Was haben Utopisten und Freiheitskämpfer nicht geträumt: von einer Arbeitswelt ohne Entfremdung. Ohne Roboterisierung und Mechanisierung des Menschen. In der der Arbeiter nicht mehr nur das Teil als seelenloses Teil produziert, sondern als Teil eines Ganzen wahrgenommen, anerkannt, gewürdigt wird — und selbst den Stolz darauf genießen kann, sich in ein ganzes Nicht-Ich (mit)entäußert zu haben, aus dem er sich selbst anblickt und als Ich verwirklichen kann. Eine Arbeitswelt, die den ganzen Menschen mit all seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten, mit Herz und Hirn einbezieht und seine Unersetzlichkeit und Einzigkeit herausstellt.
Ein schöner — Albtraum, wie sich zunehmend zeigt. Schon Boltanski/Chiapello haben darauf hingewiesen, dass der Geist des Kapitalismus sich gerne von seinen Kritikern und Gegnern inspirieren und revitalisieren lässt. So auch von den 68er-Forderungen nach nicht-entfremdeter, selbstverwirklichende Arbeit. Und die Konsequenz? Beschreibt im Freitag gestern ein schöner Artikel (hier) von Prof. Andreas Lange (hier) vom Deutschen Jugendinstitut (hier). Ich erlaube mir, einen Absatz zu zitieren (Hervorhebungen von mir):
Im Überblick gesehen bedingen Prozesse der Entgrenzung des Wirtschafts- und Arbeitssystems, dass gegenüber dem Referenzzeitraum der sechziger bis achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts erstens der relative Anteil von Arbeitsplätzen mit den Merkmalen Autonomie und Komplexität der Anforderungen gestiegen ist – verknüpft mit jeweils spezifischen Mischungen von Vor- und Nachteilen. {…}
Zweitens hat sich die Qualität von Arbeitsanforderungen mit Blick auf das Subjekt verändert. Dabei geht es zuerst darum, dass erwerbstätige Personen ihre subjektiven Potenziale mehr als bisher systematisch in die Arbeitsprozesse integrieren müssen – sprich Kreativität, Verantwortlichkeit und Innovativität müssen von den Personen mehr als bisher eingebracht werden. Arbeitende haben mehr und tiefgehender als bisher Anteile ihres persönlichen Potenzials in sich freizulegen und einer ökonomischen Verwertung im Arbeitsprozess zur Verfügung zu stellen. Das Anforderungsprofil lautet, Bereitschaft und die Kompetenz zur aktiven Selbststeuerung in und für Arbeit in erweiterter Form zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Die auf den ersten Blick gestaltungsoffeneren Arbeitsbedingungen, beispielsweise in Form des Verzichts auf eine offizielle Dokumentation der Arbeitszeiten, führen nicht selten dazu, dass die Erfüllung der Arbeitsaufgaben im Sinne einer subjektiv als wichtig eingeschätzten persönlichen Leistung Tendenzen der systematischen und chronifizierten Selbstüberforderung beinhaltet.
Ich empfehle den ganzen Artikel zur Lektüre. Und hab mir das Buch des Verfassers (amazon) Entgrenzte Arbeit — entgrenzte Familie: Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung auch direkt geordert. Aber noch mal die Frage mit Blick auf die hervorgehobenen Punkte: Sind das nicht wesentliche Bestandteile einer marxistischen Tradition, die die nicht-entfremdete Arbeit herbeisehnte?
Im Marxhaus in Trier (link) hab ich vor 2 Wochen gerade diesen Wandeintrag fotografiert (leider passte der entfremdete Bereich links nicht mit aufs Bild …)
Der nächste Schritt ist bereits gegangen: Der Proletarierer wird in der Dienstleistungsgesellschaft selbst zur Ware. “Identifikation mit der Ware” bekommt einen bizarren Zweitsinn. Das zusammen gerechnet mit der Beschreibung von Lange bzw. Boltanski/Chiapello — incipit Sich Gesellschaft leisten. Und eine seltsame neue Welt.