Bei Klaus Kusanwosky findet sich hier ein Beitrag über den Bundestrojaner, der nicht nur lesenswert ist, sondern gleichzeitig interessante Erweiterungen zulässt, führt man ihn eng mit Kusanowskys Ausführungen zum Dokument in der Moderne. Während Kusanowsky sich auf das Paar Freiheit/Sicherheit im Bezug auf das staatliche Gewaltmonopol widmet, scheint mir die Fortführung mit dem Blick auf den „Kriminellen“, von dem er spricht, den er aber nicht weiter definiert, vielversprechend.
Hätte die Polizei es mit Kriminellen zu tun, wären die Probleme erheblich geringer. Der „Kriminelle“ aber ist das Ergebnis eines Dokumentationsprozesses mit heutzutage höchst geregelten Verfahrensweisen zur Erzeugung des Dokuments „Kriminell“: Gemeint ist der Gerichtsprozess, der durch Richter durchgeführt das Verfahren umfasst, aus einem Beschuldigten oder „Angeklagten“ einen dokumentierten Kriminellen also Tatschuldigen zu machen. Bereits hier – und das ist vielleicht für den Dokumentbegriff selbst nicht ganz uninteressant – ist zu sehen, dass die Dokumente der Moderne niemals der Charakter der endgültigen Gültigkeit tragen können, sondern nur hohe Probabilität, die durch weitere Gerichtsinstanzen überprüfbar sein muss. Die Berufungsinstanz führt das Dokumentationsverfahren erneut durch. Die Revisionsinstanz wiederum überprüft lediglich, ob die Verfahrensdurchführung der Vorinstanz Dokumenterzeugungsgerecht operierte oder nicht. Darin liegt ein wichtiger Zug der Moderne. Sie erzeugt Dokumente – aber mit dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass das Dokument nicht gültig sein könnte oder zu einem späteren Zeitpunkt (etwa durch das Auftauchen neuer Beweise durch neu zugelassene Beweisverfahren wie den DANN-Test) als ungültig erscheint, weil es noch immer von der Voraussetzungen, aus denen heraus es erzeugt wurde, abhängig bleibt.
Die göttlichen Gerichtsurteile des Vormittelalters suchten nach Letztgültigkeit – indem sie Gott zumuteten, in einen erwartbaren Ablauf (das Verbrennen eines Körpers im Feuer) einzugreifen und gegen natur- und menschenwissenschaftliche Erfahrung wundertätig die Nichtschuld zu beweisen. Erst in den Prozessen der Inquisition wurde dieses Verfahren insoweit abgewandelt, dass der Beschuldigte notwendig ein Geständnis ablegen musste, um vollgültig verurteilbar zu sein. Dass das nicht in blutrünstigen Folterorgien wahnsinniger Inquisitoren mündete, wie der Volksglaube gerne annimmt, zeigen die erhaltenen Verfahrensdokumente, die regelten, unter welchen Bedingungen überhaupt peinliche Befragungen zulässig und mit welchen Mitteln sie in welchem Grade durchgeführt werden durften (ein paar oberflächliche. Die große Gefahr übrigens in diesem Verfahren: Ein Beschuldigter, der die Folter überstand (was möglicher war, als besagter Volksmund annimmt), hatte danach als erwiesen nichtschuldig zu gelten.
Das verweist auf eine Graustelle im Verfahren, die zugleich die Schnittstelle zwischen Gericht und Polizei markiert: Die Schuld eines Beschuldigten, seine „Kriminalität“ mithin, kann nur durch Richter in einem ordentlichen Gerichtsverfahren (vorläufig) dokumentiert werden. Vor der Verurteilung kann ein Beschuldigter nur als (dringend) verdächtig gelten. Zugleich dokumentiert die Unschuldsvermutung für jeden Bürger bzw. Beschuldigten, dass er bis zum Urteilsspruch als nicht schuldig zu gelten hat. Die Polizei kann also nur gegen aktuell unschuldige, potenziell Schuldige ermitteln. Dieses Gemisch aus aktuell/potenziell ist nicht nur eine Herausforderung für das juristische Dokumentationsverfahren – sondern auch für den gegenwärtigen Fall des Bundestrojaners. Hier liegt die Problematik des Umgangs mit ihm: denn niemand würde sich über den Einsatz des Trojaners gegen Kriminelle wenden wollen – nur kann er gar nicht gegen sie nicht eingesetzt werden, da die Feststellung der Kriminalität des Verdächtigen den Abschluss eines Verfahrens markiert, in dessen Verlauf kein Trojaner nötig wäre, weil alle Unterlagen strafprozessrechtlich beschlagnahmt werden können.
Die Grauzonenjustiz
So ist mit der „Ermittlung“ ein Zwischenfeld geschaffen, das von eigenartiger Kontur ist: Der „Verdächtige“ wird zu einer Art Hilfsdokument, der durch das Anlegen einer Ermittlungsakte und die Aufnahme des Verdächtigen in diese Akte (oder in eine polizeiliche Datenbank) physisch greifbar wird – die zudem die Vermischung von Polizei und Gericht mit sich trägt. In diesem Feld können gegen dokumentierte „Verdächtige“ Maßnahmen getroffen werden, die gegen nichtschuldige Bürger nicht getroffen werden dürfen, da sie verfassungsrechtlich ausgeschlossen sind. Der Eingriff in die Grundrechte nämlich. Die Anordnung der Untersuchungshaft, Haussuchung, Telefonüberwachung, Postüberwachung, Beschlagnahme oder das zeitweise Einfrieren von Eigentum sind solche Eingriffe, die staatlichen Organen von der Verfassung als Aktivitäten gegenüber nichtschuldigen Bürgern ausdrücklich untersagt sind. Um sie dennoch ermittlungstaktisch einsetzen zu können, bedient sich die Rechtsprechung eines Tricks: Sie verlegt richterliche Entscheidungen in den Vorfeldprozess des Gerichtsverfahrens. Ermittlungsrichter und Haftrichter können per richterlichen Beschluss diese Eingriffe in die Grundrechte legitimieren. Sie müssen dokumentieren, dass es sich bei einem Bürger um einen Verdächtigen handelt. Und erst durch diese Dokumentation öffnen sich die besagten Verfahrensoptionen.
Das Dokument ist nur probabel
Allerdings mit einem gewichtigen neuen Problem: Schon das Gerichtsurteil hatte ja die Möglichkeit, auch die Nichtschuld eines Beklagten festzustellen (d.h. die Möglichkeit zu dokumentieren, dass der vor dem Richterspruch qua Unschuldsvermutung als nichtschuldig geltende Bürger diesen Status auch nach dem Richterspruch behält, andererseits die Möglichkeit, dass eine weitere Instanz den (noch nicht rechtskräftigen) Schuldspruch aufhebt. Das heißt: Das Verfahren sieht die Möglichkeit vor, dass ein Nichtschuldiger in die „Mühlen der Justiz“ gerät.
Das Ermittlungsverfahren gegen einen Verdächtigen nun hat diese Möglichkeit noch in höherem Maße. Wenn ein Verdacht sich im Verlauf der Ermittlung nicht „erhärtet“, ist der eben noch mit dem Dokument des Verdächtigen versehene, als unschuldig bzw. nichtschuldig zu vermutende Bürger aus dem Verfahren zu entlassen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Fall eintritt, ist naturgemäß wesentlich höher, als derjenige, dass aus dem Gerichtsverfahren ein als „Beschuldigter“ dokumentierter Bürger auch hinterher ohne das Dokument „kriminell“ das Verfahren verlässt. Wie sollte es auch anders sein: Die Maßnahmen, die richterlich angeordnet werden, um einen „Verdächtigen“ in den neuen Dokumentstand des „Beschuldigten“ (und später ggf. in den des Verurteilten/Kriminellen) zu versetzen, sind darauf gezielt, Beweise zu sammeln, die diese Dokumentation rechtfertigen. Das Dokument „Verdächtiger“ heißt also lediglich: Könnte ein Krimineller bzw. Beschuldigter sein. Dabei richtet sich die Maßnahme aber in jedem Falle gegen jemanden, der mit durchaus nicht unbeträchtlicher Wahrscheinlichkeit nie diesen Status erreicht und deswegen doch in höherem Maße durch die Unschuldsvermutung gedeckt gelten muss.
Das Spannende an diesem Dokument „Verdächtiger“ ist also seine Grauzonenhaftigkeit bereits als Dokument. Denn ist das Dokument erzeugt, sind schwerwiegende Grundrechtseingriffe gestattet, die der polizeilichen Ermittlung sonst nicht gestattet sind. Zugleich aber hängt dem Dokument seine Probabilität unaufhebbar an: Zum Zeitpunkt der Erstellung der Ermittlungsakte und der Feststellung, dass jemand ein Verdächtiger ist, sind die verfahrensstützenden Fakten enorm dünn. Zumal diejenigen „Kriminellen“ (ein Begriff des Futur II zu diesem Zeitpunkt) vermutlich alles daran setzen werden, die Hinweise, die verfahrensstützend für den Dokumentationsprozess verwendet werden könnten, so gering wie möglich halten werden. Handschuhe, Tatwaffenbeseitigung, Alibi, Beweisvernichtung und ähnliches. Und im Bereich der technischen Medien: Dokumentvernichtung. Der noch nicht verdächtige, sich seiner (Un-)Taten aber bewusste Bürger wird zur Vermeidung des Dokumentationsverfahren, das ihn zum Verdächtigen, Beschuldigten, verurteilten Kriminellen macht, dafür sorgen, dass die handgreiflichen „Fakten“ möglichst für die Ermittler nicht zugänglich sind. Das macht ihn für diese Ermittler tendenziell ununterscheidbar gegenüber nichtbescholtenen Bürgern, die „nichts zu verbergen“ haben.
Der nicht als unbescholten dokumentierbare Bürger
Es gehört zu den Grundausstattungen des Rechtsstaates, dass Verdächtigte oder Beschuldigte ihre Nichtschuld nicht beweisen müssen. Die Unschuldsvermutung gilt für sie. Hat nun aber eine „Krimineller“ seine „Spuren“ beseitigt, ist er für das polizeiliche Verfahren nicht als Verdächtiger durch einen Dokumentationsprozess definierbar. Die Abwesenheit der Beweise kann ihn ebenso wenig belasten, wie seine eigene Unfähigkeit, für seine Unschuld Beweise zu liefern. Der Beschuldigte kann schweigen.
Das aber heißt wiederum, dass er für das „Auge des Gesetzes“ nicht zu unterscheiden ist von Nichtschuldigen. Oder Nichtverdächtigen. Insbesondere dann, wenn der Bürger nicht nur die Tatbeweise verschwinden lässt, sondern das gesamte „Corpus Delicti“ – was insbesondere für solche Straftaten möglich ist, die es mit dem Besitz bestimmten Materials wie k*n*d*r*p*r*n zu tun haben. Das Herumsägen der Sicherheitsbehörden und Innenministerien an Freiheitsrechten, das sich etwa in der Vorratsdatenspeicherung darstellt, kann als sowohl hilflose wie auch verfassungsrechtlich nicht wirklich überzeugend begründete Reaktion auf dieses Phänomen verschwindender Tatbestände gelten. Die Tat ist nicht mehr dokumentierbar, wenn es nicht nur keine Beweise mehr gibt, die einen bestimmten Täter belasten, sondern wenn auch die Beweise verschwinden, die überhaupt eine Tat dokumentierbar machen.
Die Dokumentation zukünftiger Taten
In noch stärkerem Maße gilt das für Taten, die noch gar nicht ausgeführt wurden. Da keine Straftat vorliegt, kann die Ermittlung sich nicht einmal darauf stützen, dass es schon einen Täter geben müsse da ja eine Straftat dokumentiert wurde (wiederum geregelte Dokumentationsverfahren – sei es durch Anzeige, sei es durch Vorliegen eines durch berechtigte Stellen festgestellten und protokollierten Offizialdeliktes). Gerade die neue Form des Terrorismus stellt die Justiz und Polizei deswegen vor ungeheure Probleme: Muss sie doch selbst spekulieren auf eine möglicherweise zukünftig stattfindende Tat. Das heißt: Sie sucht nach Verdächtigen, die nicht nur Kriminell im Futur II gewesen sein werden (wenn das Gericht es so beurteilt), sondern sie sucht nach Taten im Futur. Und im Probabilitätsraum: Es könnte geschehen, dass … Und möglicherweise ist der mögliche Täter für die mögliche Tat Person XY.
Gegen genau diese Personen aber richtet sich der im Rahmen der Antiterrorgesetze eingeführte „Bundestrojaner“. Er ist Teil ermittlungstaktischer Grundrechtseingriffe, die sich gegen Personen richten, die möglicherweise verdächtig sein werden, eine mögliche Tat zukünftig zu begehen. Die Ermittlung muss nun also gleichzeitig herausfinden, ob eine Tat geschehen wird (und sie kann höchstens herausfinden, ob es irgendwo einen Anlass geben könnte davon auszugehen, dass eine Planungskommunikation auffällt, die möglicherweise in die Tat umgesetzt wird. Die Ermittlung kann nun also nur Hinweise suchen, die auf dieses potenzierte Probabilitätsgeflecht hindeuten. Dafür aber muss sie fast notwendigerweise eine größere Zahl von Bürgern in den Blick nehmen, als tatsächlich später als „möglicherweise verdächtig“ klassifiziert werden könnten. Heißt, es entsteht eine Reihe immer niedrigerer Probabilitäten:
Schuldig Gesprochener – Beschuldigter – Tatverdächtiger – Mögliche Tat – Möglicher Täter – Möglicher Planer
Vom Schuldspruch zum möglichen Planer erweitert sich der Kreis der Personen, die dem Gesetz ins Auge fallen. Die Dokumentationen, die zu den jeweiligen Qualifikationen führen und Ergebnis bestimmter Prozesse und geregelter verfahren werden, werden immer instabiler und weniger wahrscheinlich (von der Wahrheit hat man sich seit dem Gottesurteil eh verabschieden müssen). Das wiederum heißt: Der Bundestrojaner kommt zum Einsatz zu einem Zeitpunkt, da die Wahrscheinlichkeit, dass derjenige, gegen den diese Grundrechtseingriffe erlassen wurden, später Schuldig sein wird, extrem gering ist. Es liegt ja noch nicht einmal die Tat vor – schließlich soll der Trojaner ja gerade im Vorfeld einer Tat eingesetzt werden, die, wenn sie einmal begangen sein wird , möglicherweise keinen beschuldigten mehr vor Gericht sehen wird, da dieser mit dem Akt seiner Tat als Selbstmordattentäter verschwunden sein wird.
Dem Rechtsverfahren gehen die Dokumente aus
Das der Justiz eigene Dokumentschema (Verdächtiger – Beschuldigter – Angeklagter – Verurteilter) wird dadurch an den Rand des Zerreißens geführt. Zwar müssen auch den in den besagten traditionellen Verfahrensschritten verwendeten Dokumenten Einwände hinsichtlich ihre letztgültigen Dokumenthaftigkeit immer einbegriffen bleibe. Sie müssen anfechtbar und korrigierbar bleiben – was übrigens die Todesstrafe in Ländern, die nicht von göttlicher Wahrheit, Gnade und Allwissenheit geküsst sind, grundsätzlich und ohne jede weitere Diskussion ausschließt. Trotzdem haben diese Dokumente Anspruch zumindest auf hohe, verfahrensvalidierte Probabilität. Die Dokumente des Antiterrorkampfes aber haben nichts von diesen Probabilitäten. Sie sind in etwa auf dem Niveau eines schutzpolizeilichen Streifenspaziergangen. Dem aber das Rumstreifen durch Wohnungen, das Anzapfen von Leitungen, das Öffnen von Briefen zu erlauben und zwar einigermaßen nach Gutdünken, weil ja in jeder Wohnung potenziell ein „Krimineller“ wohnt, stellt das rechtsstaatliche Verfahren ebenso in den Abgrund, wie der Bundestrojaner, der bei noch nicht als Kriminell, Beschuldigte, ja noch nicht einmal als Verdächtigen dokumentierbaren nach Hin- oder beweisen suchen soll, die es als möglich erscheinen lassen, das der Durchsuchte eventuell an einer möglichen Planung einer möglichen (aber noch nicht realisierten) Tat beteiligt werden sein könnte (???)
Das übrigens nennt sich Spekulation. Der (verfassungsgemäß als unschuldig geltende) Bürger wird zum Objekt der Spekulation für Ermittler, die Beweise für probable Dokumente zu sammeln beginnen, die es eventuell in Zukunft geben wird.
„Ja sagen Sie mal, Sie sind wohl ein Terroristenfreund, was? Ihnen werden wir mal auf den Rechner schauen.“ – „Ich freue mich über jeden Leser.”
Ein hübsche Abhandlung. Bei Interesse daran würde ich auch den Artikel bei autopoiet empfehlen: Person und Dokument
http://sebastian-ploenges.com/blog/2011/person-und-dokument/