Um den sich wandelnden Umgang der (ehemaligen) Rezipienten mit Kunstwerken, die Verschiebung vom Kunst-Konsumenten hin zum Prosuementen lebensweltlich zu exemplifizieren, hatte ich meinem kurzen Kommentarwechsel mit Dirk Baecker noch Folgendes hinzugefügt:
Vielleicht als anekdotische Ergänzung dazu eine Beobachtung bei der letzten Documenta: Waren zuvor Besucher aufgefordert, sich kontemplativ oder mit anderen Besuchern diskursiv zu den Werken zu verhalten, so ließ sich bei der letzten Documenta (sic!) beobachten, dass die Besucher keinesfalls mehr passiv vor den Werken verharrten, sondern mithilfe von Handy und Digitalkameras Bilder von Bildern und Objekten machten, die sie in der Folge vielleicht nicht zu individualisierten Documentas im Netz machten, aber doch zu ihren je eigenen Ausstellungen und Kunstsammlungen. Als handele es sich um musikalische und filmische „Raubkopien“ werden die Besucher zu „Urhebern“ von Kunst-Mesh-Ups, die sich hinterher auf flickr, bei der nächsten Documenta vermutlich auf Facebook, G+ und wo auch immer finden, geshared, kommentiert und geliked werden. Das Publikum tritt damit (zum großen Unbehagen eines Anhängers der alten Kulturtechnik der Betrachtung von Kunstwerken) damit in einen Zwischenraum ein zwischen Kunstwerkproduzenten und Kunstwerkrezipienten. Sind diese Fotos Kunst? Dokumentieren sie Kunst? Dokumentieren sie die Anwesenheit des Rezipienten auf der Documenta? Wird das Netz zu einer Documenta 2.0? Mir gelingt darauf noch keine sichere Antwort.
Kulturindustrie unter (Nach-)druck
Dieses Fotografen-Szenario nun ging mir nicht mehr aus dem Kopf, weil sich hier m.E. Spannendes beobachten lässt. Musik‑, Film und Druckindustrie sind bereits seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts an den Umgang mit Kopien gewohnt. Seit Tonband, Musicassette, iPod, seit VHS und Fotokopierer ist das Problem der technischen Kopierbarkeit des Kunstwerks virulent. Wirtschaftliche Einbußen und der Versuch sie zumindest teilweise durch GEMA, VG Wort usw. zu kompensieren inklusive.
Ton ohne knappe und verkaufbare Tonträger
Mit der konsequenten Digitalisierung und Vernetzung sind diese „Kreativindustrien“ einerseits in weitere Schwierigkeiten geraten, weil die sich abzeichnende Ablösung der Inhalte von ihrer Bindung an physische Trägermedien (Buch, DVD, Tonträger) und die damit einhergehende undendliche Vervielfältigung, die gar keine Vervielfältigung ist, weil jeder mit jedem die „Originaldatei“ tauscht und sie dabei zugleich behält. Wer einem anderen ein Buch lieh, hatte das Buch nicht mehr. Wer einem anderen eine Filmdatei gibt, behält sie selbst. Das hebelt das Gesetz der ökonomischen Knappheit aus.
Die Vergötterung des Originals
Zum Leitsymbol ökonomischer Knappheit allerdings wurde durch den Kunstmarkt des 20. Jahrhunderts das Werk der bildenden Kunst. Simples Kopieren oder Vervielfältigen war ausgeschlossen. Die wenigen Einzelfälle von „Fälschungen“ sind Legende. Nun tut sich aber in diesem Sektor Entscheidendes, das vermutlich weit über die bloßen Vervielfältigungsphänomene der anderen Künste hinausgeht.
Das Foto: Kopie? Vervielfältigung? Kreation?
Das Photo eines Bildes, einer Skulptur, das Video einer Performance „ist“ nicht das Original – im Gegensatz zu einer Musik- oder Filmdatei oder zum e‑Book. Es ist auch nicht einfach eine Kopie, wie die Fotokopie eines Buches. Und zwar aus drei Gründen.
1. Das Photo als Kunst
Man müsste den Akt des Fotografierens schlechthin als Kopieren der Welt (miss)verstehen, um auf die Idee zu kommen, ein Foto kopiere ein Kunstwerk. Bei Plastik und Performance käme man aufgrund des Verlusts der Raum- und Körperdimension schon nicht auf die Idee beide miteinander zu verwechseln. Das abfotografierte Bild könnte man vielleicht aufgrund der zweidimensional abgebildeten Zweidimensionalität für einen Moment damit verwechseln. Und wird doch sofort auf die „Randbedingungen“ geworfen, Beleuchtung, Standort, andere Besucher, Einstellungen der Kamera, die es ausschließen, eine tatsächliche Kopie zu machen, die auch nur von weitem mit dem Original zu verwechseln wäre. Fotografie könnte nicht Kunst sein, wenn die Rahmenbedingungen des Fotografierens nicht so beeinflussbar wären bzw. das Ergebnis nicht in der Art beeinflussen würden. Zugleich kann dadurch Fotografieren auch nicht mehr keine Kunst sein, denn jeder Fotograf, auch der tappigste Knipser, muss sich mit diesen „Randbedingungen“ auseinandersetzen, sich zu ihnen verhalten, Auswahlen aus der Möglichkeiten treffen. Und ist damit einem künstlerischen Prozess.
2. Das Foto als Kommunikationsmittel
Die gegenwärtig zu beobachtende quantitative Explosion der Fotografie hängt damit zusammen, dass Fotos zu einem Kommunikationsmittel der Masse wird. Und zwar zu einem 1:1‑Kommunikationsmittel. Fotos werden in Kommunikationszusammenhängen eingesetzt – als MMS, als Facebook Upload, als Twitpic, Instagr.am, G+ Instant Upload usw., das geshared, geplust, geliked, retweetet, geforwarded werden kann. Schon darin zeigt sich der tiefgreifende kulturelle Bruch der Netzgesellschaft: Wann in der Menschheitsgeschichte hätte Jedermann in dieser Echtzeitgeschwindigkeit mit örtlich nahen oder entfernten „Freunden“ kommunizieren können, indem er ein Bild verwendete? Wann konnten Menschen in dieser Form, d.h. so einfach wie oder einfacher sogar als mit gesprochenen oder geschriebenen Worten kommunizieren können? Jeden Tag werden auf Facebook 100 Millionen Bilder hochgeladen – in den kommunikativen Newsstream, der Freunde mit Freunden verbindet. Und der zugleich das Bild als kommunikativen Akt der Person XY markiert.
3. Das Foto zwischen Objekt und Subjekt
Die Kopien im Bereich der Musik, des Films, der Bücher hatten weitgehend keinen „subjektiven“ Gehalt des Kopisten. Im Gegenteil: Das war ja nicht das Ziel der Kopie. Erst in der Erstellung von Biblio- und Mediatheken, von Lese- und Playlisten stellte sich eine Möglichkeit der Verwirklichung des „Konsumenten“ ein. Und mit der Möglichkeit, diese zu veröffentlichen und zu sharen (etwa via iTunes) wird die Individualität der Listenersteller ein Stück weit greifbar. Nicht mehr stellen Plattenlabels zusammen, was zusammen gehört (werden muss), sondern die „Konsumenten“ werden zu Re-Mixern von Alben als „Ordnern“ oder „Wiedergabelisten“. Das lässt sich natürlich weiter fortführen. Denn auf jedem rechner lassen sich Musik‑, Film‑, Textdateien einfachst bearbeiten. Kreativer Umgang mit dem gefundenen Film‑, Musik‑, Textmaterial gehört zu den wichtigsten Bestandteilend er sogenannten Pop-Kultur. Und selbst eine Causa Guttenberg verweist noch auf diese Remix-Kultur.
Documenta re-mixed
Im Bereich der Bildenden Kunst – und damit endlich zurück zur Documenta – ist noch nicht einmal der bewusste Remix vonnöten. Vielmehr ergibt sich durch die Vermischung von Fotografien, die in der Ausstellung aufgenommen werden und solchen, die vielleicht das Mittagessen oder die Anreise „dokumentieren“, durch die Vermischung des Fotos mit all den anderen Inhalten auf der Facebook-Wall eine Form von Mixtur, die zunächst die Verweisung des Fotografen auf die Funktion des Konsumenten übersteigt. Der Fotomacher erstellt ein Fotoset, in dem sich Bilder seines „Lebens“ mit Bildern von Kunstwerken verweben. Das fotografierte Kunstwerk wird einerseits als „meine fotografische Erinnerung“ durch den Fotografen selektiert und angeeignet – zugleich werden seine weiteren Bilder vielleicht nicht zu Documenta-würdigen Kunstwerken, aber doch zu Spurenelementen seines Selbst. Von Otto Normalbesucher ausgewählte Kunstwerke vermischen sich mit Otto Normalbürgers Weltbild. Der Eintopf im Fridericianum und das unterbelichtete Foto eines Kiefer-Bildes finden sich im selben Bilder-Set. Die Documenta wird ebenso dokumentiert wie der Besuch des Besuchers auf der Documenta. Die Kunstwerke werden zum Teil einer persönlichen, individuellen Reise – zugleich wird diese Reise zu einer Kunstreise.
Pictures are conversations
Und die Bestandteile dieser Kunstreise werden auf den Facebook-Walls oder den Google+ Streams zu Teilen eines Gesprächs, treffen dort auf andere Bilder-Streams von anderen Documenta-Reisenden.
Vom päpstlichen Experten zu Prosumenten
Diese Form der Auseinandersetzung mit bildender Kunst ist neu. Die mitgenommenen Fotos ersetzen den Katalog, der Prosument ersetzt einmal mehr den „Experten“, der möglichst „objektive“ Reproduktionen im Katalog mit möglichst „gültigen“ Interpretationen versehen und verkaufen will. Die „Werke“ werden, ohne kopiert zu werden, in einen Strom aus Kommunikation gezogen, dem sie sich nur entziehen können, wenn sie sich maximal dumm anstellen: Indem sie das Fotografieren verbieten.
Wie wird die Documenta re(a)gieren?
Ich bin gespannt darauf ob und wie die nächste Documenta auf dieses geänderte Verständnis reagieren wird, wie und ob sie das Prosumententum in die Ausstellung einbezieht. Ich fürchte ja, das das verschlafen wird. Oder doch nicht? Das simpelst Denkbare (naja – wobei nicht einmal viel Denken dafür nötig ist) wäre, entweder per eigener (flickr) Plattform oder durch Webcrawling (vielleicht über die EXIF-Daten der Bilder) einfach nur alle Bilder, die von jedem einzelnen Kunstwerk gemacht wurden, in eine Übersicht zusammen zu ziehen. Tausendmal das „selbe“ Werk in Fotos. Keine Ahnung ob nur meine Phantasie es spannend findet, die Differenzen zwischen den „objektiven“ Fotos, den Lichtstimmungen, Verwacklungen, Leuten im Bild, Spiegelungen, Aufnahmewinkeln, geräteeigenen Farbeigenschaften usw. zu sehen. Und wenn man dann anfängt nachzudenken – lässt sich im Netz eine unDocumenta vielleicht bilden, die der Neuigkeit mit Neugier und eigener Neuerung begegnet. Geht da was?
Warum nicht einfach mal spinnen?
Ebenso – ich erlaube mir, ein wenig zu spinnen – ließen sich die grauenvollen Audioguides (beim letzten Mal iPods) ersetzen durch Smartphones, die zwar über eine vorinstallierte App, die auf QR codes reagiert, die an den Werken angebracht sind (oder die Werke per pattern recognition erkennt), und dann die jeweils gewünschten Erklärungen abdudelt. Zugleich könnte das Phone aber zu einem Motion Tracking benutzt werden und individuelle Wege nachzeichnen, auf einer Gesamtübersicht ausgeben, Fotos hinein verlinken und insgesamt im Web abrufbar sein. Besucher könnten – ich höre die Schmerzensschreie schon jetzt — einzelne Werke „liken“ oder einfach nur photographeiren und dann auf der ausstellungseigenen Plattform über die vorinstallierte Upload-Funktion automatisch live stellen und zugleich – indem die Nutzung des Phons die Individualisierung per FB- oder G+-Login ermöglicht, sofort mit ihren Freunden sharen. Oh graus, oh Graus? Who knows, who knows?
Kuratio necesse est?
Die Documenta selbst ist keine Schau von Werken – sie war und ist selber Kunstwerk eines sich Kurator nennenden Großinquisitors, der die Welt bereist auf der Suche nach Dokumentwürdigem. Die Documenta war immer schon Experten-Mesh-Up und Werk-Remix, Bilder- und Skulpturen Playlist. Das macht diese neue Entwicklung der photografischen Mesh-Ups und Eigen-Kurationen durch Beuscher so spannend. Der Großkurator hängt ein Angebot – aber die vielen kuratierenden Prosumer machen sich ihre eigene Documenta, die sie photographisch „dokumentieren“. Dieses Mal könnte das wie oben gesagt als Do-it-yourself-cumenta funktionieren. Wer aber sagt, dass die nächste Documenta nicht als YouComenta komplett user generated ist ? Und Kassel nur noch die realtweltliche Basis einer Kunstbewegung, die weltweit im Netz miteinander stattfindet. Das hat mit Machtverschiebungen zu tun, das sollte damit deutlich genug geworden sein. Es macht nicht jeden Dubbel direkt zum Künstler im emphatischen Sinne. Noch immer werden die „Werke“ im Mittelpunkt stehen, freigegeben zu einer kreativen Aneignung. Die Künstler werden zu Honoratiern, die Besucher zu Kuratiern. Und dieses mal muss es nicht unbedingt zu einem tödlichen Kampf zwischen beiden kommen. Nur der alkte Großkurator muss vielleicht ein Stück weit seine Ambitionen einschränken. Aber warum sollte es ihm da anders gehen, als der Bahn in Stuttgart, Mubarak in Ägypten oder dem Repro-Grafen Guttenberg. Das ist durchaus vergleichbar dem Machtverlust, den die katholische Kirche durch die Erfindung des Buchdrucks erlebte. Nunmehr haben die „Professionals“ nicht mehr den Alleinverkündungsanspruch. Wenn jeder die Bibel in die Hände bekommen und (Lesenfähigkeit vorausgesetzt) lesen kann – dann muss sich der Priester warm anziehen. Sein Wot ist nicht mehr Wahrheit, sondern Meinung. Herausgehobene Meinung noch immer – aber kein Anspruch auf Absolutheit.