Letzte Woche hatte ich das Vergnügen eines Gesprächs mit der nachtkritik Redaktion. Und machte mich auf den Heimweg, beschenkt mitr einem Buch, das ich mir vermutlich niemals selber gekauft hätte. Was ein Fehler gewesen wäre. Und zwar.
Der neue Buch des vor wenigen Tagen 80 Jahre alt gewordenen Ivan Nagel. „Schriften zum Theater“ heißt es unorginellerweise. Nagel. 60er. 70er. Auch 80er Jahre. Adorno. Institution in einer Theaterwelt, die es so nicht mehr gibt. Das waren so einige der Vor- und Urteile, die mir im Kopf waren zu ihm. Ich nahm mir das Buch also auf der Rückreise vor und fand erst einmal einigermaßen bestätigt, was zu erwarten war. Künstlerporträts Kortner, Zadek, Minks, Stein. Nichts, was man nicht im Rahmen der klassischen literarischen Form der Theatererinnerung erwarten würde. Sehr lesbar, aber eben auch sehr vergangen.
Zum Glück hab ich das Buch nicht weggelegt, sondern mich bis zum dritten Abschnitt „Zum Theater“, der beginnt mit einem Text „Der Kampf für die Schaubühne“, vorgelesen. In den hier versammelten Texten kommt nicht nur ein anderer Ivan Nagel (für meine Wahrnehmung) hervor, sondern einer, der offensichtlich in der Gegenwart schmerzlich wieder gewünscht wird. Ein Kritiker, der sein erworbenes Renommee nutzt, um öffentlichen Einfluss auszuüben. Und der dem Theater Ende der 60er und Ende der 80er attestierte, was ihm heute wieder zu attestieren wäre, mit einer Verve, die ebenfalls wieder an die Tagesordnung gehört, eine Schärfe und Brillanz in der Diktion wie in der Reflexion, die heutigen Kritikern und nachtkritikern zu wünschen wäre. Ich erlaube mir einige Zitate, die zwar aus dem (textlichen und historischen) Zusammenhang gerissen sind und sich nicht gegen das richteten., wogegen sie sich im neuen Kontext hier richten sollen, was aber insofern nichts zur Sache tut, als das traditionellen Jahrzwanzigst für Theter verstrichen ist, ohne dass soilche Sätze gefallen sind. Die Markierung der Jahrzwanzige: 1947 Gründung Düsseldorfer Schauspielhaus durch Gründgens und Etablierung des Nachkriegs-Stadttheaters in der noch heute weitgehend existierenden Form. 1969/70 Gründung der Schaubühne durch Stein und Peymann als Kollektiv und konsequentes Kollektivtheater. 1989 Gründung der Volksbühne mit Castorf. 2009 – nichts. Schlingensief hatte die Chance nicht mehr, etwas Neues in der deutschen Theaterlandschaft zu gründen (wenn er gewollt hätte), entschied sich für Burkina Faso statt Bottrop und starb zu früh. Aber das ist ein anderes Thema – nur stellen die Theater nach seinem Tod fest, dass neben ihm nicht viel passiert ist. Das ist der Kern der gegenwärtigen Krise. Zurück zu Nagel, der über 1970 und 1989/90 schreibt.
Stadt-Theater: Das Schaubühnen-Experiment
So könnte man Nagels Text über die Schaubühnengründung gerade wieder auf nachtkritk als Antwort auf die Forderungen von Matthias von Hartz stellen:
„Die Forderung einer neuen Ensemblearbeit ist für die neue Schauspieler‑, Regisseur- und Bühnenbildnergeneration im wörtlichen Sinne existenziell – sollen sie nach einigen Jahren zu Künstlern statt Beamten werden. […] Die Schaubühne bietet gute Chancen, dieses Modell auszuprobieren. Es fehlen hier die innerbetriebliche Opposition eines festgefahrenen Verwaltungsapparates oder einer Künstlergruppe, die bei der Ankunft der Neuen um ihre Beschäftigung fürchten müssen. […Es ist] denkbar, dass die Schaubühne […] zu einer Art Experimentierstätte für das ganze bundesrepublikanische Theater wird – für manche Neuerungen, ohne die es verkümmern muss.“ (195ff.)
Während das nur die zustimmende Beschreibung eines Theatermodells ist, das einfach nur zu kopieren bereits ein gigantischer Sprung für das gegenwärtige Theater wäre, sind die Verteidigungstexte Nagels gegen das Schließungs-/Förderungsstreichungskonzept des Berliner Senats als engagierte Statements für ein Neues eindrucksvoll – ebenso die darin zu findende Selbstbeschreibung der Aufgabe des Kritikers:
Unser Beruf, der des Theaterkritikers, besteht nicht allein darin, einzelne abgeschlossene Leistungen des deutschen Theaters nach Premierenabenden zu beurteilen. Wir müssen vielmehr versuchen, seine gegenwärtige Entwicklung zu beobachten und über seine künftigen Chancen nachzudenken.
Eine solche Aufgabenbeschreibung gehört als Post-It an jedem Kritiker-Bildschirm. Und die Beschreibung der Arbeitsweise dieser Bühne kann selbst als bloße Kopie bereits utopisches Potenzial entfalten:
Unser Theater ist in den letzten Jahren in die Stagnation geraten. Deshalb schlugen nicht nur die Rebellen, sondern auch verantwortliche Leiter von Stadt- und Staatstheatern vor, eine Bühne zu schaffen, auf der die Wünsche und Pläne für eine Reform ausprobiert werden können. Ihnen allen – wie auch uns – war klar, dass vorerst nur eine künstlerisch und weltanschaulich geschlossene Gruppe von jungen Theaterleuten dazu imstande ist, ein solches Experiment zu beginnen. […] Die ständige gemeinsame Diskussion über jedes ästhetische und politische Problem der Theaterarbeit [macht]seine innere Konstitution [aus]. (199f)
Ein Traum, sowohl die Beschreibung dieses Experiments wie auch das Experiment selbst, an das sich zu erinnern durchaus lohnt, auch wenn sowohl die Exponenten dieses Experiments wie auch ihre Arbeit – wie Theater im Grundsatz – zeitgebunden sind und diese Zeit vorbei ist. Aber der Mut zu radikal Neuem, sowohl bei den Machern als auch bei den unterstützenden Kritikern, die Verve der Auseinandersetzung kann auch die Gegenwart inspirieren. Nicht so sehr der konkrete Inhalt, sondern die Haltung.
Welt-Theater: Theater der Nationen
Bei der Lektüre der Verteidigungsrede für die Fördermittel des Festivals „Theater der Nationen“ lässt nicht nur einen Blick in die Bundes(theater)republikanische Zeit der 70er/80er zu. Es zeigt zugleich auch die Kraft eine prononciert artikulierten Beobachtungsparadigmas, das – in Anschlag gebracht sowohl bei der Kritik von Theater wie auch bei der Ausrichtung von so etwas wie einem Festival – dazu angetan ist, inhaltliche Dimensionen zu erschließen, die dieser Kunstform neu sind und Impulse geben, die über das Nur-Ästhetische hinausgehen. Zehn Jahre nach der Schaubühnengründung schreibt Nagel mit einer ähnlichen Diagnose wie damals:
Kann im trägen Wohlstand, im repräsentativen Dünkel, in der politischen Verfilzung der Staatstheater noch Kunst entstehen oder nur bildungsbeflissene Ablenkung, Beschwichtigung? […] Wer in der Kunst Wahrheit sucht, wer sein Leben auf diese Suche setzt, wird überempfindlich gegen jede Unwahrheit, die in der Kunst und Unkunst der anderen steckt. Wie im 19. Jahrhundert die Solidarität der Künste gegen bürgerliche Gier und Sättigung verniedlicht wurde zur Kameraderie einer gemütlich hungernden Boheme – so werden heute die Kämpfe zwischen Kunstabsichten, Kunstwerken als pikante Eifersucht zwischen Stardirigenten oder Regiefürsten klatschspaltenfähig gemacht. Wirkliche, gegenwärtige Kunst aber, auch Theaterkunst, entsteht und lebt im Streit. (206)
Vom Theater der Nationen erwartete sich Nagel eine „Phantasie für freiere, abweichende, alternative Möglichkeiten des Denkens, Fühlens, Lebens“. Was heute also im Wesentlichen zu platter Folklore oder Fernsehnachrichtenbegleitemotionalisierungsprogramm auf den Bühnen verkommen ist, die total betroffen machen wollen von dem, was da passiert und was schlimm, wirklich ganz ganz schlimm ist – setzte seinerzeit an, die Hiesigen aus ihrer Behäbigkeit und Ruhe zu bringen (anstatt sie durch den wohligen Grusel des grauenhaften Geschehens anderswo in ihrer inerten Behäbigkeit noch zu bestätigen).
Berlin-Theater: Begutachtung
Nach der Wiedervereinigung war unter anderem Nagel beauftragt, in einem Gutachten einen Generalplan für die Berliner Theater zu erarbeiten. Seine Empfehlungen für die Volksbühne lesenswert. Schlägt er doch vor, in einer Art Wiederaufnahme an die Gründung 1969, eine Experimentierbühne aus diesem Haus zu machen:
Das hässlichste große Theater Berlins ist (eben deshalb) am besten geeignet, ein junges Theater zu gründen: mit ästhetischer Innovationslust, politischer Schärfe wie (und sicher ganz anders als) die einstige Schaubühne am Halleschen Ufer. In diesem Haus […] ließe sich was bewegen. Bis zum Beginn des dritten Jahres könnte es entweder berühmt geworden oder tot sein:; in beiden Fällen wäre die weitere Subventionierung unproblematisch. (224f)
In der Tat, und es hat funktioniert in der 90ern. Unter Castorf. Und diesen Mut wünscht man sich von einer Stadtverwaltung heute wieder. Und in einem Text von 2006 gibt Nagel einige Hinweise, in welcher Form solch ein Experiment geschehen müsste (bzw. nach seiner Beobachtung außerhalb großer Häuser schon praktiziert werden:
Und heute? „D‘avant“ hat keinen Choreographen, es ist die tänzerische und musikalische Gemeinschaftsaktion von vier nichts austauschbaren Menschen. Alles, was ihre Beine und ihre Kehlen, was ihre Körper, Herzen und Gehirne können, bringen sie in eine gemeinsame Handlung ein, Nicos ‚Wo du nicht bist‘ (dort ist das Glück) kennt keinen Autor und keinen Regisseur, der jeden Vorgang schon vor Probenbeginn den Spielern vor- geschrieben, vor-inszeniert hätten. Die Arbeitsmethode nennt sich und ist ‚angeleitete Improvisation‘: eine geminsame Findung bald in mimischen Zeichen, bald in französischen, japanischen, holländischen, deutschen, englischen Sprachhandlungen, die wir nach und nach enträtseln.
Solche Arbeitsweisen sind heutig. Oft ähneln sie dem Teamwork kleiner Gruppen um einen Forscher-und-Organisator, aus dem im Computerzeitalter die technisch-wissenschaftliche Avantgarde von Silicon Valley entstand. Und jedesmal ähneln sie jener uralten, schöpferischen Form europäischen Theaters, das […] ein Theater der Truppe war. (251; Hervorh. von mir)
Da hat dieser 80jährige Herr Professor Nagel etwas verstanden, das vermutlich außer ihm wenige kapiert haben. Es ist die Relevanz der Arbeitsweise und ihre Heutigkeit. Es ließe sich noch viel aus seinen Texten zitieren, was ich mir hier spare. Das Buch kann sich jeder selbst kaufen. Und ich wünsche mir, dass es mehr solche Kritikertypen gäbe, die von Zeit zu Zeit mit dem gesamten System derart Schlitten führen, wie Nagel – und zugleich mit Verve das Experiment fordern und ermöglichen, das bisher dafür gesorgt hat, dass die Theaterkunst trotz aller institutionellen Versumpfungstendenzen doch noch vorhanden ist. Gerade noch. Ohne einen Nagel im Fleisch der Politiker und Feuilletonleser wird es immer schwerer werden für die Theater zu überleben. Der alte Mann hat mich beeindruckt mit seinem gänzlich unironischen Pathos und Engagement für ein anderes Theater. Und seiner ätzenden Schärfe gegen schlechtes Theater wie die Freie Volksbühne in der Schaperstraße.
Zum Abschluss eine Passage aus einem Interview mit 1985, das einer gewissen Aktualität nicht entbehrt:
Als ich vor zwei Jahren aus New York zurückkam, war ich verwirrt und empört über den Stand, sagen wir, den Gemütszustand des deutschen Theaters: Traurigkeit und Tranigkeit überall. Mich erschreckte die Verkleinerung, die Subjektivierung der Themen und des Spiels: das Schrumpfen der hiesigen Beschäftigung sowohl mit dem Leben als auch mit dem Theater. Eine Reihe von Regisseuren, die sich zu Intendanten gemacht hatten, befassten sich nach dem Abschwung des Politischen der 60er, 70er Jahre mit ihrem privaten Ach und Weh – und je kleiner die Schmerzen waren (beim Gehalt von einer Viertelmillion Mark im Jahr), um so monumentaler die ästhetischen Systeme, die sie darüberstülpten. Ein größeres Weh kam noch mit einem Bühnenbild für 100 000 Mark aus, ein ganz kleines Wehwehchen verlangte schon 200 000 Mark, kostbare Kostüme inbegriffen.
Ich sah da hervorragende, aber gleichsam von oben vergiftete Schauspieler: ohne Zuhause in einem Ensemble, ohne Mitteilungswillen für ein Publikum. Nach Aufführungen, die oft noch sorgfltig, ehrlich, ja (wie durch einen Unfall) vital und glanzvoll gerieten, saßen die Darsteller bei den Premierenfeiern wie beim Leichenschmaus. Sie stierten in eine Bierlache in der schütter beleuchteten Kantine und brummten vor sich hin, dass nichts mehr geht. Einen solchen Zustand finde ich verbrecherisch, weil lebens- und theaterwidrig.
Dem lässt sich Stefan Bläskes nachtkritik der letzten Wiener Festwochen “Zwischen Eiszeit und Dürre” wunderbar hinzufügen:
während der Festwochen hätte leicht der Eindruck entstehen können, man sei schon tot, oder jedenfalls fast, und das Theater feiere die Dämmerung des Abendlandes. Sechs intensive Wochen Eiszeit und Einsamkeit, Melancholie und Meditation, Tod, Trauer und Rückzüge. Natürlich lassen sich über vierzig Produktionen nicht in einen Tristheits-Topf werfen, aber Leere und Lebensmüdigkeit waren doch erstaunlich dominant. Was sagt diese Dauerdämmerung über das Theater, die Künstler oder unsere Gesellschaft? […]als Gesamteindruck bleibt eine erstaunliche Totenruhe, eine zugleich wehe und wohlige Einsamkeit, eine leise Lähmung und ein Eingefrorensein. In diesem Sinne waren die Wiener Festwochen 2011 ein wundersames Wintermärchen. Als sähe man die Welt durch dickes Eis, und spüre dessen sanftes Schmelzen.
Herr Nagel, übernehmen Sie!