Die Kommunikation im Netz reißt die traditionelle Unterscheidung zwischen Schrift und Rede, zwischen kommunikativem Austausch und Information, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ein. Die scheinbare Gegenüberstellung von Schrift und Rede, von Privat und Öffentlich weicht der Gradation. Die Spur, von Derrida in die philosophische Tradition eingebracht, ist ein zunächst ganz brauchbarer Begriff – ist doch schon allgemeinsprachlich anerkannt, dass im Netz jede Bewegung Spuren hinterlässt, die sich zu der letztens beschriebenen Kugelwolkenabstraktion fügen. Oder anders gesagt: Die diejenigen Wellenbewegungen des Welle-Teilchens ausmachen, die sich in dr Abstraktion zu einem Teilchen fügen können.
Das ist jenseits theoretischer Klügeleien ein handfester empirischer Fakt (wenn es so etwas gibt). Denn die Datenbanken von Facebook tun genau das. Wo User miteinander kommunizierten und davon überzeugt waren (so sie je einen Gedanken darüber verschwendeten), dass es sich eben um redeartig flüchtigen Austausch handelte, erzeugen sie zugleich statische, speicherbare Informationen. Und zwar nicht Informationen wie diejenigen, an denen die Wikipedia-Autoren gemeinsam arbeiten. Sondern Informationen über sich selbst.
Man kann sich auf die von Wikileaks veröffentlichten Botschaftsdepeschen als Beispiel stützen. Auch hier glaubten die Beteiligten, einfach einen anderen Weg der vertraulichen, informellen, nicht-öffentlichen Kommunikation nutzen zu können – und fielen aus allen Wolken, als diese orale Kommunikation plötzlich zur Information über sie selbst bzw. insgesamt über das Weltbild der amerikanischen Diplomatie wurde. Aus den Spuren des Tanzens ergibt sich der Tänzer, aus den Wellenbewegungen entsteht im Auge des Betrachters ein Teilchen oder eine Kugelwolke. Und dieses Teilchen konkretisiert sich im Auge des speichernden Beobachters.
Dabei handelt es sich um die Konfrontation mit einer Neuigkeit, die in Facebook-kritischen Darstellungen genüsslich betont wird. „Das Netz vergisst nichts“ ist die blödsinnige Parole dieser Kritiker. Und sie malen gerne Bilder davon, dass der zukünftige oder aktuelle Chef vielleicht die Bilder lang vergangener Saufgelage sieht und findet. So absurd es ist zu glauben, dass das langfristig wirklich irgendwelche Auswirkungen haben wir (es hat nur so lange Auswirkungen, wie Chefs nicht User, nicht netzsozialisiert sind), so deutlich leitet es einerseits vom eigentlichen Weg ab, eröffnet aber den Ausblick auf den zweiten Sachverhalt, den ebenfalls Wikileaks in seiner Existenz beschreibt. Die Unterscheidung von „privat“ und „öffentlich“ ist lediglich eine technische Schranke, die jederzeit eingerissen werden kann. Es ist das Betätigungsfeld von Hackern bzw. Crackern genau diese Schranke einzureißen. Durch Passwort-Hacks in Bereiche vorzudringen, die eigentlich als privat geschützt sind. Sich datenförmiges Privateigentum zu räubern.
Aber es ist natürlich auch das Geschäft von „Dritten“, Informationen über andere zu teilen. Inhalt von Kommunikation ist nicht immer und nicht unbedingt ein theoretischer Sachverhalt oder ein gegenständliches Ding. Man redet über andere, fotografiert sie, stellt die Fotos oder Videos ins Netz – ohne dass der Dargestellte dazu seine Zustimmung geben oder auch nur davon wissen müsste. Beliebte Portale wie meinprof.de oder das gerade durch die Presse gegangene Schüler-Mobbingportal http://isharegossip.com/ leben davon, dass Dritte über andere Auskunft geben. Selbst die Streetview-Debatte ist letztlich auf dieses Feld zurückzuführen. Die Entmündigung des Einzelnen hinsichtlich der Entscheidung, was privat und öffentlich ist. Das wiederum ist ebenfalls kein technisches oder Plattform-Thema. Sondern ein geändertes Verhalten, das User auszeichnet. Unter allem, was du im Netz tust, hängt das Damoklesschwert: Es könnte von einem anderen kopiert und veröffentlicht, geshared und weitergeleitet werden. Zugleich verlässt diese Drohung aber das Netz und weitet sich in die „Realität“ aus. Was immer du tust kann jederzeit im Netz dokumentiert auftauchen.
Das heißt: Wo du glaubtest privat und flüchtig zu kommunizieren, produzierst du jetzt Informationen über dich, die jederzeit „öffentlich“ werden können. Du produzierst, wo du per Netz kommunizierst, Datensätze. Irgendwelche schwachsinnigen „Verfallsdaten“, die analog gebliebene Politiker fordern, können als Symptom für das Aufdämmern dieser Einsicht verstanden werden. Dass es keine „Verteidigung“ dagegen ist, versteht sich von selbst. Unter dem Schlachtruf der „Post Privacy“ ziehen daraus einige wie Michael Seeman, Jens Best und Felix Neumann die Konsequenz, dass man den Geist nun eh nicht mehr in die Flasche bekommt. Und feiern deswegen ein Daten-Woodstock des Freien Informationsaustauschs. Alle mit allen über alles. Vermutlich wissen sie nicht, was sie tun. Dazu im nächsten Posting mehr.