Die gerade geführte Debatte rund um Google Streetview entbehrt nicht einer gewissen Komik – und zwar sowohl auf Seiten der Kritiker wie der Verteidiger. Sie entspannt sich scheinbar auf der Achse privat-öffentlich und kann doch auf dieser Achse weder verstanden, noch wirklich in ihrer tatsächlichen Tragweite entfaltet werden. Es fehlt der wesentliche Begriff zwischen privat und öffentlich.
Fassaden sind öffentlich
Auf Seiten der Befürworter herrscht scheinbar große Verblüffung darüber, dass die Fassade eines Hauses von irgendjemandem zur „Privatsphäre“ gerechnet werden könnte. Schließlich kann doch problemlos jeder Mensch an jedem Haus vorbeigehen, es betrachten, ohne dabei von den Bewohnern des Eingriffs in die Privatsphäre beschuldigt zu werden. Warum also sollte das digitale Abbild dieses Hauses nun plötzlich „privat“ sein – während doch vermutlich auch die Verteidiger der Privatsphäre sehr gerne die Möglichkeiten einer Realbild-Navigation, einer Besuchsplanung, einer Wohnungssuche usw. nutzen werden. Großes Unverständnis. Nicht unberechtigt.
Fassaden sind Teil eines Profils von mir
Auf der anderen Seite diejenigen, die ein Problem damit haben. Ich möchte sagen, dass ich dazu gehöre. Und zwar Angesichts solcher Dienste wie yasni oder 123people.de. Diese Dienste aggregieren personenbezogene Informationen, die im Netz zugänglich sind. Nach Eingabe des Namens erscheinen alle mit diesem Namen verbundene Profilbilder aus Social Networks, Twitter, MySpace, Facebook und Google Bildersuche. Zudem sind mit diesem Namen vorhandene Adress- und Telefonbucheinträge verknüpft, private Homepages, Veröffentlichungen, Suchtreffer aus News und Web, selbst Amazon-Wunschlisten, Videos, Instant Messaging und Skype sowie Blogs und die mit mir in Social Networks verbundenen Freunde.
Zukünftig wird hier auch noch die Fassade des Wohnhauses oder alle verfügbaren Wohnhäuser der Vergangenheit auftauchen. Und sie werden über die Jahre wachsen. Denn die Personensuchmaschinen werden natürlich über die Jahre hinweg zunehmend „klüger“ und vollständiger. Neben dem aktuellen Snaphshot wird eine Historie entstehen (diese Personensuchmaschinen sind erst einige Jahre am Start – noch ist da bei hinreichend häufigen Namen einiges an Falses enthalten). Man könnte auf die Idee kommen, diese Dienste zu verbieten – was überhaupt nichts bringt. Denn wenn die kostenlosen, allgemein verfügbaren Angebote aus dem Netz verschwinden, werden Software-Anbieter solche Technologien einfach als Desktop-Engines anbieten. Sei es jedermann, nur Unternehmen oder nur staatlichen Stellen. Die Büchse der Pandora lässt sich nicht verschließen.
Das veröffentlichte Private
Nun – wo ist das Problem? Das Problem lässt sich als privat/öffentlich nicht fassen. Denn schließlich bin ich es doch, der all diese Informationen „öffentlich“ gemacht hat. Allerdings habe ich sie nicht unbedingt „netzöffentlich“ gemacht. Gehen wir nun davon aus, dass ich in einer lauen Sommernacht – wie über 2 Millionen Deutsche – einen Account auf poppen.de eingerichtet habe. Oder vor einigen Jahren bei friendscout, edarling, adultfriendfinder, im Depressionsforum, im Aids-Selbsthilfeforum, in einem Produktkritik-Portal, bei Holidaycheck usw. Und gehen wir weiterhin davon aus, dass auch diese Daten mittelfristig zugänglich sein werden. Spätestens dann, wenn die Klarnamen-Pflicht eingeführt wird. Oder wenn die People-Suchmaschinen sich mit der Möglichkeit der Suche nach bestimmten „Pseudonymen“ nachrüsten, die es in anderen bereichen schon gibt. Ich kann jetzt schon eine ganze Reihe vorhandener Plattformen daraufhin durchsuchen lassen, ob dort ein bestimmtes Pseudonym angemeldet ist. Verknüpfe ich die Ergebnisse dieser Suche mit der Personensuche, ist Durchlässigkeit hergestellt. Und ich kann sie durch Bücher‑, Video‑, Musikpräferenzen nach Belieben anreichern. Damit ist das eigentliche Problem aber noch immer nicht zugänglich.
Das fehlende Element: Die Socialitäten
Wo ist also das Problem – ich habe mich doch öffentlich gemacht? Das Problem ist, dass „privat und „öffentlich“ nicht funktionieren. Zwischen Privat und Öffentlich gehört – abgeleitet aus dem Begriff des „Social Web“ das Soziale. Und zwischen scheinbar einheitlicher privater „Identität“ und öffentlicher „Person“ gehört ein Bündel an Socialities. Rifkin hat den nachmodernen Menschen als „proteische Persönlichkeit“ (in Access – Das Verschwinden des Eigentums; bes. S. 270 ff)) bezeichnet. Ich zitiere der Einfachheit halber Wikipedia:
Nach dieser Theorie zeichnet sich der moderne Menschentyp dadurch aus, dass er extrem anpassungsfähig und flexibel ist. Er besitzt keinen klar umrissenen Charakter, sondern schlüpft in viele Rollen. Absolute Wahrheiten existieren für ihn nicht, Politik oder soziales Engagement ist ihm zuwider. Er hält sein ganzes Leben für eine einzige Bühne, auf der er Rollen aufführt.
Damit ist der Sache näher zu kommen – und interessanter Weise taucht hier die Metapher der „Bühne“ auf (später im Artikel auch die „theatralische Persönlichkeit“) – wohl unreflektiert aber sehr zutreffend. Denn wie vor Kurzem hier ausgeführt ist „das Soziale“ imho der Raum des Theaters und Theater das Labor des Sozialen. Zurück zum gegenwärtigen Thema.
Socialitäten jenseits der Identität
Schonvor dem Netz zersplitterte der moderne, flexible und mobile Mensch in ein Bündel von (nicht: Identitäten sondern) Socialitäten. Das heißt in ein Bündel von Verhaltensweisen, die mehr oder minder bewusst in Beziehung zu bestimmten anderen Socii eingenommen werden. Es ist eine rein kommunikative Größe. Die Socialität eines Arbeitnehmers deckt sich nicht mit der Sozialität des Ehegatten, Vaters, Seitenspringers, Exfreundes, Elter oder des Kindes. In jeder dieser Beziehungen ist eine andere, zumeist bewusst zu lernende Sozialität vonnöten. Selbst gegenüber Vorgesetzten, gleichrangigen Kollegen und Untergebenen sind mindestens dreierlei Socialitäten am Werke, zumeist noch deutlich mehr. Denn diese Socialität ist nicht einfach die soziologische „Rolle“, die ein Pluriversum von angenommenen Identitäten unterstellt. Sondern sie ist Ergebnis einer Kommunikationsbeziehung.
Online-Socialitäten
Mag das für die Offline-Welt noch einfach beherrschbar sein, indem man darauf achtet, zu einer Party nur die Socialitätspartner einzuladen, die einigermaßen kongruent sind, so liegen die Dinge in der (eben nicht gänzlich von der Offline-Welt zu trennenden) Onlinewelt etwas anders. Nehmen wir Facebook als Beispiel. Dort connectet sich der User mit Familienangehörigen, Freunden, vielleicht ehemaligen Schulfreunden, Kollegen, ggf. Vorgesetzen – und mit Geschäftspartnern oder Kunden. Das heißt: Ein großes Socialitätenbündel vereinigt sich. Und führt zu nicht geringem Stress. Denn die Socialität etwa des Geschäftspartners stellt andere Anforderungen als der ehemalige Klassenkamerad, der mit „Ej du alte Sau“ auf die Pinnwand poltert. Die Socialität des Kollegen stellt andere Anforderungen als die des Geschwisters. Und es steht jederzeit die Gefahr im Raume, jenseits des allgemein Zugänglichen Öffentlichen in „Privatnachrichten“ Erklärungen für bestimmte Verhaltens- oder Kommunikationsrituale zu errichten. Facebook ist nun nur eine, und dazu eine sehr gut beherrschbare Plattform (etwa durch Privacy-Einstellungen mit Listenfunktionen usw.). Die Bündelungsmöglichkeiten durch Personensuchen stellt vor eine ganz andere Herausforderung: Der Proteus wird plötzlich mit der Identitätsanforderungen einer mittelalterlichen Dorfgemeinschaft konfrontiert. Das Multiversum der Socialitäten, das unter verschiedenen Pseudonymen oder doch zumindest auf verschiedenen Plattformen ausgetragen wurde – wird nun plötzlich in ein „Image“ zusammengeführt, das natürlich vorne und hinten inkongruent ist, weil kein gemeinsamer „Kern“, keine einfache „Identität“ vorhanden ist, die den Swinger mit dem Onkel, die Schwester mit der Chefin, den ehemaligen Casanova mit dem jetzt treusorgenden Gatten vereinigt. Und es findet – und damit sind wir bei Google Streetview – diese Verknüpfung als zwangsweise Grenzübertretung statt. Denn die Vereinigung der Socialitäten geschieht ohne mein Zutun. Das Versprechen des Netzes, in persönlicher Freiheit sich zu entfalten endet in einer Zwangszusammenlegung aller verstreuten Daten – und derer sind erheblich mehr, als der eine oder andere sich träumen lassen mag.
Socialitäten als Informationsbasis für Dritte
Und es greifen eben nicht nur Socialitätspartner darauf zu – sondern ebenso Dritte, die in keiner Socialität zu mir stehen, für die vielmehr diese Socialität zu einer reinen Profilinformation wird: Der nächste Vermieter, der Anbieter einer Berufsunfähigkeitsversicherung, einer Haftpflicht- oder Rechtsschutzversicherung, das Kreditinstitut. Plötzlich erstellt jeder Surfer eine Socialitätsakte, die umfangreicher ist, als jede Datensammlung jemals hätte sein können. Und sie wird von den Akteninhalten selbst gepflegt.
Wie umgehen mit der informationellen Identifizierung des Sozialitätenbündels
Wie damit umgehen? Das Netz verlassen – in der Hoffnung, es möge nichts „Schlimmeres“ hinzukommen? Eine eigene „Netzsocialität“ erschaffen, die von vornherein eine inszenierte Kunstfigur ist? Gelegentlichen Namenswechsel (wie Google-Chef Eric Schmidt etwa hier vorschlug)? Nichts von alledem ist hilfreich. Deswegen kann die Lösung nur aus einer gesamtgesellschaftlichen Debatte rund um die Socialitäten kommen. Und muss sich fragen: Wie soll das Netz sein und funktionieren? Wer soll was einsehen können?
Streetview und die Socialität
Zurück zu Streetview: Die Hausfassade ist nicht „privat“ – aber sie geht potenziell in meine Socialitäten ein. Die ehemaligen Schulfreunde, die aktuellen Kollegen und Vorgesetzten, die erstmals gedatete Flamme, der zukünftige Arbeitgeber, die Versicherung machen sich aus diesem Bild ein Teil ihres Gesamtbildes, mit dem sie mir in einer Socialität entgegentreten. Schon jetzt nutzen Auskunfteien wie SchuFa oder Creditreform die Wohngegend um Kreditwürdigkeiten zu berechnen. Schon jetzt klassifizieren die Telefonrechner in Callcentern die „Wertigkeit“ eines eingehenden Anrufs per Telefonnummer nach Wohnlage: Die gutbürgerliche Lage bekommt schneller einen Kontakt als das niederwertige Quartier. Zukünftig wird der Anrufer beim Callcenter-Agenten mit komplettem Web-Datensatz schon beim ersten Anruf sichtbar sein (Rückwärtssuche plus yasni/123people) – inklusive Hausfassade. Das macht in dieser Socialität Versicherung-Kunde einen gewaltigen Unterschied. Und der Kunde hat keinerlei Macht über die Informationen, die der anderen Seite der Socialität verfügbar sind.
Biometrie für Jedermann – Socialitätenbündel inklusive
Noch weiter: Inzwischen laufen erste Betatests für Gesichtserkennung auf dem Mobiltelefon. ZDnet meldete (hier) ein Apple-Patent dazu. Das heißt: Ein erkanntes Gesicht kann mit einer Person verbunden werden. Die Person über Personensuchmaschinen vollends identifiziert und umfassend beschrieben werden. Das ist so lange eine hübsche Spielerei, wie es sich um Menschen handelt, mit denen Socialität weder angedacht ist, noch besteht, noch bestanden hat. Erst wenn die Socialität eintritt, wird das Socialitätsbündel, das ich nunmehr für den anderen bin, zu einem reinen Stressfaktor.
Socialitäten und Privatspäre
Nachtrag: Beim Durchlesen fällt mir auf, dass ich nicht klar gemacht habe, warum das nicht einfach als „Privatsphäre“ zu bezeichnen ist. Die einfache Antwort: Weil es keine Privatsphäre gibt. Die Entscheidung, dass etwas privat sei, zieht nach sich, dass ich es aus einer Socialität exkludiere. „Privat“ bedeutet vor allem „Verzeihung, das ist mir zu privat, darüber gebe ich keine Auskunft“. Und derlei Privatheiten gibt es zu viele – was privat ist, bestimmt die Socialität. Privatsphäre gegenüber dem Kollegen ist eine andere als gegenüber der Vorgesetzten, als gegenüber dem Kunden, als gegenüber dem ehemaligen Schulfreund. Mit diesem Schulfreund aber mögen wiederum Dinge geteilt sein, die selbst unter Ehegatten ins „Private“ falle und eben dort dem Anderen nicht zugänglich gemacht werden sollen. Ganz zu schweigen den Kindern, die keinesfalls alles wissen sollen, was die Exfreundinnen/Exfreunde vielleicht wissen. Das Private ist kein kohärente Sphäre, sondern wird durch die Socialität erschaffen. Es ist das, was in der Socialität nicht vorkommt – oder die Qualität der Socialität entscheidend verändert – etwa wenn eine Beziehung zu einer Kollegin/einem Kollegen beginnt (die in der Socialität der Ehegatten wiederum vermutlich nichts zu suchen hat …), sich eine Exfreundin als neue Kundin vorstellt, ein ehemaliger Schulkamerad Chef wird usw. Was „das Private“ ist, lässt sich nicht fassen.
Socialitäten und Öffentlichkeit
Zugleich ist aber die Socialität eben auch nicht die Öffentlichkeit – weil das Private und Nichtprivate eben durch die Socialität bestimmt sind und das was als „öffentlich“ in einer Socialität (unter Kollegen) erscheinen mag, in einer anderen Socialität (gegenüber einer Versicherung) privat zu sein hat.
Rund um Streetview entspinnt sich eine symbolische Pseudodebatte, die eigentlich um Socialitäten in Zeiten des Netzes zu führen wäre.
“Rund um Streetview entspinnt sich eine symbolische Pseudodebatte, die eigentlich um Socialitäten in Zeiten des Netzes zu führen wäre.” — Debatten werden geführt oder nicht. Zu glauben, es gäbe “Pseudodebatte” hieße eine übergeordnete Urteilskompetenz darüber zu beanspruchen, worüber eigentlich und richtigerweise debattiert werden sollte.
Vielleicht könnte man alternativ danach fragen, wodurch die Debatte bewegt wird. Dabei liegt es natürlich nahe, die Unterscheidung von öffentlich/privat heranzuziehen. Es wäre dann aber nicht wichtig, ob die Unterscheidung stimmt oder nicht, denn sie wird ja in jedem Fall benutzt — wer wollte sagen, dass sie “unstimmigerweise” benutzt wird? Dagegen wird man vielleicht eher fündig, wenn man danach fragt, was durch Beibehaltung der Unterscheidung sichtbar wird, das vorher so nicht gesehen werden konnte. Was tritt mit dieser Unterscheidung als Problem auf? Die Antwort könnte lauten: Zum Problem wird das, was durch diese Unterscheidung als Problem ausgeschlossen wurde, nämlich die Schutzbedürftigkeit von Menschen. Die Unterscheidung konnte im Entwicklungsprozess der industrie-kapitalistischen Gesellschaft deshalb attraktiv werden, weil sie die Schutzbedürftigkeit auf der Seite der Privatheit verankerte. Privatheit war Schutz, der gewährleistet werden konnte, weil die Schutzverletzung enorme Hürden zu überwinden hatte, wie etwa die Notwendigkeit des Eindrigens, Verfolgens, Denunzierens; Maßnahmen, die immer daran gebunden waren, dass ein Körper lokal gebundene Zugriffsmöglichkeiten auf Privatdaten entsprechender Dokumente haben musste. Man denke als Beispiel an die Arbeit eines Privatdetektivs. Was noch vor 10 Jahren eine mühevolle Arbeit des Sammelns und Auswertens von lokal verstreuten Daten war, ist heute in nur einem Bruchteil der selben Zeit mit jedem PC irgendwo auf der Welt möglich.
Das Internet macht mit seinen Möglichkeiten die Kontingenz des Unterscheidungsschemas privat/öffentlich sichtbar. Das Internet trägt zur einer “Entschleierung der Verhältnisse” (K. Marx) bei; man kann jetzt etwas sehen, das auch vorher schon ein Problem war, aber durch die Wiederholung des selben Unterscheidungsverfahrens durch Reproduktion invisibilisiert wurde. Man konnte sich immer sicher bleiben, dass Privatheit schützbar sei, weil die Schutzverletzung öffentlich bemerkbar werden konnte. Dieser Zusammenhang kehr sich nun um: die Schutzverletzung (etwa durch Internet-Stalking) kann jetzt selbst durch Privatheit geschützt vorgenommen werden.
[…] und Öffentlichkeit 24. August 2010 von Kusanowsky Bei Postdramatiker findet man einen ausführlichen Artikel, der sich mit der Diskussion um Google Street View beschäftigt, und dabei die Unterscheidung von […]