In seinem lesenswerten Buch über „Die politische Differenz“ stellt sich Oliver Marchart auf den Standpunkt, die aktuelle Debatte über „das Politische“ (im Unterschied zur konkreten Politik) sei unter dem Epochenbegriff des Postfundamentalismus zu subsummieren. Der Grund: Die verschiedenen Denker seien sich in ihrem Verzicht auf metaphysische Letztbegründung (wenn auch nicht auf verschiedene Begründungen) einig, bzw. in der Anerkennung einer kontingenten (wenn auch nicht abwesenden) Basis, auf der jedes politische System aufruhe, ohne doch dadurch sicheren Baugrund zu haben.
Auf den ersten Blick scheint das sinnvoll – auf den zweiten nicht mehr. Im Gegenteil zeigt sich bei genauerer Betrachtung der sogenannte Postfundalismus als ein Neofundamentalis, eine Bewegung also, die sich insbesondere auf die Fundamente konzentriert. Postfundamentalismus wäre eine Form der alltagsweltlichen Pragmatik, einer vielleicht Habermasianischen Reaktion auf die Abwesenheit der Fundamente, die dennoch versucht, durch vernünftige Diskurse oder was auch immer, eine begründbare, aber nicht auf einheitlichem Grund stehende, Politik zu denken und zu ermöglichen. Tatsächlich ist das Bemühen um „das Politische“ ein Fundamentalismus, der allerdings – und das ist vermutlich die begriffliche Unschärfe, die Marchart unterläuft – kein Dogmatismus ist. Es werden keine einheitlichen Dogmen aufgestellt und im Sinne letzter und einziger Wahrheiten zu Grunde gelegt. Vielmehr ist diese Form des Fundamentalismus an Fundamenten interessiert, die es nicht müde wird, weiter zu dekonstruieren, um sich im Anschluss daran abzuarbeiten, dass kein Fundament da ist – trotzdem ein politisches Gebäude entstehen soll.
Nun lässt sich ganz genüsslich zurückfragen: Warum eigentlich schlagt ihr euch die Fundamente weg, wenn ihr dann vielhundertseitig darüber jammert, dass sie weg sind? Es ist ja nicht etwa so, dass das Verschwinden der Dogmen eine andere oder bessere Politik ermöglichte. Im Gegenteil: Die Theorie haut sich selbst die Beine weg, mit denen sie der Tagespolitik in den Arsch treten sollte. Die Dekonstruktion als Selbstzweck und als perpetuiertes Terminations-Programm läuft dann nur noch darauf hinaus, alles wegzureißen, was an Ansätzen entstand, jedes Gebäude zu destruieren – um sich hinterher darüber zu larmoyieren, dass es regnet, zieht und saukalt ist.
Fundamentalismus ist an der Zeit!
Nachdem Politik sich jahrzehntelang in einem relativ fest gefügten Euro- oder gar Weltkonstrukt befand – nämlich der grundlegenden Agonalität der beiden Blöcke im (kalten) Krieg – ist in der Nachkaltkriegszeit die große Ratlosigkeit, das sich unter „Es gibt keine Alternative“ Versammeln ausgebrochen, in der Leute wie Kamerakind Guido, Reservehauptmann Niebel, Unterstabsarzt Rösler, Gastwirtschaftsminister Trinkbrüderletrink, Karl –Theodor von Pomadenberg, Erzengel Sigmar, und so weiter tatsächlich zeitweise für Politiker gehalten werden. Erst gaben sie sich willig den plötzlich zu „Naturgesetzen“ erklärten Ergebnissen der Profitprediger und Effizienzmullahs westlicher Ökonomie-Madrassas hin, dann torkelten sich Krisenbesoffen einem auf Readers Digests Niveau befindlichen Antikapitalismus hinterher. Und nun stehen sie da – und wissen gar nicht, was denn politisch möglich ist.
Der Rekurs auf „das Politische“ nimmt also sinnvollerweise den Spielraum ins Auge, in dem sich die gegenwärtige Tagespolitik ein kleines Laufställchen gesichert hat, aus dem sie nicht auszubrechen wagt – noch auch überhaupt jenseits der Stäbe („Und hinter 1000 Stäben keine Welt“ – frei nach Rilke) schaut. Die neofundamentalistische Bestimmung der Ab-Gründung des Politischen (was für eine Plattitüde! Politik ist eine kreative Gestaltungstätigkeit, die bekanntlich immer mit einem weißen Blatt beginnt, nicht jedoch im leeren Raum … Und sie durch vollgeschriebene Blätter der Philosophiehistorie dekonstruktiv zu ersetzen, wird am Ende doch nur wieder zum weißen Blatt führen) und zugleich der Eröffnung des Handlungsspielraumes ist dann zu begrüßen, wenn sie sich nicht immer wieder und erneut in der Arbeit an den (historischen) Fundamenten und alten Schriften erschöpfte.
Die „politische Differenz“ und der agrippinische Beobachter
Marchart zieht vom Unterschied zwischen dem Politischen und der Politik die Parallele zur ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem – allerdings mit einer Todespirouette insofern, als „das Politische“ nicht im metaphysischen Raum des Seins operieren kann. Das Politische wäre also ein leerer Raum unterhalb der Politik, der niemals zu füllen ist. Dabei lässt sich wunderbar auf Leforts Diktum von der unauffüllbaren Leerstelle der Macht in der Demokratie rekurrieren.
Mir scheint es sinnvoller, den Unterschied zwischen Politik und Politischem als den agrippinischen Auszug aus der gegebenen Stadt zu verstehen. Ich erlaube mir, das eminent wichtige Zitat nach Koschorke et. Al. „Der fiktive Staat“ nochmals zu wiederholen, wiewohl schon hier gepostet:
Es ist eine der Urszenen Europas: Im Jahr 494 v. Chr. Bricht in Rom ein Aufruhr aus. Das Volk verlässt die Stadt und zieht drei Meilen hinaus auf den heiligen Berg. „In der Stadt herrschte gewaltiger Schrecken; alles schwebte in gegenseitiger Furcht.“ (Livius AuC, II.32.5) Die Patrizier sorgen sich vor offenem Bürgerkrieg, zumal Feinde die innere Schwäche für einen Angriff ausnutzen könnten. „Die Einzige Hoffnung“, so stellt sich in Livius’ monumentalem Geschichtswerk Ab Urbe Condita über einen Abstand von fast fünf Jahrhunderten die Lage dar. „schin ihnen in der Eintracht zwischen den Bürgern zu bestehen; sie müsse man dem Staat (civitati) wiedergewinnen, koste es, was es wolle.“ (II.32.7) Dann folgt die entscheidende Episode:
Man beschloß also, Menenius Agrippa als Unterhändler zum Volk zu schicken. Er war ein redegewandter Mann und, weil er selbst aus dem Volk stammte, bei diesem beliebt. Er wurde ins Lager eingelassen und soll in der altertümlich-schlichten Art von damals einfach folgendes erzählt haben: Einst, als im Menschen noch nicht wie heute alles einheitlich verbunden war, als jedes der einzelnen Glieder des Körpers seinen Willen, seine eigene Sprache hatte, empörten sich die übrigen Glieder, dass sie ihre Sorge und Mühe und ihre Dienste nur aufwendeten, um alles für den Magen herbeizuschaffen. Der Magen aber liege ruhig mittendrin und tue nichts anderes, als sich an den dargebotenen Genüssen zu sättigen. Sie verabredeten sich also folgendermaßen: Die Hände sollten keine Speise mehr zum Munde führen, der Mund nichts Angebotenes mehr annehmen, die Zähne nichts mehr zerkleinern. Während sie nun in ihrr Erbitterung den Magen durch Aushungern bezwingen wollten, kamen die einzelnen Glieder alle zugleich mit dem ganzen Körper an den Rand völliger Erschöpfung. Da sahen sie ein, dass sich auch die Aufgabe des Magens durchaus nicht in faulem Nichtstun erschöpfte, dass er ebensosehr andere ernähre, wie er selbst ernährt werde. Er bringe ja das Blut, das durch die Verarbeitung der Speisen gebildet wird und durch das wir leben und bei Kräften bleiben, gleichmäßig auf die Adern verteilt in alle Glieder des Körpers. Indem er durch den Vergleich zeigte, wie diese Aufruhr im Körper Ähnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Väter, soll er die Gemüter umgestimmt haben.
Der Auszug aus der Stadt ist der Rückzug aus der Tagespolitik in das Politische – das zunächst tatsächlich ein leerer Raum (darin lässt aich an Hannah Ahrendt anschließen) ist, wiewohl es sich um den vollen Stadtraum handelt. Wer will möge die Parallele zur Bühne ziehen, die zwar voller Schauspieler ist, auf der aber kein Theater stattfindet. Jedenfalls nicht im Auge des Betrachters, der hier nur ein wildes Durcheinander und seltsames Reden sieht. Keine Immanenz und Transzendenz – neide gibt es im Theater nicht. Alle Anwesenden sind zugleich immanent und transzendent, egal ob sie sich auf der Bühne oder im Zuschauerraum befinden. Die Bewegung ist eher als Ekzendenz und Inzendenz zu beschreiben, ein Wogen zischen zwei Positionen, deren keine höher oder niedriger angesiedelt ist, die ontisch-ontologisch nicht differenziert sind. Die lediglich voraussetzen, dass alle im Theaterbewußtsein sind.
Die Einwohner der Stadt sind aus der Polis und der Politik herausgetreten auf einen Hügel. Agrippa lässt sie auf die Stadt schauen, eröffnet des Raum es Politischen – um ihn unmittelbar mit dem Bild des Körpers zu füllen, das einen sinnhaften Zusammenhang stiften soll und zugleicht ein gerüttelt Maß normativer Vorgaben über das weitere Zusammenleben mit sich führt. Andre treten auf diesen Hügel und erzählen des Ausgewanderten die Geschichte vom kybernetischen System, der Geschichte der Klassenkämpfe oder des machtfreien Diskurses. All diese Bilder finden im Raum des Politischen statt, sie alle setzen den Schritt aus der Politik (und wieder zurück in die Politik) voraus. Das Politische ist Agrippinas Hügel – oder das Theatron. Und die Stadtbewohner sind zugleich Theoroi (im Politischen), wie auch Darsteller (in der Politik). Die Differenz ist nicht die Differenz zwischen Politik und Politischem. Die Differenz zeigt sich als Zwiespalt und Riss, als Schritt aus-der-Stadt-in-die-Stadt, als Spaltung in Theoros und theama, Beobachter und Beobachteten. Mit allen Implikationen.
Neofundamentalismus als postscriptuelle Theater/Wissenschaft
Aus der Dekonstruktion der Fundamente ist schriftlich nicht herauszukommen. Der Entzuge der metaphysischen Basis – insbesondere unter der Sigle der Referenz – ist zugleich der Entzug der Bedeutungsdimension der Schrift. Wie aus dem cartesischen Zweifel nur durch ein solipsistisches „ich denke“ herauszukommen ist (was heißt: nicht herauszukommen), ist aus dem dekonstruktiven Zweifel nur durch „ich schreibe“ herauszukommen. Wie aber das carstesische Subjekt sich nicht mehr auf eine Realität beziehen kann, sondern nur noch res cogitans und res extensa ist, so ist das dekonstruktiv-dekonstruierte Subjekt lediglich res significans und res scripta. Aber es kann immer nur auf andere (jetzt kommt der Witz) Signifikanten referenzieren. Der Referent ist immer nur noch ein Signifikant, der einzig referenziert werden kann, indem er zitiert, wiederholt, dekontextualisiert wird. Das Unterschleifen des Referenten in die Signifikanz ist der Selbstmord der schreibenden Philosophie gewesen. Ein Akt der (nicht rückgängig zu machenden) Selbstblendung und Selbst-Entwerkzeugung (Marcharts Begriff des „Philosophismus“ weist angesichts Nancys in dieselbe Richtung).
Post scriptura: Theatrum. Die schiere Existenz von Theater schlägt der Dekonstruktion ins Gesicht. Denn hier zeigt sich, dass Text nicht nur auf Realität referenzieren kann (ein reichlich naives Verständnis von Referenz vorausgesetzt) – sondern Realität schafft. Die problematische Referenz der Schrift auf ein Außerhalb kehrt hintenrum zurück als Pro-Ferenz. Deswegen mag sich Philosophie der Schrift entschlagen und sich entleiben – bleibt noch immer das Theater, um nicht nur die Ab-Gründigkeit des Politischen mit künstlerischer Kraft immer wieder neu und anders zu umdrechseln. Sondern um tatsächlich am und im Politischen zu arbeiten – ohne direkt in Politik zu verfallen. Konsequent wäre also, wenn die Theoretiker des Politischen nicht nur auf die ubiquitäre Metaphorik von „Bühne“, „mise-en-scène“ usw. reflektierten, sondern die Geschlossenheit des Signifikantenuniversums zugunsten des Theaters aufgäben. Hier – und vermutlich nur hier – lässt sich am Politischen neofundamentalistisch arbeiten.
Was andres
Ein Dekonstruktivist sitzt auf der Bühne und wirft eine Münze in die Luft. Die Münze fällt, der Dekonstruktivist: „Unvorhersehbar!“ Er wirft erneut. Die Münze landet. Der Dekonstruktivist: „Unvorhersehbar. Unentscheidbar! Warum? “ Und so verbringt er den ganzen Abend mit Münzewerfen und „Unvorhersehbar, unentscheidbar, grundlos“ Rufen.
Am nächsten Tag schreibt der Theaterkritiker: „Alles sehr vorhersehbar. Ich habe mein Geld nicht zurückbekommen.“