Leider konnte ich gestern Abend nicht in Heidelberg bei der Preisverleihung des Heidelberger Stückemarkts sein — in der Heinrich-Boell-Stiftung in Berlin fand zeitgleich die Konferenz “Theater und Netz 2014″ statt, die ich in den letzten Monaten mit zu konzipieren und am vergangenen Wochenende zu organisieren das große Vergnügen hatte. Ich hätte wahnsinnig gerne gehört, wie die Lesenden unter der Leitung von Karoline Felsmann mit dem Text umgegangen, vor allem aber auch, wie das Publikum auf dieses Freilandexperiment reagiert hat. Und nicht zuletzt hätte ich gerne auch gehört, wie die Jury die Preisvergabe begründet. Glücklicherweise findet sich dieser Text von Vasco Boenisch im Netz. Und ich gebe ihn hier gerne wieder:
AutorenPreis des Heidelberger Stückemarkts 2014 für „Der Marienthaler Dachs“ von Ulf Schmidt
Laudatio von Vasco Boenisch
Es war irgendwie ein animalischer Stückemarkt 2014. Nicht nur wegen der trabenden Rentiere auf dem Plakat … Mal wurde in den eingeladenen Stücken ein Chinchilla gestohlen (wie in Nolte Decars „Das Tierreich“), mal ein Rehkitz erschossen (wie in Daniel Foersters „Tanzen! Tanzen!“), mal ein Frosch aufgeblasen (wie in Juliane Stadelmanns „Noch ein Lied vom Tod“). Aber dass ein ganzes Dorf einem Tier huldigt, das gibt es nur bei Ulf Schmidt.
„Der Marienthaler Dachs“ ist – der Dachs von Marienthal. Einem kleinen Ort in einem Niemandsland, in dem nichts mehr passiert, weil keiner mehr Geld, niemand mehr Arbeit und auch kaum noch einer was zu essen hat. Ein toter Ort. Ein Gegenwartsort.
Alles, worauf die Menschen hier ihre Hoffnung setzen, ist der Dachs (auch wenn ihn noch keiner gesehen hat). Er ist ihr Orakel, dem sie treuherzig ihr ganzes Hab und Gut opfern für einen Fingerzeig raus aus der Krise: „Kniet nieder und verneigt euch zum mächtigen Dachs …“
Das klingt zunächst ein bisschen nach Märchen. Nach Schauermärchen, vielleicht. Aber vor allem ist Ulf Schmidts kolossales Drama „Der Marienthaler Dachs“ eine gallige Satire auf unsere wankende Weltordnung. Denn dieser Dachs hat natürlich ein gänzlich unbehaartes Vorbild. Und das wohnt in Frankfurt. Und schreibt sich mit „x“.
Mit selten gesehener Konsequenz entwirft Ulf Schmidt ein Dorf aus Allegorien. Das Gasthaus ist „die Wirtschaft“, in der das „Milchmädchen“ die Rechnungen kassiert. Der Dorfplatz ist der „freie Markt“, und um ihn herum leben ein „Vater Staat“ und ein „Mutter Konzern“, und ein „Dieter Oben“ repräsentiert als Bürgermeister eben: die da oben. „Andi Arbeit“ trägt seine Bestimmung genauso lautmalerisch im Namen wie der anonyme „kleine Mann“, an den sich immer alle zu Legitimationszwecken ranwanzen wollen. Um nur einige Vertreter der Marienthaler Weltwirtschaftsordnung zu nennen. – Mit diesem scheinbar kindlichen Kniff gelingt Ulf Schmidt ein ganz besonderes, bitterböses Spiegelbild unserer Gesellschaft. Und er beweist nicht zuletzt guten Humor.
Stilistisch ist „Der Marienthaler Dachs“ ein Opus Magnum im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Ulf Schmidt entwirft bis zu einem Dutzend parallel verlaufender Dialog-Stränge. Die Handlung findet simultan an unterschiedlichen Orten des Dorfes statt, das vom aufführenden Theater – vermutlich am besten in einer großen Halle – entsprechend aufgebaut werden muss. Die Zuschauer wandeln zwischen den Orten hin und her, werden im besten Fall selbst Teil der Dorfgemeinschaft. Und erleben hautnah den Mangel an Lebensmitteln, die gegenseitigen Schuldzuweisungen, die Bedrohung durch die berstende
Scheiße-Tal-Sperre, die das Dorf zu verschlucken droht, und schließlich die Entzauberung des Dachses – und wie vermutlich doch wieder eine neue Weltordnung auf den gleichen Lügen und Bequemlichkeiten errichtet wird.
Was Ulf Schmidt hier mit großem Können und Sprachbewusstsein entwirft, ist ein gewaltiges Raumschauspiel, aber auch ein vielschichtiges literarisches Werk. Vom antiken Chorgesang bis zur Mauerschau, von Jelinek’schen Kalaueriaden bis zu volkswirtschaftlicher Diskurs-Rhetorik (wie sie uns täglich im Wirtschaftsteil oder Feuilleton begegnet), steckt dieser „Marienthaler Dachs“ voller dramatischer Fundstücke. Dabei behandelt das Stück – auch wenn es seinen Ausgang nimmt in einer soziologischen Studie aus dem Jahr 1933 – genau jene Fragen zum Wandel unserer Arbeitswelt und zur Rolle des Menschen zwischen Schöpfung und Wertschöpfung, die wir uns heute stellen. Wer hat die Macht: die Wirtschaft? die Politik? Wer ist das Volk? Und wo in dem Ganzen befinde ich mich?
Ulf Schmidt tut dies mit Süffisanz und Sarkasmus, aber auch mit genauer Beobachtungsgabe. Und mit Fantasie und sehr viel Spielfreude.
Sein Stück ist ein Vergnügen für Stilisten, Mitdenker und gleichzeitig eine Herausforderung für alle Theater. Wir hoffen, dass sich eine Bühne findet, um dieses Mammutwerk Wirklichkeit werden zu lassen. Auf dass jede und jeder von uns Teil werde dieses fantastischen Ortes namens Marienthal.