Die Darstellung der Welt als eine Veränderbare — Brecht revisted

April 22nd, 2013 § 2 comments

Wenn also Mas­sen­me­di­en die Welt und die Gesell­schaft, in der wir leben, so kon­stru­ie­ren und dar­stel­len, dass unser Wis­sen über die­se Geselslchaft mehr oder min­der aus den Mas­sen­me­di­en stammt (Luh­mann) — was bleibt dann einer dar­stel­len­den Kunst noch zu kon­stru­ie­ren? Sich ein Bild von der Welt zu machen, kann es kaum sein. Denn gegen das mas­sen­me­dia­le Bild von Fern­se­hen und Zei­tun­gen kann es nicht ankom­men, dafür ist Thea­ter zu lang­sam, ihm feh­len die per­so­nel­len und finan­zi­el­len Mit­tel. Und das Publi­kum ist viel zu klein. In die­sem Zusam­men­hang bin ich über einen klei­nen Brecht-Text von 1955 gestol­pert, der sich dem Pro­blem der Dar­stell­bar­keit der Welt wid­met und dazu Stel­lung bezieht. Was Brecht im Ange­sicht der ato­ma­ren Bedro­hung schreibt, lässt sich even­tu­ell auch über die Welt im Ange­sicht der mone­tä­ren Bedro­hung noch ein­mal sagen. Ich zitie­re ihn in gan­zer Län­ge unkom­men­tiert. Die Fet­tun­gen sind aller­dings von mir.

Brecht – Über die Darstellbarkeit der Welt auf dem Theater

Mit Inter­es­se höre ich, daß Fried­rich Dür­ren­matt in einem Gespräch über das Thea­ter die Fra­ge gestellt hat, ob die heu­ti­ge Welt durch Thea­ter über­haupt noch wie­der­ge­ge­ben wer­den kann.

Die­se Fra­ge, scheint mir, muß zuge­las­sen wer­den, sobald sie ein­mal gestellt ist. Die Zeit ist vor­über, wo die Wie­der­ga­be der Welt durch das Thea­ter ledig­lich erleb­bar sein muß­te. Um ein Erleb­nis zu wer­den, muß sie stimmen.

Es gibt vie­le Leu­te, die kon­sta­tie­ren, daß das Erleb­nis im Thea­ter schwä­cher wird, aber es gibt nicht so vie­le, die eine Wie­der­ga­be der heu­ti­gen Welt als zuneh­mend schwie­rig erken­nen. Es war die­se Erkennt­nis, die eini­ge von uns Stü­cke­schrei­bern und Spiel­lei­tern ver­an­laßt hat, auf die Suche nach neu­en Kunst­mit­teln zu gehen.

Ich selbst habe, wie Ihnen als Leu­ten vom Bau bekannt ist, nicht weni­ge Ver­su­che unter­nom­men, die heu­ti­ge Welt, das heu­ti­ge Zusam­men­le­ben der Men­schen, in das Blick­feld des Thea­ters zu bekommen.

Dies schrei­bend, sit­ze ich nur weni­ge hun­dert Meter von einem gro­ßen, mit guten Schau­spie­lern und aller nöti­gen Maschi­ne­rie aus­ge­stat­te­ten Thea­ter, an dem ich mit zahl­rei­chen, meist jun­gen Mit­ar­bei­tern man­ches aus­pro­bie­ren kann, auf den Tischen, um mich Modell­bü­cher mit Tau­sen­den von Fotos unse­rer Auf­füh­run­gen und vie­len mehr, oder min­der genau­en Beschrei­bun­gen der ver­schie­den­ar­tigs­ten Pro­ble­me und ihrer vor­läu­fi­gen Lösun­gen. Ich habe also alle Mög­lich­kei­ten, aber ich kann nicht sagen. daß die Dra­ma­tur­gien, die ich aus bestimm­ten Grün­den nicht­aris­to­te­li­sche nen­ne, und die dazu­ge­hö­ren­de epi­sche Spiel­wei­se die Lösung dar­stel­len. Jedoch ist eines klar­ge­wor­den: Die heu­ti­ge Welt ist den heu­ti­gen Men­schen nur beschreib­bar, wenn sie als eine ver­än­der­ba­re Weit beschrie­ben wird.

Für heu­ti­ge Men­schen sind Fra­gen wert­voll der Ant­wor­ten wegen. Heu­ti­ge Men­schen inter­es­sie­ren sich für Zustän­de und Vor­komm­nis­se, denen gegen­über sie etwas tun können.

Vor Jah­ren sah ich ein Foto in einer Zei­tung, das zu Rekla­me­zwe­cken die Zer­stö­rung von Tokio durch ein Erd­be­ben zeig­te. Die meis­ten Häu­ser waren ein­ge­fal­len, aber eini­ge moder­ne Gebäu­de waren ver­schont geblie­ben. Die Unter­schrift lau­te­te: Steel stood ‑ Stahl blieb ste­hen. Ver­glei­chen Sie die Beschrei­bung mit der klas­si­schen Beschrei­bung des Ätna­aus­bruchs durch den älte­ren Pli­ni­us, und Sie fin­den bei ihm einen Typus der Beschrei­bung, den die Stü­cke­schrei­ber die­ses Jahr­hun­derts über­win­den müssen.

In einem Zeit­al­ter, des­sen Wis­sen­schaft die Natur der­art zu ver­än­dern weiß, daß die Welt schon nahe­zu bewohn­bar erscheint, kann der Mensch dem Men­schen nicht mehr lan­ge als Opfer beschrie­ben wer­den, als Objekt einer unbe­kann­ten, aber fixier­ten Umwelt. Vom Stand­punkt eines Spiel­balls aus sind die Bewe­gungs­ge­set­ze kaum konzipierbar.

Weil näm­lich ‑ im Gegen­satz zur Natur im all­ge­mei­nen ‑ die Natur der mensch­li­chen Gesell­schaft im Dun­kel gehal­ten wur­de, ste­hen wir jetzt, wie die betrof­fe­nen Wis­sen­schaft­ler uns ver­si­chern, vor der tota­len Ver­nicht­bar­keit des kaum bewohn­bar gemach­ten Planeten.

Es wird Sie nicht ver­wun­dern, von mir zu hören, daß die Fra­ge der Beschreib­bar­keit der Welt eine gesell­schaft­li­che Fra­ge ist. Ich habe dies vie­le Jah­re lang auf­recht­erhal­ten und lebe jetzt in einem Staat, wo eine unge­heu­re Anstren­gung gemacht wird, die Gesell­schaft zu ver­än­dern. Sie mögen die Mit­tel und Wege ver­ur­tei­len — ich hof­fe übri­gens, Sie ken­nen sie wirk­lich, nicht aus den Zei­tun­gen ‑, Sie mögen die­ses beson­de­re Ide­al einer neu­en Welt nicht akzep­tie­ren ‑ ich hof­fe, Sie ken­nen auch die­ses ‑, aber Sie wer­den kaum bezwei­feln, daß an der Ände­rung der Welt, des Zusam­men­le­bens der Men­schen in dem Staat, in dem ich lebe, gear­bei­tet wird. Und Sie wer­den mir viel­leicht dar­in zustim­men, daß die heu­ti­ge Welt eine Ände­rung braucht.

Für die­sen klei­nen Auf­satz, den ich als einen freund­schaft­li­chen Bei­trag zu Ihrer Dis­kus­si­on zu betrach­ten bit­te, genügt es viel­leicht, wenn ich jeden­falls mei­ne Mei­nung berich­te, daß die heu­ti­ge Welt auch auf dem Thea­ter wie­der­ge­ge­ben wer­den kann, aber nur, wenn sie als ver­än­der­bar auf­ge­faßt wird. (Gro­ße kom­men­tier­te Ber­li­ner und Frank­fur­ter Aus­ga­be Band 23, Schrif­ten 3, S.240/341)

 

§ 2 Responses to Die Darstellung der Welt als eine Veränderbare — Brecht revisted"

  • Fritz sagt:

    Wenn “unser Wis­sen über die­se Gesell­schaft mehr oder min­der aus den Mas­sen­me­dien stammt”, dann gäbe es neben der Ver­än­der­bar­keit noch wei­te­re mög­li­che Ansatzpunkte.
    Der ers­te ist klar — man kann bei jedem The­ma auch die Kon­struk­ti­on die­ses Wis­sens mit­re­flek­tie­ren. Das wür­de das Thea­ter zur “Fra­ge­an­stalt” machen.
    Die zwei­te ist nicht so klar, aber in Erin­ne­rung an Negt/Kluge fällt mir der Begriff “Erfah­rung” ein, wel­che die Gegen­kraft zum mas­sen­me­dia­len “Wis­sen” dar­stellt und letzt­lich stär­ker ist als jedes media­le “Wis­sen”. Thea­ter wäre dann eine “Erfah­rungs­an­stalt” … und dar­in liegt ja auch der wesent­li­che Vor­sprung des Thea­ters vor Film oder Fern­se­hen, näm­lich die “Echt­heit” des Gesche­hens: Nur Thea­ter hat kör­per­li­che Rea­li­tät und berührt sich daher mit dem, was man Erfah­rung nen­nen könnte.
    Am radi­kals­ten wird die­ser Umstand im “unsicht­ba­ren Thea­ter” aus­ge­spielt ( http://is.gd/l8B7XN ), man kann aber auch an “halb-sicht­ba­re” Thea­ter­for­men den­ken wie z.B. “Chan­ce 2000” von Schlin­gen­sief, wobei das Thea­ter sich qua­si in den gan­zen media­len Raum erwei­tert und zu einer Dau­er­auf­füh­rung wird. Alles dies aber Ansät­ze, die das mas­sen­me­dia­le Vor-Wis­sen durch Gegen-Erfah­run­gen auf­zu­bre­chen ver­su­chen. Das kann ich mir für alle The­men vor­stel­len, auch für die hin­ter­grün­di­ge­ren und pri­va­te­ren Themen.
    (Wobei sich dann schnell die Fra­ge stellt, ob öffent­li­ches Thea­ter heu­te über­haupt noch der Media­li­sie­rung ent­ge­hen könn­te — es ist ja gar nicht mehr ver­hin­der­bar, dass eine Erfah­rung im nächs­ten Moment schon zu einem media­len Ereig­nis auf You­tube gerinnt.)

  • Postdramatiker sagt:

    Ich stim­me dir zu — und der Weg ist ja auch in den letz­ten 20 Jah­ren began­gen wur­den. Erlaubt man sich die Unschär­fe des his­to­ri­schen Blicks, der die Gerech­tig­keit dem Ein­zel­fall gegen­über zurück­stellt für jene Unge­rech­tig­keit, die Leit­li­ni­en und Ten­den­zen zu eru­ie­ren ver­sucht, könn­te man formulieren:
    Nach­dem Film und spä­ter Fern­se­hen sich an die “dra­ma­ti­sche” Tra­di­ti­on des Thea­ters anlehn­ten, sie auf­nah­men, pro­fes­sio­na­li­sier­ten, ver­fei­ner­ten, dur­ge­ar­bei­tet haben und viel­fäl­tig erneu­er­ten und ver­än­der­ten, ist der Medi­en­kon­su­ment des spä­ten 20. Jahr­hun­derts in die Situa­ti­on gera­ten, durch fik­tio­na­le dra­ma­ti­sche For­ma­te bis zum Erbre­chen gesät­tigt zu wer­den, die wirt­schaft­li­che Macht der Mas­sen­me­di­en sorg­te dafür, dass der Über­fluss am Dra­ma ein­setz­te — und zugleich wur­de das Dra­ma, der Ver­such also ein kon­sis­tent zusam­men­hän­gen­des Hand­lungs­ge­bil­de zu schaf­fen, impor­tiert in di soge­nann­ten Nach­rich­ten­for­ma­te, die unab­läs­sig dar­an arbei­ten, das (z.B. poli­ti­sche) Gesche­hen in dra­ma­ti­scher Form erzäh­le­risch auf­zu­ar­bei­ten. Dar­um gehts ja hier im Blog immer wie­der, um die­se Erzählungsformen.
    Als kri­ti­sche Gegen­be­we­gung lässt sich dage­gen die Frag­men­tie­rung, die Abkehr vom Zusam­men­hang des Anfang-Mit­te-Ende-Dra­mas eben­so ver­ste­hen, wie die Beto­nung der Real­prä­senz im gemein­sa­men Erfah­rungs­raum. (Mit aller Ver­kür­zung, die dar­in liegt, wohl­ge­merkt). Das “Dra­ma” ist tot.
    Was mich aber an dem Brecht-Zitat fas­zi­niert, ist sei­ne toll­küh­ne, nahe­zu grö­ßen­wahn­sin­ni­ge Ges­te des Aufs-Gan­ze-Gehens, das nicht nur Ver­än­der­lich­keit, son­dern Welt in den Blick und das tex­tu­el­le Thea­ter brin­gen woll­te, ohne sich — wir ken­nen Brecht — des Dra­mas zu bedie­nen. Viel frü­her schon sag­te er:
    “Die alte Form des Dra­mas ermög­licht es nicht, die Welt so dar­zu­stel­len, wie wir sie heu­te sehen.” Brecht, Über expe­ri­men­tel­les Thea­ter, 47
    Kann es der Media­li­sie­rung ent­ge­hen? Nun, ich wür­de sagen, Thea­ter müss­te sich mit der “Welt” (im Sin­ne der Luh­mann-Para­phra­se) unter der Vor­aus­set­zung beschäf­ti­gen, dass es eine bereits immer media­ti­sier­te Welt ist. Das, was wir als die Welt und die Gesell­schaft ken­nen, in der wir leben, ist eine durch die Mas­sen­me­di­en beob­ach­tet Welt.
    Du wirst fra­gen: Und wie soll das gehen? Ich habe wie­der kei­ne abschlie­ßen­de Ant­wort für dich, außer den Hin­weis auf den Namen die­ses Blogs, der sich dem bestre­ben ver­dankt, dar­über und dar­an zu arbei­ten, was denn das Post­dra­ma sein könn­te. Und was es heißt, eine “Welt” unter der Bedin­gung der #Media­Di­vina zu den­ken, die Brecht in der gegen­wär­ti­gen Form noch nicht kann­te, nicht weil er das Inter­net noch nicht kann­te, son­dern weil auch das Fern­se­hen 1955 in Deutsch­land nur eine kläg­li­che Vor­ah­nung von dem lie­fer­te, des­sen wir uns heu­te rund um die Uhr aus­ge­setzt sehen.

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