Der Staat – in Person seiner politischen Akteure – hat sich an den im Grundgesetz dargestellten Grundsätzen auszurichten. Danach ist zu handeln. Was dagegen verstößt, wird vom Verfassungsgericht kassiert. Ändern sich die Grundlagen, kann sich auch das politische Handeln ändern. Verlangt das Grundgesetz, dass der Staat für den Schutz der Privatsphäre zu sorgen hat, zählt zur Privatsphäre auch private Daten – so liegt es in seiner Aufgabe, Datenschutzvorsorge zu betreiben. Die Frage ist, ob er diese Vorsorge nur im Hinblick auf seine eigenen Organe zu leisten hat – oder auch gegenüber Dritten wie Unternehmen. Muss der Staat dafür sorgen, dass Unternehmen mit kommerziellen Interessen sich an Datenschutzrichtlinien halten, die der Staat zum Schutz seiner Bürger erlässt? Darf er solche Richtlinien für die Wirtschaft erlassen. Gegenwärtig darf er. Soll er nicht mehr dürfen? Dann gehört das ins Grundgesetz.
Kappes hatte darauf hingewiesen, dass die Macht der elektronischen Massenkommunikation ambig ist: Dienst sie einerseits zum schnellen Austausch untereinander, ist sie durch die bereits beschriebene Speicher- und Suchbarkeit doch zugleich auch ein Machtmittel für Geheimdienste und polizeiliche Stellen, die nunmehr bequem durch automatisierte Monitoring-Software wie Radian6 ganz einfach herausfinden, wer wann wo mit wem welche umstürzlerischen Absichten online geteilt und ausgetauscht hat. In Minutenschnelle lässt sich das virtuelle Revolutionsnetz analysieren, die Top-Influencer identifizieren. Und möglicherweise ausschalten.
Im „Teil 3“ führt Christoph Kappes die Janusgesichtigkeit des Internet an. Es ist eben nicht nur Medium des revolutionären Austauschs. Es ist zugleich die perfekte Überwachungsmaschine. Jede Äußerung wird gespeichert, ist such- und findbar, kann Personen zugeordnet werden. Über Freundschaften können Netzwerke herausgefunden und überwacht werden. Anders gesagt: Hätte „Die weiße Rose“ oder „Die rote Kapelle“ sich des Internets bedient – sie hätten keine Woche überlebt. Dass WikiLeaks Botschaftsdepeschen ans Licht der Öffentlichkeit zerrt ist eigentlich nur ein Treppenwitz, der zeigt, was geheimdienstlich täglich möglich ist und gemacht wird: Die „Privatdepeschen“ von jedermann liegen staatlichen Stellen jederzeit vollumfänglich vor. Der umfassende Blick in die Gedankenwelten jedes Users ist möglich. „Dystopie des digitalisierten Totalitarismus“ nennt Kappes das sehr prägnant. Und die Behauptung „Jaja, aber doch bei uns in Demokratien nicht“ ist so dämlich, wie es schon immer dämlich war zu glauben, man lebe in einem „guten Staat“. Es macht hochgradig Sinn Post und Telefonate durch Grundrechte zu schützen. Nicht etwa weil der Staat böse wäre. Oder weil dereinst ein böser Herrscher kommen könnte. Sondern weil es zu den Grundrechten eines jeden Menschen gehört, vom Staat so lange in Ruhe gelassen und unverdächtig zu sein, wie keine konkreten Anhaltspunkte für einen Verdacht vorliegen. „Der Staat“ ist zunächst weder „gut“ noch „böse“. Er ist das ausführende Organ des artikulierten Wählerwillens. Und da der Wähler und Bürger der Souverän der Demokratie ist, hat der Staat seinen Souverän nicht auszuforschen. Punktum. Wer anderes behauptet, möge sich in die Grundrechte reinarbeiten und zur ewigen Reflexion verdammt werden, warum und wozu es diese Grundrechte gibt. Und wer immer noch glaubt, die „Internetsperrendebatte“ von Zensursula habe nur damit zu tun „unsere Kinder“ zu schützen, der möge sich einfach mit den daraus folgenden Möglichkeiten technischer Überwachungs- und Sperrinfrastrukturen beschäftigen.
Das Netz ist ein Werkzeug für bestimmte Verhaltensweisen, die durch das Netz (und etwa Facebook) technologisch unterstützt und verbreitet werden. Wer kndrprn unterbinden will und deswegen Netzsperren einzieht, könnte genauso gut die freie Presse verbieten, weil auch kndrprn Foos letztlich Druckwerke sind. Kappes – leicht pathetisch klingende – Abschlussfrage zu diesem Punkt:
Wie können wir sicherstellen, dass das Betriebssystem der Menschheitskommunikation auch im Notfall und diskriminierungsfrei funktioniert?
Bürger einer jeden Demokratie müssen sich dieser Frage stellen und das damit formulierte Ziel zu ihrem eigenen machen. Es muss möglich sein, sich auch in digitalen Medien frei über Regierungen, politische Systeme und Politik eine Meinung bilden zu können. Das gehört in den Katalog der Menschen- und Grundrechte. Und Regierungen, Geheimdienste oder andere staatliche Stellen haben dieses Freiheitsrecht zu garantieren. Nicht indem sie eine Garantenstellung dafür übernehmen („Wir sorgen für die Einhaltung der Menschrechte“ – das war niemals Aufgabe einer Regierung. Vielmehr sind die Menschen- und Grundrechte „Abwehrrechte“ der Bürger gegenüber staatlichen Zugriffen. (Ich hatte dazu vor einigen Wochen einen spannenden Artikel, ich meine von Winfried Hassemer, gefunden, den ich jetzt leider nicht wiederfinde. Darin trägt er nachdrücklich vor, dass es nicht vornehmlich staatlicher Auftrag ist, Bürger vor Verletzung ihrer Bürger- oder Menschenrechte durch andere zu schützen. Denn die Bürger- und Menschenrechte werden im Wesentlichen durch Staaten verletzt. Bei Wikipedia etwas differenzierter nach „Generationen“ – was für die gegenwärtige Fragestellung aber nichts Wesentliches ändert, da die grundgesetzlichen Rechte eben doch Abwehrrecht gegenüber dem Staat sind, die dieser durch „Unterlassen“ bestimmter Maßnahmen erfüllt). Sondern indem sie zunächst unterlassen, diese Meinungsäußerungen und Meinungsbildungsprozesse auszuforschen.
Auch Michael Seemann beruft sich auf die Funktion der Grundrechte als „Abwehrrechte“ gegenüber dem Staat. Das heißt: Datenschutz als eine Selbstbegrenzung der staatlichen Organe gegenüber dem Zugriff auf persönliche Informationen. Die sich anschließende Frage aber: Warum sollte der Staat eine solche Konzentration von Macht bei einem Unternehmen dulden? Gerade haben wir uns damit beschäftigen müssen, wie fatal es ist, wenn Privatunternehmen mit einer Finanzfülle und finanziellen Macht ausgerüstet sind, dass sie Staaten oder gar die Weltwirtschaft an den Abgrund taumeln lassen. Warum sollten Unternehmen eine entsprechende informationelle Machtfülle haben dürfen? Und wie lässt sich gewährleisten, dass keiner der beiden zeitweise in der Kippfigur des weißen Ritters auftauchenden Player Staat und Privatunternehmen/Facebook zugleich mit der düsteren Seite ins Spiel eingreifen dürfen?
Es ist ein doppeltes Aufgabenpaket: Einerseits hat das Grundgesetz dahingehend geändert zu werden, dass der Staat daran gehindert wird, regelmäßig und routinehaft auf diese Daten zuzugreifen. Zugleich aber hat er zu regeln, dass keine Machtkonzentration durch die Anhäufung und gleichzeitige Nutzung von Informationen und Daten entsteht. Nötig ist dafür ein gesellschaftlicher Konsens, der dazu führt, dass die Regierung diesen Auftrag des Souveräns umsetzt.
Es besteht hier, was die “Ausforschung” des Bürgers durch den Staat angeht, wohl ein grundlegendes Missverständnis: Wenn darüber gesprochen wird, dass der Staat mit einem Social Media Monitoring Tool wie Radian6 “Ausforschung” betreiben kann und in diesem Zusammenhang die Grundrechte bemüht, suggeriert das unzutreffenderweise, dass mit einem derartigen Hilfsmittel rechtswidrige Aktivitäten entfaltet werden können. Dem ist aber nicht so: Social Media Monitoring richtet sich immer auf uneingeschränkt öffentlich zugängliche Quellen. So kann man z.B. diejenigen Bereiche von Facebook, die von Facebook selbst oder vom Betreiber einer Gruppe oder Fanpage geschlossen worden sind, nicht erfassen. Was soll aber daran auszusetzen sein, uneingeschränkt öffentlich zugängliche Quellen zu ermitteln, auszuwerten, systematisiert darzustellen und daraus für welche Zwecke auch immer Erkenntnisse zu ziehen ? Oder umgekehrt gefragt: Welche Erwartungshaltung hat ein Bürger, der sich auf uneingeschränkt öffentlich zugänglichen Quellen zu welchem Thema auch immer äußert ? Wohl kaum die Erwartung, dass seine Veröffentliichung “top secret” bleiben wird. Im Gegenteil: Mit der Veröffentlichung möchte der Autor/die Autorin doch oftmals gerade eine große oder zumindest gewisse Reichweite erzielen. Wenn das nicht beabsichtigt ist, muss man sich eben einer Kommunikationsbasis bedienen, die nicht öffentlich zugänglich ist. Man kann es auch drastischer formulieren: Wer “Geheimes” austauschen möchte, sollte das nicht gerade an der Litfasssäule plakatieren, sondern sich der Briefpost, Emails oder des Austausches auf geschlossenen Bereichen in Sozialen Netzwerken bedienen. Wer sich in den Social Media demgegenüber uneingeschränkt öffentlich äußert, muss nicht nur damit rechnen sondern will doch geradezu, dass diese Äußerung öffentich wahrgenommen wird. Und der Staat ist nun mal Bestandteil der Öffentlichkeit. Öffentliche Äußerungen werden — faktisch und auch unter rechtlichen Gesichtspunkten — nicht zur “Verschlussssache”, weil der Absender zwar gerne eine bereitere Masse adressieren möchte, aber bestimmte Adressaten eben doch gerne ausschließen würde.
Nein. Lass uns zwei Dinge auseinander halten. Das Tool selbst ist hinsichtlich rechtswidriger Verwendung neutral wie jedes andere “Werkzeug” auch. Ob ich mit einem Hammer einen Nagel einschlage oder einen Kopf ist keine Frage des Hammers sondern des Verwenders.
Die staatliche Überwachung der Konversationen stellt darüber hinaus eine andere Frage. Ich halte Analogien selten für hilfreich, da Vergleiche üblicherweise hinken und mehr Unklarheiten schaffen als lösen. Trotzdem an dieser Stelle ein Vergleich: Menschen, die sich in der Öffentlichkeit bewegen und unterhalten haben ein Recht darauf, dabei vom Staat nicht überwacht zu werden. Politische Versammlungen sind öfffentlich — trotzdem darf der Staat sie nicht routinemäßig überwachen, Protokolle erstellen oder Einzelpersonen daraus profilieren. Das ist erst zulässig, wenn ein begründeter Verdacht besteht, dass die Versammlung selbst oder Beteiligte verfassung- oder rechtswidrige Aktivitäten planen. Was am Ende von Aktivitäten des Verfassungsschutzes oder anderer halb-geheimdienstlicher Aktivitäten seitens des BKA zu halten ist, möchte ich (da es sich um eine Debatte handelt, die durch den hinkenden Vergleich hineinstolpert) hier nicht diskutieren. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass Öffentlichkeit nicht automatisch die Legitimität staatlicher Überwachung und Ausertung der gesammelten Daten einschließt.
Was ich in den letzten Postings gelegentlich als “Kippfgur” bezeichnet habe (oder meinetwegen Janusgesichtigkeit) bezüglich des Netzes, ist die komplexe Herausforderung, die überhaupt zu addressieren und öffentlich zu diskutieren ist: Die einerseits emazipatorische, weltweit kommunikativ verbindende Kraft des Netzes und die Möglichkeit, diese Kommunikationen weltweit zu überwachen. Und da ist die Frage, welche der Rolle der Staat und seine Organe im Netz spielen dürfen, zentral. Muss man bis hin zur Stasi gehen, die in Vorzeiten des Netzes diese routinemäßge Überwachung, Datensammlung, Profilierung betrieben hat, um einen Eindruck davon zu bekommen, was durch eine rechtlich nicht geregelte und eingeschränkte Nutzung von Monitoringtools und die Auswertung der Daten im digitalen Zeitalter haben kann (wiewohl sie für die Stasi natürlich durchaus gesetzlich geregelt und vorgesehen war)? Ich schließe mich der von Kappes dargestellten Dystopie an. Und halte eine Debatte darum, was die Gesellschaft vor einer solchen Dystopie bewahren kann, für unabdingbar. Inklusive verfassungsrechtlicher Aktivitäten, die geeignet sind, diese Dystopie zu verhindern. Der weltweite freie und durch Staaten nicht routinemäßig überwachte Zugang zum Netz und die Möglichkeit des freien Meinungs- zund Gedankenaustauschs darin halte ich für das zentrale Anliegen der kommenden Jahre. Sonst wird das Netz tasächlich zu einem alptraumhaften Überwachungsinstrument — egal ob es sich nur um die Analyse “öffentlicher” Konversationen handelt oder auch geschützte private Informationen (wie bei der “Online-Durchsuchung”) einbezieht.