Autorenpreis in Heidelberg für “Der Marienthaler Dachs” — die Jurybegründung

Mai 5th, 2014 Kommentare deaktiviert für Autorenpreis in Heidelberg für “Der Marienthaler Dachs” — die Jurybegründung

Lei­der konn­te ich ges­tern Abend nicht in Hei­del­berg bei der Preis­ver­lei­hung des Hei­del­ber­ger Stü­cke­markts sein — in der Hein­rich-Boell-Stif­tung in Ber­lin fand zeit­gleich die Kon­fe­renz “Thea­ter und Netz 2014″ statt, die ich in den letz­ten Mona­ten mit zu kon­zi­pie­ren und am ver­gan­ge­nen Wochen­en­de zu orga­ni­sie­ren das gro­ße Ver­gnü­gen hat­te. Ich hät­te wahn­sin­nig ger­ne gehört, wie die Lesen­den unter der Lei­tung von Karo­li­ne Fels­mann mit dem Text umge­gan­gen, vor allem aber auch, wie das Publi­kum auf die­ses Frei­land­ex­pe­ri­ment reagiert hat. Und nicht zuletzt hät­te ich ger­ne auch gehört, wie die Jury die Preis­ver­ga­be begrün­det. Glück­li­cher­wei­se fin­det sich die­ser Text von Vas­co Boe­nisch im Netz. Und ich gebe ihn hier ger­ne wieder:

Autoren­Preis des Hei­del­ber­ger Stü­cke­markts 2014 für „Der Mari­en­tha­ler Dachs“ von Ulf Schmidt

Lau­da­tio von Vas­co Boenisch

Es war irgend­wie ein ani­ma­li­scher Stü­cke­markt 2014. Nicht nur wegen der tra­ben­den Ren­tie­re auf dem Pla­kat … Mal wur­de in den ein­ge­la­de­nen Stü­cken ein Chin­chil­la gestoh­len (wie in Nol­te Decars „Das Tier­reich“), mal ein Reh­kitz erschos­sen (wie in Dani­el Foers­ters „Tan­zen! Tan­zen!“), mal ein Frosch auf­ge­bla­sen (wie in Julia­ne Sta­del­manns „Noch ein Lied vom Tod“). Aber dass ein gan­zes Dorf einem Tier hul­digt, das gibt es nur bei Ulf Schmidt.

„Der Mari­en­tha­ler Dachs“ ist – der Dachs von Mari­en­thal. Einem klei­nen Ort in einem Nie­mands­land, in dem nichts mehr pas­siert, weil kei­ner mehr Geld, nie­mand mehr Arbeit und auch kaum noch einer was zu essen hat. Ein toter Ort. Ein Gegenwartsort.

Alles, wor­auf die Men­schen hier ihre Hoff­nung set­zen, ist der Dachs (auch wenn ihn noch kei­ner gese­hen hat). Er ist ihr Ora­kel, dem sie treu­her­zig ihr gan­zes Hab und Gut opfern für einen Fin­ger­zeig raus aus der Kri­se: „Kniet nie­der und ver­neigt euch zum mäch­ti­gen Dachs …“

Das klingt zunächst ein biss­chen nach Mär­chen. Nach Schau­er­mär­chen, viel­leicht. Aber vor allem ist Ulf Schmidts kolos­sa­les Dra­ma „Der Mari­en­tha­ler Dachs“ eine gal­li­ge Sati­re auf unse­re wan­ken­de Welt­ord­nung. Denn die­ser Dachs hat natür­lich ein gänz­lich unbe­haar­tes Vor­bild. Und das wohnt in Frank­furt. Und schreibt sich mit „x“.

Mit sel­ten gese­he­ner Kon­se­quenz ent­wirft Ulf Schmidt ein Dorf aus Alle­go­rien. Das Gast­haus ist „die Wirt­schaft“, in der das „Milch­mäd­chen“ die Rech­nun­gen kas­siert. Der Dorf­platz ist der „freie Markt“, und um ihn her­um leben ein „Vater Staat“ und ein „Mut­ter Kon­zern“, und ein „Die­ter Oben“ reprä­sen­tiert als Bür­ger­meis­ter eben: die da oben. „Andi Arbeit“ trägt sei­ne Bestim­mung genau­so laut­ma­le­risch im Namen wie der anony­me „klei­ne Mann“, an den sich immer alle zu Legi­ti­ma­ti­ons­zwe­cken ran­wan­zen wol­len. Um nur eini­ge Ver­tre­ter der Mari­en­tha­ler Welt­wirt­schafts­ord­nung zu nen­nen. – Mit die­sem schein­bar kind­li­chen Kniff gelingt Ulf Schmidt ein ganz beson­de­res, bit­ter­bö­ses Spie­gel­bild unse­rer Gesell­schaft. Und er beweist nicht zuletzt guten Humor.

Sti­lis­tisch ist „Der Mari­en­tha­ler Dachs“ ein Opus Magnum im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Denn Ulf Schmidt ent­wirft bis zu einem Dut­zend par­al­lel ver­lau­fen­der Dia­log-Strän­ge. Die Hand­lung fin­det simul­tan an unter­schied­li­chen Orten des Dor­fes statt, das vom auf­füh­ren­den Thea­ter – ver­mut­lich am bes­ten in einer gro­ßen Hal­le – ent­spre­chend auf­ge­baut wer­den muss. Die Zuschau­er wan­deln zwi­schen den Orten hin und her, wer­den im bes­ten Fall selbst Teil der Dorf­ge­mein­schaft. Und erle­ben haut­nah den Man­gel an Lebens­mit­teln, die gegen­sei­ti­gen Schuld­zu­wei­sun­gen, die Bedro­hung durch die berstende

Schei­ße-Tal-Sper­re, die das Dorf zu ver­schlu­cken droht, und schließ­lich die Ent­zau­be­rung des Dach­ses – und wie ver­mut­lich doch wie­der eine neue Welt­ord­nung auf den glei­chen Lügen und Bequem­lich­kei­ten errich­tet wird.

Was Ulf Schmidt hier mit gro­ßem Kön­nen und Sprach­be­wusst­sein ent­wirft, ist ein gewal­ti­ges Raum­schau­spiel, aber auch ein viel­schich­ti­ges lite­ra­ri­sches Werk. Vom anti­ken Chor­ge­sang bis zur Mau­er­schau, von Jelinek’schen Kalau­e­ria­den bis zu volks­wirt­schaft­li­cher Dis­kurs-Rhe­to­rik (wie sie uns täg­lich im Wirt­schafts­teil oder Feuil­le­ton begeg­net), steckt die­ser „Mari­en­tha­ler Dachs“ vol­ler dra­ma­ti­scher Fund­stü­cke. Dabei behan­delt das Stück – auch wenn es sei­nen Aus­gang nimmt in einer sozio­lo­gi­schen Stu­die aus dem Jahr 1933 – genau jene Fra­gen zum Wan­del unse­rer Arbeits­welt und zur Rol­le des Men­schen zwi­schen Schöp­fung und Wert­schöp­fung, die wir uns heu­te stel­len. Wer hat die Macht: die Wirt­schaft? die Poli­tik? Wer ist das Volk? Und wo in dem Gan­zen befin­de ich mich?

Ulf Schmidt tut dies mit Süf­fi­sanz und Sar­kas­mus, aber auch mit genau­er Beob­ach­tungs­ga­be. Und mit Fan­ta­sie und sehr viel Spielfreude.

Sein Stück ist ein Ver­gnü­gen für Sti­lis­ten, Mit­den­ker und gleich­zei­tig eine Her­aus­for­de­rung für alle Thea­ter. Wir hof­fen, dass sich eine Büh­ne fin­det, um die­ses Mam­mut­werk Wirk­lich­keit wer­den zu las­sen. Auf dass jede und jeder von uns Teil wer­de die­ses fan­tas­ti­schen Ortes namens Marienthal.

 

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