Spiegel Online erfreut uns mit einem Artikelchen, das die in letzter Zeit hier gelegentlich geäußerte Kritik an wirtschaftswissenschaftlichen Erwägungen wunderbar zusammenführt — in einem Negativbild. Die Autoren Andreia Tolciu und Michael Bräuninger, offensichtlich zutiefst geprägt vom wirtschaftswissenschaftlichen Dressurmeerschweinchendenken, zeigen sich verwundert, dass bei den lächerlichen Löhnen, die etwa in Ostdeutschland gezahlt werden, überhaupt noch jemand arbeiten geht:
Diese nichtmonetären Faktoren, die das Verhalten und die Mentalität vieler Arbeitnehmer prägen, könnten erklären, warum es im Osten immer noch Friseurinnen gibt — trotz Stundenlöhnen von gerade mal vier Euro. Oder warum sich Niedriglöhner mit Kindern für Arbeit entscheiden — obwohl sie am Monatsende kaum mehr in der Tasche haben als eine Hartz-IV-Familie.
“Könnten erklären” — “nichmonetäre Fakten”. Hm. Aha.Dieses Erklärungsmuster gibt sogar Anlass, extra für diese Berufsgruppe der Sich-dummarbeiter die ökonomische Theorie zu überarbeiten:
Die Einstellungen einer Gesellschaft zur Arbeit haben große Bedeutung für das Funktionieren einer Volkswirtschaft. Die ökonomische Theorie sozialer Interaktionen zeigt, dass die Sozialstaatsdebatte nicht mehr nur auf eine klassische monetäre Kosten-Nutzen Analyse reduziert werden kann. Denn Menschen lassen sich nicht nur vom ökonomischen Kalkül leiten, sondern auch vom Gefühl, etwas zu leisten und gebraucht zu werden.
Aha — Menschen lassen sich vom Gefühl leiten. Von demjenigen, etwas zu leisten. Dafür stehen mache sogar frühmorgens auf (mit dieser Feststellung beginnt der Artikel) und sind fleißig. Hm. Solch ein Gefühl gehört natürlich in die ökonomische Theorie. Andere Gefühle nicht. Zum Beispiel das Gefühl, dass es anderen Menschen nicht schlecht gehen sollte, nur weil sie auf dem “Arbeitsmarkt” nicht gekauft werden. Naja — sind wir bescheiden. Kann ja nicht gleich jedes Gefühl in die Ökonomie einwandern. Nun aber wirds kurios — denn jetzt kommt sogar die Moral in der ökonomischen Theorie vor. Die Arbeitsmoral nämlich:
Debattiert wird über zusätzliche Leistungen des Staates und — durchaus berechtigt — über die Frage der Finanzierbarkeit. Viel wichtiger aber wäre es, wenn die politischen Entscheidungsträger die langfristigen sozialen Einflussfaktoren im Blick hätten. Und dazu zählt eben auch die Arbeitsmoral, die in Deutschland glücklicherweise (noch) relativ stark ausgeprägt ist.
Die vornehmliche Aufgabe der Politik ist es, die Arbeitsmoral der Dressurmeerschweinchen hoch zu halten. Und nun noch eine kleine komplizierte Wendung: Wenn Arbeitslose in einemm Umfeld mit niediger Arbeitsmoral leben ist ihr Ansehensverlust und die persönliche Betroffenheit als wenn sie in einem Umfeld mit hoher Arbeitsmoral leben. SÜNDER! So klingt das:
Das “Wohlbefinden” der Arbeitslosen variiert aber mit der Anzahl der in ihrem Umfeld lebenden anderen Arbeitslosen. Offensichtlich wird es als viel schlimmer empfunden, allein arbeitslos zu sein. Erträglicher wird die Situation, wenn auch Freunde und Bekannte keinen Job haben. In diesem Fall wird Arbeitslosigkeit als eine kollektive Erfahrung betrachtet.
Heißt — Arbeitslose isolieren? In Arbeiterunterkünfte einweisen? Oder was? Sagen die Autoren nicht. Aber ein kämpferischer Aufruf darf nicht fehlen:
Aus diesen Zusammenhängen lässt sich eine klare Botschaft ableiten: Das Arbeitsengagement derer, die sich jeden Morgen auf den Weg zur Arbeit machen, darf nicht in Frage gestellt werden. Anreize, einen Job anzunehmen, dürfen nicht sinken.{..} Höhere Regelsätze könnten vor allem Geringverdienern signalisieren, dass Nichtstun mindestens genauso gut ist wie Arbeiten: Höhere staatliche Unterstützung verringert den Anreiz zu individuellen Anstrengungen; dadurch steigt die Arbeitslosigkeit und wird gesellschaftlich tolerabler; in der Folge sinkt die soziale Norm der Leistungsbereitschaft; und dies führt dann zu einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit.
Jawoll. So einfach ist das. Die Moral geht verloren. Und schon wollen die Herrschaften nicht mehr arbeiten — so wie die doofen Friseusen, die sich für 4 Euro noch aus den Federn schälen. Die haben zwar kein Geld, aber Moral. Juchhe! Denn was droht, wenns anders kommt. Schrecken, Schauer, Verzweifelung. In den Worten der Autoren:
So würde ein Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit und Arbeitsmoral aktiviert, der nur schwer zu durchbrechen ist.
Jawoll. Erst nicht arbeiten. Dann keine Moral. Dann der Teufel. Zur Hölle mit den amoralischen Arbeitslosen.
Kann es sein, dass Spiegel Online heimlich zum Satiremagazin geworden ist? Oder werden solche Artikel in ernsthafter Absicht unters Volk gebracht? Seit wann gehen Menschen aus moralischer Verpflichtung zur Arbeit? Ich dachte, man täte dies um des Lebensunterhalts willen. Also — nach ökonomischer Theorie betrachtet. (Nachtrag: Ich arbeite übrigens leidenschaftlich, moralisch, protestantisch und gern. Gegen Bezahlung)