Eigentlich wollte ich schon seit Tagen Überlegungen zu der Frage posten, ob das Wuppertaler und anderortige Theatersterben auf Mord oder Selbstmord zurückzuführen ist. Eine Debatte, die auf Nachtkritik gewohnt kontrovers und leidenschaftlich geführt wird, meines Erachtens nur die eigentliche “Leidenden” dieser Schließungen nicht hinreichend in Betracht zieht. Denn wem gehört und zu welchem Zweck gibt es Theater in Wuppertal — wenn nicht zugunsten der Bürger Wuppertals. Und eigentlich wäre zu fragen, warum zwar über 50 Theater anreisen, um Solidarität mit ihren von Arbeitsplatz- und Kunstausübungsverlust bedrohten Kollegen zu demonstrieren — aber die Wuppertaler nicht lauter werden, weil man ihnen ihr Theater wegnehmen will. Es wäre an den Wuppertalern. Vielleicht aber ist den Wuppertalern der Erhalt von Schwimmbädern wichtiger als ihr Theater? Ich hab keine Ahnung, war nie in Wuppertal. Deswegen biege ich hier ab, um zum eigentlichen Thema des Postings zu kommen. Und weil ich leider noch nicht wieder fit genug bin, um solch eine Debatte wirklich zu führen.
Überleben werden meines Erachtens nur Theater, die es schaffen, in ihrer Stadt eine solche stadtgesellschaftliche Relevanz zu entfalten, dass Politik (die sich bekanntlich gerne an den Schwächsten vergreift), sich nicht traut, sie anzugreifen. Ich glaube nicht, dass das über Neuinterpretationen von Texten des klassischen Kanons machbar ist. Nicht mal mit einem noch so innovativ dargestellten Horvath. Die Zeiten sind anders als je zuvor. Und dem nachzugehen würde Theater relevant machen. Und damit zum Thema des Postings: Ich finde es enorm spannend, dass die Volksbühne zusammen mit Attac ein Bankentribunal (Flyer, Anklageschrift via nachdenkseiten) in der Tradition Russels veranstalten will. Ist das noch Theater — postdramatisch hin oder her? Springt das nicht noch sogar über Rimini hinaus? Ist das überhaupt Kunst? Egal! Denn was hier angestoßen wird, ist ein offenes Nachdenken. Ein Zugehen auf das Gegenwärtige, wie es Theatern bestens ansteht. Wenn es keine Stücke gibt, die es leisten, die Fragen in der gehörigen Fundamentalität zu stellen (ich erlaube mir, Zweifel daran anzumelden …) — dann eben so.
Leider werd ich krankheitsbedingt nicht dorthin fahren können. Und habe deswegen nur jetzt schon anzumäkeln, warum ich glaube, dass dieses Tribunal in einer anderen Welt stattfindet, als diejenige, in der die dort angeklagten Hauptakteure der Krise leben. Ich versuchs mit einem Bild:
Den handelnden Bankverantwortlichen Gier vorzuwerfen ist etwa so sinnvoll, wie Schumacher und Co Raserfei und Bleifuß vorzuwerfen. Ackermann und Schumacher sind in ihrer jeweils eigenen Formel 1 eingesetzt, um das Maximum zu erzielen. Weitgehend rücksichtsloses Schnellfahren oder weitgehend rücksichtslose Profite sind die Ziele dieses Sportes. Und es werden in die Cockpits jeweils diejenigen Akteure gesetzt, die diesen Sport am Besten beherrschen. Sie haben sich nicht selber dorthin geputscht. Sie sind lediglich an eine Position gestellt worden, in der ihr jeweiliger Charakterfehler effizient zur Erfüllung einer Aufgabe genutzt werden kann: nach dem Nikita-Prinzip, das aus verurteilten Mördern Killer im Staatsauftrag macht).
Der Unterschied zwischen beiden: Formel 1 Autorennen finden auf umgrenzten Arealen mit eigenen Regeln, eigener Infrastruktur und ganz klarer Trennung zwischen “Innen” und “Außen” statt. Heißt: Die Regularien der Autorennen würde niemand zu den Regeln einer allgemeinen Straßenverkehrsordnung machen. Der Raser darf auf den eingezäunten Strecken rasen — außerhalb hat er sich an andere Regeln zu halten.
Anders im Bankensektor: Hier wurde das was in diesem Blog bereits gelegentlich als “wirtschaftliches Denken” (v.a. hier, hier und hier) beschrieben wurde, auf die Gesamtgesellschaft projiziert. Jedenfalls versuchte man das. Nicht nur hat man — mit einigem Erfolg — Ende der 90er Jahre die Gier nach Aktiengewinnen in Bevölkerungskreisen verankert, die nicht einmal einen Finanzmofa-Führerschein haben. Sondern das Effizienz- und Margenmaximierungsdenken wurde über Rankings und Bildungs“investitionismus” schleichend in die Köpfe gebracht. “Wettbewerbsfähigkeit” wurde zum höchsten Staatsziel erklärt — als wäre Deutschland eine Wurstfabrik. Raserei wurde zum allgemeinen Volkssport erklärt.
Bleibt noch zu sagen, warum das eine Mäkelei an der Anklageschrift ist. Die Akteure der Formel 1 haben nur ein einziges Ziel: als erster die schwarzweiße Flagge sehen. Die Akteure in den Banken haben als einziges Ziel, der Aktionärsversammlung möglichst gute Zahlen vorzustellen. Das ist die wirtschaftliche Logik des effizienten Mitteleinsatzes. Mittel — keine Zwecke. So bescheuert es wäre, Schumacher zu fragen, warum er an diese Stelle mit dem Auto fahren wollte (die Ziellinie), so sinnlos muss einem Banker die Frage nach dem Sinn oder Zweck der Maximierung des Gewinns (also der Erzeugung weiterer “Mittel”) erscheinen.
Meines Erachtens gehören nicht die vorstandsvorsitzenden Produkte wirtschaftswissenschaftlicher Universitäten vor das Tribunal — sondern die Lehrenden Imame dieser Profitmadrassas. Die Verengung des wirtschaftlichen Denkens alleine und nur auf die Mittel ohne eine Einbettung in eine allgemeine Diskussion und möglichs Definition der Zwecke wirtschaftlichen Handelns ist für mich der wichtigste Anklagepunkt. Es sei denn, die Banken schaffen sich ihre eigene “Formel 1”, in der der geneigte und interessierte Bürger zusehen kann, wie Institute vor die Wand rasen — ohne dabei selbst in Gefahr zu kommen. Ginge das? Eine Formel 1 für Banken und zugleich einen Bankenverkehrsordnung, in der Raser sich genauso an allgemeine Regeln halten müssen wie alle anderen auch. Und in der die Frage “wohin willste denn” wichtiger ist als die Frage “Wie kriegen wir aus dem Blechhaufen noch ein paar PS mehr raus”.
Ich glaube nicht, dass die Handelnden vor Gericht gehören (meinetwegen sollen sie — die Falschen triffts nicht; schließlich sind die mit ihren Finanzboldien durch Dorfgassen gerast), sondern vielmehr, dass die gegenwärtigen Denkkategoreien vor den Gerichtshof der Vernunft (Kant, KrV B 779) gehören. Eine Kritik der ökonomischen Vernunft tut not. Und ich denke, dass das eine theatrale Operation sein kann und müsste — denn diese Denkkategorien sitzen längst in allen Köpfen im Publikum. Meinetwegen als Tribunal. Oder in postdramatischen oder neodramtischen oder was weiß ich was für Inszenierungen. Radikal, fundamental. Ohne Horvath.
Und nun zurück ins Bett.
P.S. Ich seh grad (Update 2015: Inzwischen nur im Webarchiv), dass die Veranstaltung live ins Web übertragen wird — vielleicht schaff ich wenigstens das. Bin gespannt.