen und schließt daraus, dass die unterfinanzierten Freien Gruppen mehr Geld bekommen müssten. Dabei ist seine Problembeschreibung durchaus „dramatisch“. Es gehe, schreibt er, letztlich „ um Entwicklung und Überleben des gesamten Mediums“. Er konstatiert, dass zwar 90% der öffentlichen Mittel in die Stadttheatersysteme fließen, die „Innovationen“ hingegen zu 90% aus den gering finanzierten „armen“ freien Gruppen kämen.
Das Interesse des Stadttheaters sei dabei weniger die Zukunft des Theaters, sondern das eigene Überleben als Institution, das als Institution eben zunächst am Fortbestand und an der ökonomischen Nutzung der eigenen Ressourcen interessiert sei. Die Struktur der Instituition bestimme, welche Art von Theater produziert wird. In einer Formulierung, die auch hier aus dem Blog stammen könnte, stellt er fest: „Über die Jahrhunderte ist so eine Fabrik entstanden, die sehr professionell und spezialisiert ein sehr gutes Produkt herstellt.“. Ausführlicher und pointiert:
Interessant ist, dass die Probleme am Stadttheater nicht nur durch Menschen oder Dinge entstehen, die ein Künstler braucht und die es dort nicht gibt. Sondern auch durch die Produktionsmittel, die vorgehalten werden, die man aber nicht benutzt. Also: Wer nicht probt oder keine Schauspieler für seine Arbeit braucht, produziert Leerstand.
Von der Institution zum Inhalt
Im Verlauf seines Textes durchaus unvermittelt fällt von Hartz dann aus der institutionellen in die inhaltliche Kritik, die durch seine vorherigen Ausführungen nicht vorbereitet ist:
Als Theaterbesucher wünsche auch ich mir, dass die Institution sich mit den Themen der sie umgebenden sozialen Realität befasst.
Man könnte fragen, ob nicht auch die beschriebenen Institutionen grundsätzlich in der Lage wären, sich mit der umgebenden gesellschaftlichen Realität auseinander zu setzen? Ob sie es nicht vielleicht sogar tun und dabei nur nicht wahrgenommen werden – weil es einfach zu viel wäre, um es sich in all den vielen Theatern anzusehen. Seine Lösung: Reisezwang für Intendanten und Kulturpolitiker, Kooperationszwang mit freien Gruppen, Schaffung eines Modellhauses sind am Ende sicherlich eher hilflose Scherze, denn Vorschläge, um das dermaßen dramatisch beschriebene Stadttheater zu retten.
Warum von Hartz zu kurz denkt
Zu reflektieren wäre, warum es ein Stadttheater in der von Hartz beschriebenen Institutionsform und Freie Gruppen mit „Innovationen“ gibt. Lange Zeit waren freie Theatergruppen nichts anderes als Stadttheater in klein. Laienschauspieler, ‑regisseure, ‑autoren usw. taten sich zusammen, um im Wesentlichen dasselbe zu tun wie Stadttheater – nur auf anderem Qualitätsniveau. Den Unterschied machte die Professionalität. Die Fabrik-Produktionsmittel sorgten dafür, dass die kleinen Theatermanufakturen einfach als das erschienen, was sie waren: Laienspiel.
In den 90er Jahren wandelte sich das. Nicht zuletzt durch den Giessener Theaterwissenschafts-Studiengang oder Strombergs Übernahme des TAT entstand eine freie Szene, die anderes Theater machte, als das, was an den Stadttheatern zu sehen war. Ein ganz anderes Theater neben den Stadttheatern, die sich in einer Haltung des Konservatismus übten, den sich nicht einmal der Vatikan mehr erlauben kann. Sich versteckend hinter „Leuchttürmen“ wie der Volksbühne, Marthaler, Jelinek, Schlingensief betrieb ein Großteil der Theater „Business as usual“. Die Konsequenz: Seit Anfang der 90er Jahre ist in den Stadttheatern ein anhaltender Publikumsschwund und gleichzeitige Publikumsvergreisung zu beobachten. Mit einer Folge, die tatsächlich aus einer fabrikartigen Produktionsdenke stammt. Dazu gleich mehr.
In Summe ist also zu sagen, dass es heute zwei Theater gibt. Das Stadttheater, das sich im Wesentlichen als Institution verstehen lässt, die aus einem Ort, einer Stadt, einem Gebäude, einer Infrastruktur und einem Personal besteht – und ein „freies Theater“ gibt, das weit eher als ein Netzwerktheater (im Gegensatz zum Institutionstheater) zu bezeichnen wäre. Letzteres ist nicht ortsgebunden, international, vernetzt, fluktuierend sowohl von den beteiligten Personen, als auch den örtlichen Bedingungen. Letzteres – wie es etwa Ivan Nagel hier zitiert tat – in der Tradition der Reisebühnen und „Truppen“ zu verorten, wie es sie vor der Institution der Stadt- und Staatstheater im 18. Jahrhundert gab, wäre fatal und falsch. Diese Reisetruppen hatten einfach kein festes Haus. Das Netztheater der Gegenwart ist anders.
„Innovationen“ als Produkt der Produktionsdenke
Von Hartz unterstellt den Stadttheatern, keine Innovationen zu betreiben. Das stimmt und stimmt nicht. Tatsächlich reagieren die Stadttheater seit den 90er Jahren wie jedes andere Unternehmen, dessen absolute Kundenzahl zurück geht: Man versucht an weniger Leute mehr zu verkaufen. Heißt für die Theater: Immer mehr Neuinszenierungen, Premieren, Uraufführungen. Ein Rennen, das für Produzenten niemals zu gewinnen ist, weil bei gleichbleibendem Budget die Qualität leiden muss. Und der voranschreitende „Kunden“-Schwund die Spirale nur immer weiter drehen wird. Aus Uraufführungen werden Szenische Lesungen. Aus Szenischen Lesungen „Bunte Abende“ mit ausschnittsweise gelesenen Texten. Oder zusammengeklaubte Gastspiele werden zu „Festivals“ deklariert. Wer eine „ökonomische“ Denke an den Tag legt und in der Form handelt, bringt das eigene „Unternehmen“ um. Insbesondere, wenn zugleich argumentiert wird, Theater seien eben keine Unternehmen oder Wirtschaftsbetriebe.
Natürlich sind sie keine Wirtschaftsbetriebe. Sich aber als Nicht-Wirtschaftsbetrieb gerade die dümmste Weise des „wirtschaftlichen“ Handels auszusuchen, um eigene Probleme zu adressieren ist – saudumm.
Das Problem ist kein Wirtschaftliches – die Lösung kann auch keine „wirtschaftliche“ sein.
„Institutionen“
Tatsächlich ist das Institutionsproblem, das von Hartz beschreibt, eines, das auch andere Branchen erleben. Ganz vorne weg Zeitungen. Das rasante Siechtum der deutschen Zeitungslandschaft, über die im Web so viel zu lesen ist, dass ich es hier nicht erneut darstellen muss, zeigt: es ist nicht das erwachende Desinteresse an bestimmten Inhalten, das Institutionen in die Knie zwingt. Sondern ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel. Um ihn mit einem Schlagwort zu benennen: Die entstehende Netzgesellschaft, von der Manuell Castells schon vor über 10 Jahren schrieb und die Dirk Baecker für die „nächste Gesellschaft“ hält. Es gibt keine, wirklich keine Institution, die diesen Wandel nicht am eigenen Leib erlebt. Und die darauf nicht mit Panik reagieren würde. Es ist nicht allein die kostenlose Allverfügbarkeit der Information, die Zeitungen in gedruckter Form bedroht, nicht allein die Vernetzungsfähigkeit von Menschen, die Regierungen ins Wanken bringt, nicht allein die netzbasierte Zusammenarbeit, die bestehende Unternehmensgrenzen auflöst, nicht allein die Vergleichbarkeit von Preisen, die Handelsunternehmen in Not bringt, nicht allein die Macht der veröffentlichten Kundenmeinungen, die Produkthersteller bedroht – aber es ist all das zusammen. Und noch vieles mehr, das man als Entstehen einer neuen Form von Gesellschaft beschreiben kann.
Stadttheater hingegen sind Institutionen einer in Auflösung befindlichen Gesellschaftsform, die im 19.Jahrhundert entstand. Relikte einer Zeit, in der das Publikum nicht mehr zuhause ist. Fabriken und Produktionsstätten, den Krupps und Mannesmanns dieser Zeit vergleichbar. Sie sind nicht zufällig als Institutionen so beschaffen, wie sie beschaffen sind. Sondern ihre Beschaffenheit ist ihr wesentlicher Inhalt. Als Institutionen sind sie Formen – und es ist diese Form, die sich überlebt hat.
Hingegen entspricht die Arbeitsweise freier Gruppen in weiten Teilen den Kriterien, mit denen die Netzwerkökonomie der Gegenwart und näheren Zukunft beschreibbar ist. Prekär, projektbasiert, kooperativ, weitgehend hierarchiefrei, ohne festen Ort, ohne feste Anstellung, international. Angestellten an Stadttheatern muss „Wir nennen es Arbeit“ von Lobo/Friebe wie ein Bericht aus einer anderen Welt erscheinen. Für freie Gruppen ist es weitgehend eine Beschreibung ihrer eigenen Lebensumstände. Und damit zugleich die Fähigkeit, mit diesen Umständen nicht nur zu leben und zu arbeiten – sondern sie zugleich in der Arbeit aufzunehmen, zu reflektieren und zu konkretisieren.
Befassung mit der umgebenden sozialen Realität
Die von Matthias von Hartz geforderte Auseinandersetzung mit der umgebenden Realität kann nicht reflektieren, wer außerhalb dieser Realität angesiedelt ist. Man könnte jetzt entgegen halten: Natürlich kann ein Stadttheater ein Stück auf die Bühne bringen, dass diese Realität darstellt. Das aber zeugt von dem grundlegenden Unverständnis, das die Stadttheater in die gegenwärtige Situation brachte. Denn bereits eine solche formale Aufarbeitung ist nicht mehr in der Lage, diese Realität zu greifen.
Die Netzwerkgesellschaft stellt Fundamente zur Disposition, auf denen die Stadttheater aufgebaut haben. Es würde den Rahmen jedes Blogs sprengen diese Fundamente auch nur ansatzweise wieder zu geben. Dazu gehören die gesellschaftliche Verortung des Theaters in einer (so nicht mehr existierenden) Stadtgesellschaft (groß)bürgerlicher Provenienz, das Spannungsverhältnis zwischen Literaturtheater und einer im Grundsatz scripturalen Gesellschaft, zwischen dem Verständnis von Schrift als ein-eindeutigem Dokument und Theater als freies Spiel der Einbildungskraft mit und rund um das scheinbar Eindeutige, die Konstitution von Privatheit und Öffentlichkeit in der Gesellschaft, die Konstitution von Innen und Außen in den als „Menschen“ angelegten Akteuren, die als Anfang-Mitte-Ende angelegte Dramaturgie, die eine Form von Vulgär- und Profan-Eschatologie verkündet, die im 19. Jahrhundert aufkommende Massenmedialisierung, die differenzierte zwischen sendeberechtigten „Experten“ und rezipierenden Empfängern und noch einiges mehr.
Kann also als einigermaßen beschreibbar angenommen werden, wie es war – so ist doch die Frage jetzt, wie es eigentlich ist. Die sogenannten postdramatischen Aktivitäten der letzten beiden Jahrzehnte haben ihren Teil dazu beigetragen, dass die herkömmlichen Dramaturgien und Formen ins Wanken gerieten oder gar in Trümmer fielen. Die Frage lautet: Was ist die kommende Form?
Um nur ein Beispiel zu nehmen: In der Vergangenheit konstituierte sich Öffentlichkeit durch Information und Transparenz. Im 19.Jahrhundert sorgen journalistische Institutionen dafür, dass politisches Handeln einer dadurch erst zu einer solchen werdenden Öffentlichkeit transparent gemacht, in seinen Verflechtungen und Konsequenzen dargestellt und in den Beziehungen auf das gesellschaftliche Leben eingeordnet wurde. Diese Form der Transparenz findet sich in gewisser Weise auch auf den Bühnen der Zeit, die sich Historisches wieder vergegenwärtigte, Verborgenes (in den privaten 4 Wänden) ausstellte und (psychisch) Innerliches äußerte.
Inzwischen aber wird Öffentlichkeit zunehmend als eine Frage der Partizipation betrachtet. Jenseits des vierjährlichen Wahlspektakels finden sich in rasant wachsendem Ausmaß Forderungen nach aktiver Entscheidungsbeteiligung, Initiativen zur Bereitstellung von Informationen jenseits journalistischer Aufarbeitung, Bewegungen unabhängiger Meinungsbildung, die weder vor 15 noch vor 150 Jahren denkbar gewesen wären. Wenn aber in der Politik die Scheidung zwischen Akteuren auf der Bühne und rezipierendem Publikum derart ins Wanken gerät (und weit über die Politik hinaus in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens) – wie könnten dann Theater, verhaftet in dem alten Dispositiv, glauben, dass sie in dieser Gesellschaft überhaupt angekommen wären? Es ist keine inhaltliche Frage – es ist eine formale Frage. So wie die Frage nach Demokratie oder Monarchie ein Frage der Staatsform ist.
Theater versteht die Welt nicht mehr
Theater haben sich seit Jahrzehnten weitgehend vom Prozess künstlerischer und vor allem auch gesellschaftlicher Entwicklungen abgekoppelt. Mit wenig Polemik lässt sich sagen, dass das postdramatische Theater der letzten Jahre vielleicht gerade einmal als Parallele zum Kubismus verstehen lässt: Fragmentierung des Ganzen, Auflösung in Aspekte – aber noch immer im Denken der Ganzheit verhaftet und vor allem an einer figürlichen Wiedergabe von so etwas wie naiver „Wirklichkeit“.
Seit Brechts Unternehmen, zumindest dem Dickicht der modernen Großstädte näher zu kommen, gab es keine ernst zu nehmenden umfassenderen Versuche mehr, sich damit auseinander zu setzen, was denn Welt unter den Bedingungen des 20. Oder gar 21. Jahrhnderts ist oder sein könnte. Als Verlängerung von Klassikerbibliotheken, Literaturbebilderungsanstalten und Lebensbaubehörde haben Theater verlernt, sich mit dem auseinanderzusetzen, was ist. Was Gesellschaft ist oder sein könnte. Was Mensch ist oder sein könnte. Was geschieht. Als handele es sich um die Live-Version der medial festgelegten und eng begrenzten Formen Fernsehen und Film, bleibt Theater in einer Welt verhaftet, die es nicht mehr gibt. Und versteht die Welt nicht mehr, in der es sich befindet.
Diese Welt ist spannend und spannungsreich. Und es ist eine andere Welt, die noch nicht im Ansatz „verstehbar“ ist – man muss schon das Konzept des „Verstehens“ selbst daraufhin befragen, was es in der alten Welt gemeint hat und was ihm in der neuen Welt adäquat sein könnte. Um es mit Dirk Baecker zu sagen:
Die rationale Ordnung der Buchdruckgesellschaft, wie immer konterkariert durch Katastrophen der Trivialisierung ihrer Komplexität, weicht einer neuen Ordnung, deren zentrale Ordnungsfigur, wenn sie so etwas hat, noch nicht gefunden ist. (Schriften zur nächsten Gesellschaft, 82)
Und später heißt es bei ihm:
Verfolgt man die These, wie wir es hier tun, dass neue Verbreitungsmedien der Kommunikation nicht etwa lokal aufgefangen und eingebaut werden können, sondern die Gesellschaft insgesamt in Anspruch nehmen, dann wird die Verunsicherung, die daraus resultiert, auch das Theater erreichen, jenen Beobachter der Gesellschaft, der immer wieder neu die Differenz von Vorführung und Publikum dazu nutzt, um herauszufinden, zu feiern und zu kritisieren, je nach Bedarf, was noch geht und was nicht geht. (ebd., 85f.)
Nun ist Baecker ein Repräsentant der Buchgesellschaft – und kommt deswegen nicht umhin, sowohl am Beobachter (der sich also einem Beobachteten glaubt gegenüber stellen zu können), als auch an der sicheren Trennung zwischen Vorführung und Publikum fest zu halten – was es aber konsequenterweise in Frage zu stellen gilt. Genau dieser Glaube, man könne sich noch als Beobachter auf eine Außenposition stellen oder durch die Einnahme der Beobachtungsposition eine herausgehobene Stellung erreichen, gerade diese Grundannahme kommt ins Wanken. Schön in ein Bild gefasst hat das Martin Oetting in einem letztens hier geposteten Video für Werber: Der Beobachter beobachtet Ratten nicht mehr außerhalb des Rattenkäfigs. Er sitzt mitten darin, Aug‘ in Aug‘ mit den Ratten, die ihn beim Beobachten vielleicht beobachten. Das Projekt nachtkritik, das die monarchisch-juridische Position des allein urteilenden Kunstrichters aufhebt und sich der Debatte aussetzt, ist ein Vorbote dessen, wohin es gehen kann: Kritiker, die nicht mehr außerhalb des “Rattenkäfigs” in ihrer Redaktionsstübchen einsam das letzte Urteil schreiben, sondern einen Gesprächsbeginn (idealiter) ermöglichen.
Vom Dokument zum Performat
Von dem Systemtheoretiker und Soziologen Klaus Kusanowsky wird die Unterscheidung zwischen Dokumenten (wie sie eine gerade vergehende Gesellschafts- und Kulturform ausmachen) und Performaten enorm fruchtbar angewandt. Die Kategorien des Dokuments sind dabei den kantischen Kategorien, wie auch der klassischen Theaterdramaturgie enorm eng verwandt. Es handelt sich dabei um eine grundlegende Kulturform, die nun durch das abgelöst wir, was Kusanowski Performate nennt.
Während das Dokument – der Theateraufführung gleich – als ein Werk zu verstehen ist, das bestimmten kulturellen Produktionsprozessen unterliegt, die möglichst transparent sein sollen und zugleich die ökonomische Handelbarkeit sichern, verflüssigt das Performat diesen Werkcharakter. Jenseits der Unterscheidungen Original/Fälschung, Identität/Verschiedenheit, Ganzheit/Fragmentiertheit, Mein/Dein, die dem Dokument eignen, sind Performate „dauerprozessierte und fluktuierende Formate, die keine Manipulation nicht zulassen“. (hier) Wer den Unterschied an einem plastischen Beispiel nehmen will, vergleiche ein Buch und eine Webseite. Beides Schrifträume – und beides so verschieden, wie es sich nur denken lässt. Die Webseite nicht nur andauernd veränderlich, bloß möglicherweise die „selbe“ beim nächsten Besuch, voller Links und Bezüge auf andere Inhalte, die sich nicht kontrollieren lassen. Selbst verlinkt, ausschnittsweise kopiert, anderswo eingefügt, in einen Surfprozess eingelassen, der mit dem Leseprozess eines Buches oder mehrerer Bücher nichts gemein hat.
So wäre zu fragen, wie ein Theater wäre, das nach dem Dokumentschema stattfindet. Eines, das nicht einfach als „Performance“ die alte Struktur der Aufteilung zwischen Sendemedium und Zuschauermasse reproduziert, sondern tatsächlich zu einem Performat wird. Wie also ein Buchtheater zu einem Netztheater werden könnte, das die sich entwickelte Erfahrungsform des Performats aufnimmt, fruchtbar macht und zugleich zu verstehen unternimmt.
Von der Institution zum Möglichkeitsraum
Es geht nicht um ein plattes „Mitmachtheater“ – so wenig wie die Erhöhung der „Bürgebeteiligung“ im politischen Raum durch Plebiszite und ähnliches dieser anderen Gesellschaftsform gerecht werden könnte. Trotzdem geht es um das Stadttheater – und nicht darum, freien Gruppen diese Aufgabe zu überlassen. Nicht um die Gründung von Sekten, die auf der Grundlage der katholischen Lehre einige fortschrittliche Aspekte in die Religion einbauen – sondern um die Reform des Vatikans. Die Institution der Stadttheater hat als Form einen Sinn. Wie es den gegenwärtigen Stadttheatern aber nicht gelingt, ein Jenseits der Dokumentform, ein Theater unter den Bedingungen der Netzgesellschaft zu erschaffen, so dürfte auch recht klar sein, dass die meisten freien Gruppen nicht in der Lage sind, eine staatstheatrale Großbühne zu „füllen“. Der Raum eines Stadttheaters ist gnadenlos gegenüber zu kleinen Pflänzchen. Der Petersdom will erst einmal gefüllt sein.
Theater war immer und bleibt ein Möglichkeitsraum. Die Netzgesellschaft zwingt zu neuen Möglichkeiten — aber nicht unbedingt zu “Innovationen”. Dazu gehören auch Texte, die den Versuch unternehmen, jenseits des Dokumentschemas zu operieren und dennoch Theatertexte sein können, jenseits von „Textflächen“. Vielleicht ist die gegenwärtige Krise der Stadttheater vornehmlich eine Krise der Texte, die nicht mehr sein können, was sie waren, und noch nicht sind, was sie werden könnten oder müssten. Texte, die sich vom Paradigma der Buchlektüre verabschieden und das Paradigma des Surfens aufnehmen? Die die Unterscheidung zwischen „Vorführung und Publikum“ aufheben, ohne dabei das Vor-Schreiben aufzugeben. Wie war das noch:
Als Theaterbesucher wünsche auch ich mir, dass die Institution sich mit den Themen der sie umgebenden sozialen Realität befasst. […] Ich fordere eine stärkere inhaltliche Anbindung an die politische und soziale Realität ein.
Ich auch. Und ich hab da so eine Idee…