“Um es im Leben zu etwas zu bringen,
muss man früh aufstehen,
bis in die Nacht arbeiten — und Öl finden.”
J.P.Getty
Bei weissgarnix hatte Hans Huett gestern (hier (Update 2015: Weissgarnix-Blog inzwischen offline)) die Frage gestellt, wer Nachfolger des Geldfälscher als Kaitalverbrecher des Kapitalismus in einer nächsten Gesellschaft wohl Opfer der Hexenjagd- und verbrennung sein wird. Dazu hatte im mich in einigen Kommentaren geäußert, will aber hier noch einmal zusammenhängend und überdacht eine Antwort versuchen, weil mir die Frage enorm spannend erscheint.
Vorab: Ich halte die Rede von der „nächsten Gesellschaft“ für gefährlich, weil sie unterstellt, Geschichte sei eine naturgesetzlich-schicksalhafter Prozess, den es zu ertragen oder durch Prophetie vorherzusehen gäbe. Eine vorwärtsgewandte Historie also (um einen Spruch von Schlegel auf den Kopf zu stellen). Das ist insofern gefährlich, als Zukunft immer das Gesamt der Handlungen und Wünsche der Menschen ist, die realisiert werden (könnten). Sich dem Prozess willenlos hinzugeben, heißt, sich zum Opfer zu machen, wo noch gar keine Opfer gefragt sind. Oder einem Charismatiker die Tür zu öffnen, der nichts anderes verspicht, als den scheinbaren Zaubertrick zu beherrschen, das naturgesetzliche Schicksal durch Willenskraft bändigen zu können, als sei es ein wildes Pferd. Tatsächlich ist es noch immer die gemeinschaftliche Anstrengung, die Meinungsbildung und gemeinschaftliche Willensdurchsetzung durch Beauftragung einer Regierung (und heiße sie Merkel), die die Zukunft gestaltet und darüber entscheidet, ob es eine nächste Gesellschaft gibt und wie sie aussehen wird.
Zweitens vorab: Ich glaube, dass die Rede vom Kapitalismus – so sehr sie volkswirtschaftlich, gesamtwirtschaftlich, finanzwirtschaftlich noch Wichtiges in den Blick zu nehmen vermag – gesellschaftskritisch ausgedient hat. Wer die Begrifflichkeiten noch aufrecht erhält, versucht den Begriff des Reichen unter den des Kapitalisten zu schieben. Der klassische Kapitalist als der Besitzer der Produktionsmittel, der die Mehrwertproduktion in seine Taschen und sein Geldvermögen umzuleiten versteht, ist außerhalb des Mittelstandes weitestgehend ausgestorben. Ebenso der Proletarier. Beide Seiten haben sich aufgespalten: Der Kapitalist in die Aktionärsgemeinschaft der „Besitzer“, die recht eigentlich Mieter des Unternehmens sind und für ihre Miete entlohnt werden durch Steigerung des Wert des Mietgenussscheines sowie durch Dividende, und in den Manager, der das Unternehmen leitet, aber es nicht besitzt sondern dort angestellt ist wie der Pförtner. Andererseits hat das Proletariat sich aufgespalten in die Arbeitenden und die Arbeitslosen (was der Arbeitnehmervertretung massivste, ungelöste Probleme bereitet). Und der besitz von Reichtum hat nicht mehr unbedingt mit dem Besitz von Produktionsmitteln zu tun.
Zurück zur Frage nach der Hexenjagd: Wenn nun der Geldfälscher in der kapitalistischen Gesellschaft, die Kapitalbesitz zu ihrer „Wahrheit“ erklärt als Hexe jagt, weil er diese Wahrheit zur Lüge macht – dann ist die Hexe der gegenwärtigen Gesellschaft nicht zu übersehen. Die gegenwärtige Gesellschaft ist nahezu religiös vom Leistungsdenken geprägt. Die Nachfolge des statischen Besitzes ist die performative Besitz des „Vermögens“ als Können, Wissen, Erfahrung. Aus der Kapitalgesellschaft wird die Leistungsgesellschaft. Die Besitzgesellschaft wird Dienstleistungsgesellschaft und Wissensgesellschaft. Der Hochleister ist derjenige, der hohe Einsatzbereitschaft und höchste Kompetenz (vgl. Boltanski/Chiapello) mitbringt. Die Gesellschaft misst sich in Leitungsgrößen. Um nochmal die Metapher oder Katachrese der gestrigen Kommentare zu bemühen: Der Leistungssport ist das symbolische Wahrbild dieser Gesellschaft, die zu verbrennende Hexe der Dopingsünder, der sich eine Leistung erschleicht oder sie fälscht (nämlich das Training, das nicht eingesetzt wurde, um zu diesem Vermögen zu kommen).
Aber wer ist nun die gesamtwirtschaftliche Hexe? Es mag verblüffend sein – sind es doch mehrere: Der Dopingsünder, der Drogenhändler, der Boni-Banker, der Spekulant und der Hartz IV-Empfänger. Sie alle haben gemeinsam, zu genießen ohne angemessen zu leisten. Aber eins nach dem anderen.
Der Grundsatz der Leistungsreligion lautet: Wer sich etwas leisten will, muss etwas leisten. Dein Vermögen hängt einzig von deinen Vermögen ab. Punkt. Lerne, studiere, sammle Erfahrungen – das zahlt sich aus. Wer nichts hat, der scheint nichts zu leisten, nichts zu können – oder einfach nicht zu wollen. Der Verdienst bemisst sich an den Verdiensten. Das ist natürlich eine komplette Blödsinnigkeit – führt aber etwa dazu, dass die Masse der Arbeitnehmer es angemessen findet, das eigene Gehalt an den eigenen Leistungen zu messen und zu bemessen. Und zwar „gerecht“ – eine neuerliche Dummheit sondergleichen, die nur durch Religiosität erklärt werden kann. Denn wer wollte den Gerechtigkeitsmaßstab angeben.
Als wäre überhaupt irgendein Preis „gerecht“. Der Preis wird ausgehandelt – mal profitieren beide Seiten mehr oder weniger. Mal gewinnt einer von beiden mehr als der andere. Aber natürlich sorgt der permanente Gerechtigkeitsvergleich zum permanenten Erneuern des Leistungsmantras – denn die einzige zulässige Argumentation hinsichtlich des Gehalts ist diejenige, es sei nicht leistungsangemessen. Bereits die simple Tatsache der Inflation führt nun dazu, dass der Arbeitnehmer in regelmäßigen Abständen um mehr Gehalt nachsuchen muss – das aber nur durch mehr Leistung begründbar ist. Also wird er – nur um den Mechanismus der Inflation auszugleichen – mehr leisten müssen. Und im nächsten Jahr wieder. Im übernächsten. Ein feines Hamsterrad. Das ist die Leistungsgesellschaft. Jedes Jahr ein neuer Rekord. Webers protestantische Ethik zur Weltreligion erhoben. Das „Wunder“ dieser Religion ist der Lottogewinn. Der Gnadenbeweis die allabendlich verkündete Dachsbewegung, die Exportquote usw.
Zurück zu den Hexen – die jetzt ganz klar stehen: Der Banker, der Spekulant, der Hartz IV-Empfänger. Wobei die Hexenzuschreibung nach Bevölkerungsgruppe variiert. Aber jede Gruppe hat ihre Hexe in der Leistungsgeesellschaft. Und es treffen sich in dieser Ideologie sogar Turbokapitalismus und Sozialismus, die sich imerhin darin einig sind, dass Minderleistertum inakzeptabel ist. Der Held der Werktätigen ist nicht der Müßiggänger, sondern der Soll-Übererfüller. Für beide.
Und sie beide blicken auf den angestellten Manager, der verdächtig ist, nicht in dem Maße zu leisten wie er verdient, der ungerechte, unangemessene Boni verdient und dafür auf den Scheiterhaufen gehört. Insbesondere wenn er gescheitert ist. Wenn also das Leistungsergebnis nicht stimmte. Es ist der Hartz IV-Empfänger, der erntet ohne zu säen. Der genießt ohne zu arbeiten. Der bekommt ohne zu geben und zu leisten. Wobei die Differenz eingezogen wird, dass auf den Scheiterhaufen nur gehört, wer „nicht leisten will“. Das wäre die zweite Hexengruppe. Die dritte sind die Turbospekulanten, die nun gar nichts, aber auch gar nichts leisten und denn unendliche Summen durch „Schlauheit“ verdienen.
Und es sind die Dopingsünder und diejenigen, die die Dopingsünder unterstützen und sich daran bereichern. Die Drogenhändler, die leistungsfördernde (Extasy, Speed, Koks, Provigil) Drogen verkaufen oder Leistungsfolgendmindernde Substanzen (Valium, Hasch, Morphine, Prozac, SSRI, Ritalin). Die Leistung muss ohne Zufuhr von Substanzen erfolgen, die als „Shortcut“ wirken könnten. Die den leistenden gegenüber seinen Kollegen leistungsfähiger machen, ohne dass er sich dafür gequält hat.
Das ist die Gegenwartsreligion, das sind die Hexen der Gegenwartsreligion, der Helden die Übersportler sind (und mögen sie dafür noch soviel Geld bekommen – im Gegensatz zu den Bankhexen wird’s ihnen gegönnt).
Ich fände es gut, wenn der Beitrag ins weissgarnix-Forum gestellt wird.
Gruß
HAM
“Der Verdienst bemisst sich an den verdiensten.” Das das natürlich Massivideologie ist: siehe Econophysic.
@ HAM — nichts dagegen. könnte allerdings die debatte nur sehr sporadisch verfolgen da tagsüber im brotjob.
@ siggi — “massivideologie” oder eben religion … ecoophysic sagt mir leider nichts. wasn das? (btw. den von dir gepasteten tipper erlaube ich mir zu korrigiren — performathalber…)
Gefühlt eher Ideologie im Sinne Marx/Mannheim etc. Damit lässt sich ja jut steuern ;-)
Econophysic: hab vor hundert Jahren dazu mal was gebloggt. Rauskram… http://www.siggibecker.de/blog/archives/2005/04/kolkata-econophysik-entropie-einkommen/
Fieses Zeuch. Passt meines Erachtens gut in die Beweisführung. Ohne Gewähr.
Und um genau diesen econophysischen Verdacht zu bekämpfen, müssen von Zeit zu Zeit Hexen brennen. Symbolische Opfer müssen die Gültigkeit des Verdienst-Verdienst-Gesetzes bezeugen. Das Leiden der Hartz IV Empfänger muss ihren Stand der Sünde augenfällig machen. Treffende Ergänzung, in der Tat.
„Der Leistungssport ist das symbolische Wahrbild dieser Gesellschaft …“
Ja, aber eben NICHT einer Leistungsgesellschaft, sondern „Gewinnergesellschaft“.
Nur die Gewinner werden honoriert, alle andere, welche auch geleistet haben, gehen leer aus.
Infofern das Abbild eines Unternehmens, wo die Differenz im Lohn zwischen Managern und Mitarbeitern auch nicht proportional zu deren Leistung ist.
Der Sport symbolisiert und transportiert die LeistungsIDEOLOGIE.
Als Kronzeugen der Möglichkeit des Unmöglichen dienen dann auch immer die heroischen Selfmadeaufsteiger, mit ihrer, wie Heitmeyer (Deutsche Zustände) in einer WDR-Sendung anmerkte: Gnadenlosen Grundhaltung allen gegenüber die ES nicht geschafft haben. Da liegt meines Erachtens auch eine Argumentationslinie die WGN in dem Loveparadeabstecher übersehen hat: Schaller/Sauerland/etc sind ja Typologien die, wenn es klappt unter dem Signum “Macher”, Entenpenöhr, uns täglich überall verfolgen. Wenns nicht klappt… nun ja — Gazetten und Blogs bersten vor Kreativität um das Scheitern am Risiko abzustrafen.
@ HAM — völlig d’accord. Nennen wir es die bildliche Selbstbeschreibung, die die Mitglieder für die Gesellschaft akzeptieren. Zudem ist das “Schöne”, dass es eben keinen trennenden Maßstab zwischen genug/nicht genug gibt. Es muss immer einer gewinnen — und alle anderen Verlierer sein. Das ist enorm praktisch …
@ siggi — the winner takes it all, the loser gets Hartz IV. Dass die Medienöffentlichkeit diese geschichten als Geschichten erzählt und eben an dieser gesellschaftlichen Selbsbeobachtung als stellvertretender Beobachter teilnimmt und sie dabei — unausgesprochen — konstituiert, finde ich einen enorm spannenden, priesterlichen Prozess.
Right. Bin auch fasziniert. Aber an den ideologischen Subtext wird sich niemand ranwagen…
Warum nicht?
Der Held der Werktätigen ist der „Gewinner“. Ob durch persönliche Leistung oder nicht, das interessiert ihn nicht.
So entwickelten die Werktätigen auch keine Aggressionen gegen den Playboy Gunter Sachs, denn der war durch Erbschaft zum glücklichen Gewinner geworden. Auch nicht gegen Susanne Klatten. Etc.
Die Manager oder Bankster hingegen werden häufig als Diebe und Betrüger identifiziert. Denn die haben noch nicht einmal persönliches Vermögen riskiert, sondern nur die Aktionäre, Mitarbeiter oder Anleger übervorteilt.
Auch der Lotto-Millionär wird akzeptiert, denn der ist durch Fortuna begünstigt worden.
Der Verlierer wird von den Werktätigen nur als tragischer Held akzeptiert, wenn er zuvor etwas riskiert hat. Oder er einen besonderen Schicksalsschlag erlitten hat.
Hingegen ist der Hartz IV-ler den Werktätigen zu nahe, weil gewissermaßen deren Spiegelbild. Da müssen sie den Mythos der persönlichen Leistung beschwören, weil sie selbst daran glauben, dass ihre persönliche Arbeitsleistung es ist, welche sie vor dem Hartz IV-Schicksal schützt.
So läuft der Abwehrmechanismus der projektiven Gegenidentifikation, in dem das Hartz IV-Schicksal als Folge persönlicher Minderleistung umgedeutet wird.
Kein komplettes Desinteresse — akzeptables Gewinnertum ist der Lottogewinner und der Mehrleister. Der Werktätige ist durchaus willens und bereit, gegen “Banker-Boni” auf die Straße zu gehen, wenn er das Gefühl hat, es sei “unverdienter Verdienst”. Die Bank-Hexen müssen brennen. Ebenso die HartzIV-Empfänger, die im Gegenzug für das spärliche Geld, das sie erhalten, als Leidensfiguren aufzutreten haben. Banker hingegen dürfen erst wieder als geläuterte Paulusse in Talkshows auftreten. Dann auch gerne als Kommerzkritiker. Das universale Leistungsgesetz wird dadurch nur umso fester betoniert.
Wobei ich überlege: Die eigentlichen hexen sind vermutlich diejenigen HartzIV-Empfänger, die jedem erzählen, das sei das bestmögliche Leben, Arbeit sei sch*** und alle, die arbeiten gehen, blöd. Vermutlich sind das die wahren Hexen.
„Die eigentlichen Hexen sind vermutlich …“
Da stellt sich die Frage nach der Empirie.
Wer sind konkret jene Menschen, welche negative soziale Affekte auf sich ziehen und zu beliebigen Aggressionsopfern werden?
Spontan fallen mir – insbesondere türkischstämmige — Ausländer, Farbige, Prostituierte, Obdachlose und Kinder ein. Die werden zu Opfern, ohne dass zum einen irgendeine persönliche Beziehung zwischen Täter und Opfer bestand und ohne dass irgendwelche ökonomischen Motive hineinspielen.
Gerade die Motive der Kinderschänder und Kindermörder sollte man einer genaueren Analyse unterziehen.