Ich fürchte, die Zeit für „mal ausprobieren“, von der Frank Kroll schreibt, läuft ab. Es geht eher darum, neue Möglichkeiten entschlossen zu ergreifen, um Theater die Kraft (wieder) zu geben, die es hatte oder haben könnte. So menschlich verständlich es ist, dass das Führungspersonal nach jahrzehntelanger Belagerung durch Budgetsparer und Etatkürzer Ermüdungs- und Verschleißerscheinungen zeigt, so inakzeptabel ist es für die Institution und Kunst des Theaters. Es kann nur die Macht der Gewohnheit sein, die den Blick für den Dornröschenschlaf verschleiert, in dem Theater sich befinden. Und der, in dieser Form fortgesetzt, allmählich und unbemerkt in einen Big Sleep übergeht. Es ist eben nicht edler, die Pfeil und Schleudern des Geschicks zu dulden, sondern sich zu waffnen gegen diese See der Plagen und durch Widerstand sie zu beenden. Welchen Weg der Widerstand einschlagen soll – das mag jedes einzelne Theater für sich entscheiden. Nur Widerstand gegen Kameralisten zu leisten aber heißt, die Kräfte auf die falsche Flanke zu konzentrieren. Hier ist nichts zu gewinnen. Schon gar nicht durch späthoneckerhafte „Theater muss sein“ Aufkleber auf Autos.
Die Belagerungssituation entsteht ja nicht etwa aus übermächtigen Gegnern, sondern sie ist selbstgemachter Unbeweglichkeit geschuldet. Allerdings gemischt mit dem fehlenden Blick für mögliche Allianzen – und dazu zähle ich eben die Schreiber (formerly known as Autoren). Nicht in der Form einer Wiedereinsetzung der Autorenherrschaft. Darüber sind wir hoffentlich hinweg. Die Frage beantworten zu wollen, ob die Bühne dem Text oder der Text der Bühne dienen muss, ist eine Zeitverschwendung, die sich Theater in einer Situation allmählicher Auszehrung durch Relevanz- und Kraftverlust einerseits, Mittelkürzungen, Sparten- und Häuserschließungen oder Zusammenlegungen andererseits nicht mehr leisten kann. Ich fürchte, wenn sich nicht grundlegendes ändert, werden wir in wenigen Jahren die berühmte deutsche Theaterlandschaft nicht mehr haben. Dann wird es noch ein paar Großstädte geben, die sich Theater als Touristenmagneten leisten. Und mehr nicht. Ist das Schwarzmalerei? Mag sein. Aber gelegentlich sind schwarze Umrisslinien ganz hilfreich, um die im Grau-in-Grau verborgen liegenden Gestalten und Formen erkennbar werden zu lassen.
Der faktische Ausschluss der Schreiber aus der theatralen Kunstproduktion ist für beide Seiten mehr als unbefriedigend: Die Schreiber produzieren auf eigene existenzielle und finanzielle Rechnung Texte, die gar nicht oder nicht in dieser Form von Theatern gewollt werden. Und Theater auf der anderen Seite beklagen sich, dass sie nicht die Texte bekommen, die sie gerne hätten. Nur der explizite oder unausgesprochene Streit, wer wessen dienende Magd zu sein hat, hindert daran, zu einer anderen Form der Zusammenarbeit zu finden. Dabei ist die Antwort so simpel wie nur etwas: niemand dient dem anderen, beide dienen einer gemeinsamen Idee. Mit unterschiedlichen Mittel und Werkzeugen für einen gemeinsamen Zweck.
Ja, aber wie?
Allerdings ist es mit einem „na dann stellen wir halt drei Schreiberlinge ein und machen ansonsten weiter wie bisher“ nicht getan. Das kann man genauso gut bleiben lassen. Das Weitermachen wie das Schreiber-einstellen unter diesen Vorzeichen. Ein Weiterso-Theater kann sich die Gesellschaft nicht leisten – und das meine ich nicht im finanziellen Sinne. Falls jetzt der Eindruck entsteht, ich würde die Möglichkeiten von Theater in der Gesellschaft überschätzen, halte ich dem entgegen: Das ist kein Freibrief die Möglichkeiten von Theater dermaßen zu unterschätzen, wie es gegenwärtig Gang und Gäbe ist. Ziel von Theater, insbesondere von Theaterleitung, ist nicht, die Plätze möglichst gut auszulasten. Die Zielfrage lautet vielmehr: Wofür lohnt es sich, die Plätze auszulasten? Das Quantitative folgt dem Qualitativen, nicht umgekehrt.
Die inhaltliche Dimension
Was wären denn thematische Such- und Arbeitsfelder. Ein kurzes Brainstorming dazu, das keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, im Gegenteil: es stellt vermutlich nur einen Minimalausschnitt der Möglichkeiten dar.
Militarisierung
Seit nunmehr 20 Jahren arbeitet die deutsche Politik kontinuierlich daran, den Satz, dass vom deutschen Boden nie wieder Krieg ausgehen dürfe, umzuinterpretieren, aufzuweichen, ins Gegenteil zu verkehren. Deutsche Bomber über Jugoslawien, Deutsche Elitetruppen am Hindukusch, die deutsche Kriegsmarine vor Afrika. Kein Thema?
Massenmedialisierung
Spätestens seit Anfang der 80er Jahre das Privatfernsehen Einzug in Deutschland gehalten hat, hat die Welt sich verschoben zu einer Medienwelt. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ schrieb Luhmann. Diese Veränderung des Weltverhältnisses und in dessen Gefolge notwendigerweise des Menschen(bildes) – kein Thema?
Digitalisierung
Seit 20 Jahren sorgen vernetzte und digitale Medien dafür, dass die Lebens- und Arbeitswelt völlig umgekrempelt wird. Kommunikation und Information sind omnipräsent, zugleich verschiebt die das Verhältnis menschlicher Gegenwart und Abwesenheit dramatisch. Netzpolitik ist diejenige Politik, in denen in den nächsten Jahren die wesentlichen und wichtigsten Entscheidungen fallen, die die Themen der bürgerlichen und demokratischen Freiheitsrechte fundamental betreffen. Keine Ahnung? Kein Thema?
Europa
Vor gut zweihundert Jahren entstanden die stehenden Bühnen unter anderem aus der deutsch-nationalen Bewegung, die allerdings nichts mit dem Deutschnationalen der Gegenwart gemein hat (oder vielleicht doch?). Europa hingegen überlassen wir den Wirtschafts- und Finanzpolitikern. Gibt es keine kulturelle oder künstlerische Vision, oder wenigstens eine mögliche Haltung zu einem transnationalen politischen Gebilde, wie es Europa ist. Ist Opa Schmidt der Einzige, von dem glaubhaft vernommen werden kann, dass Europa nach dem zweiten Weltkrieg mehr und anderes sein sollte und noch sein könnte, als ein gemeinsamer Währungsraum? Kein Thema?
Arbeit
Das Thema Arbeit scheint Theatern grundsätzlich völlig fremd zu sein. Was eigentlich ist an melancholischen Liebesgeschichten von Mittzwanzigjährigen so viel interessanter, als das Thema der Arbeit als Weg des Menschen, Subjekts, Bürgers usw. zu sich selbst einerseits, Weg in die Abhängigkeit, Ausbeutung andererseits? Kein Thema, die Arbeit? Kein Arbeitsfeld, das Feld der Arbeit?
Demokratie
Noch immer lassen sich Spielpläne mit Königsdramen, Bühnen mit Prinzen und Prinzessinnen, Grafen, Herzögen, Marquisen füllen – aber wo sind, und ich werde nicht Müde, diese Frage zu stellen, die Kanzlerdramen? Sind Bismarck, Brüning, von Papen, Hitler, Adenauer, Brandt, Kohl, Schröder, Merkel kein Thema? Ist Demokratie kein Thema für Theater? Hat man im Theater den Einzug der Demokratie in der Umwelt übersehen? Ist er uninteressant? Wenn es eines Beweises bedürfte für die Behauptung, dass Theater noch nicht einmal im 20., geschweige denn im 21. Jahrhundet angekommen ist, dann sicherlich dieser, dass Demokratie kein Thema ist.
Wirtschaftswandel
Seit nunmehr 30 Jahren wird gehandelt vom Wandel der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. Mal davon gehört? Mal darüber nachgedacht, wie sich eine Gesellschaft verändert, wenn aus der Selbstverwirklichungsideologie, die das Selbst im Werk verwirklicht wird, eine Gesellschaft wird, in der ein jeder jedes Diener ist? Die aus Friseuren, Pizzalieferanten, Bankern, Huren, Beamten besteht, anstatt aus Werktätigen? Und die sich zunehmend zu einer Gesellschaft der Freiberufler und Selbständigen wandelt, in der der knechtende Arbeitgeber zugleich sein geknechteter Arbeitnehmer ist? Kein Thema? Ich denke, Schauspieler sehen das in Kantinengesprächen ganz anders.
Theater im wissenschaftlichen und massenmedialen Zeitalter
Isolierte Einzelschreiber, die zudem noch einen großen Teil ihrer Zeit dafür verwenden müssen, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen, die sie die Tinte und das Papier, die Rechner und Drucker bezahlen lässt, können die Auseinandersetzung mit diesen Themen nicht satisfaktionsfähig leisten. Denn jeder Schreiber muss heute vor allem erst einmal Leser sein. Im szientistisch-massenmedialen Zeitalter der Gegenwart scheint alles schon aufgearbeitet und durchdrungen, sind die Argumentationslinien sogenannter Experten so geschlossen, dass sie zu durchdringen oder anzugreifen zunächst weitläufige Beschäftigung mit Diskussionsständen voraussetzt, um sich nicht dem berechtigten Vorwurf der Ignoranz, Dummheit auszusetzen, oder sich durch genüsslich vorgetragene „Fach“-Argumente aus dem Feld schlagen zu lassen. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass einige dieser Veröffentlichungen auch als Inspirationsquelle dienen können – dafür aber gilt es zumeist, sich bis in die Winkel wissenschaftlicher Heterodoxie oder in massenmediale Randbereiche vorzuwagen. Die Zeit will erst einmal gehabt sein!
Selber kochen!
Als dramaturgischer Spielplaner würde ich mich schämen, in den Convenience-Supermärkten der dramatischen Tradition einzukaufen und hinterher zu behaupten, daraus würde zeitgemäße künstlerische Ware aufgetischt werden. Mit den Tütensuppen aus dem Hause Shakespeare, Goethe, Schiller, Tschechow lässt sich nichts Heutiges zaubern. Es gibt keine kreative Küche mit Maggi Tütensuppe. Würde es doch bloß Küchenchefs oder Kochprofis geben, die durch die Dramaturgien fuhrwerken und dieses gesamte dramatische Junk-Food und die Fertigware einfach entsorgten. Das Ignorieren von Zubereitungsanweisungen und Serviervorschlägen hat nichts mit Kreativität zu tun. Und ein kritisch-künstlerischer Umgang mit der Gegenwart ist damit ausgeschlossen. Sich dabei ins Bockshorn jagen zu lassen von der titanischen Übermacht der kanonischen Texte der Tradition ist feige und fällt hinter jedes „sapere aude“ weit zurück.
Ein Pollesch aber und eine Jellinek sind zu wenig, um all das zu stemmen, was zu stemmen wäre. Und so lange technisch kein Klonen solcher Schreiber möglich ist, solange zudem Solitäre von ähnlicher Brillianz, Intelligenz und Sprachmacht rar gesät sind, so lange ist das Kollektiv der beste Weg weg von den Tütensuppen.
Selbst die alten Tütensuppen wollen allerdings gelesen sein – wer Dramen schreiben will, muss das Drama nicht neu erfinden. Vielleicht lassen sich die Rezepturen der alten Klassiker wieder verwenden und mit neuen sprachlichen Ingredienzien auffrischen. Warum neue Plots erfinden, wenn die vorhandenen noch ganz tauglich als Rezeptvorlagen sind? Dazu gibt es keinerlei „state of the art“. Wer für Theater zu schreiben beginnt, kann sich auf keinen ästhetisch-handwerklichen Reflexionsstand beziehen. Es gibt ihn nicht. Ein paar Bücher zur Form des Dramas, die ganz tauglich sind. Aber keinen echten Diskurs, keine Diskussion, keine Form- und Stillehren, aus denen zu lernen, an denen sich abzuarbeiten wäre. Jeder Schreiber beginnt bei der Neuerfindung des Rades. Und kann das Scheitern schon absehen – zumal wenn die Sicherung des Lebensunterhalts es ausschließt, erst einmal eine Reihe von Fehlversuchen unbeschadet hinzulegen. A fortiori wenn die Isolation des Schreibers dazu führt, allzu lange ein im Ansatz totes konzeptionelles Pferd zu reiten.
Alle am Stadttheater beteiligten Kräfte werden mit Beginn einer Produktion bereits finanziell entlohnt und abgesichert. Kein Schauspieler probt unbezahlt (ich bin schon auf Kommentare gespannt, die ungeheuerliche Entwicklungen am heutigen Stadttheater aufdecken – für ausgeschlossen halte ich es nicht), kein Kostümbildner stellt Kostüme auf eigene Rechnung her, kein Regisseur lässt sich darauf ein, eventuell nach der Premiere eine Entlohnung in unbekannter Höhe zu erhalten. Dem Schreiber wird hingegen die volle Wucht der Marktwirtschaft auf die Schultern geschubst: Schreib mal schön fertig, dann schauen wir, obs gespielt wird und wieviel du bekommst. Und glaube bloß nicht, du könntest sicher sein, dass die Entlohnung den Lebensunterhalt während der vergangenen oder nächsten Text-Produktionszeit deckt. Wie realitätsfern müssen Theaterleute sein, um zu glauben, dass unter diesen Bedingungen satisfaktionsfähige Texte entstehen? Immerhin kann man ja zur not noch immer auf die Tütensuppen zurückgreifen. Die Regale sind ja voll.
Die organisatorische Dimension
Es reicht nicht aus, ein paar Schreiber zum alten Betrieb zu addieren. Um die neuen Themenwelten und die neuen Möglichkeiten anzugehen, um das Publikum der Gegenwart zu faszinieren und wieder der gesellschaftliche Magnet zu werden, stehen grundlegende organisatorische Änderungen auf dem Plan. Und vor allem steht die Planung zur Disposition. Was das heißt – dazu mehr im nächsten Posting.
Die Diskussion, die Du hier anschiebst, wird hoffentlich breit fortgeführt. Sie ist sehr wichtig. Vielleicht beteiligen sich ja auch mal ein paar Stimmen aus den Theatern. Zu wünschen wär’s.
Zwei Nachfragen oder auch Kritikpunkte habe ich:
Zum einen frage ich mich, wie denen zu begegnen ist, die Deine Meinung nicht teilen, dass die Zeit abläuft (damit steht und fällt die behautete Notwendigkeit). Ich teile grundsätzlich Deine Meinung, auch wenn ich nicht ganz so pessimistisch bin. Aber wie überzeugt man diejenigen, die Theater machen, und vor allem diejenigen, die im Hintergrund Theater verwalten, davon, dass Deine Hinweise mehr sind als das alltägliche Krisengerede, dem man schließlich ohne Umschweife Müllers “Theater ist Krise” entgegenhalten kann.
Zum anderen: Warum verbindest Du Deine strukturelle Programmatik mit ästhetischen Forderungen. Warum der Verweis auf Pollesch und Jelinek? Warum Themen, die angeblich anstehen. Ich könnte mir’s leicht machen und sagen, die meisten genannten Themen hat Richter schon vor mehr als einem Jahrzehnt in “Peace” verhandelt. Aber darum geht’s nicht. Ich denke, Deine Forderungen sind struktureller Natur, die sollte man nicht inhaltlich mit ästhetischen und inhaltlichen Forderungen kombinieren, sondern lieber einem Theaterkollektiv überantworten, wenn’s dann da ist.
“Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen” — Karl Valentin. Insofern ist natürlich auch die Zukunftsmalerei für Theater jedenzeit nur so valide, wie der Glaube, den man der Prognose schenkt. Trotzdem denke ich, dass sich doch einige Anzeichen dafür zeigen, dass Theater nicht qua Bestand schon das Weiterbestehen gesichert ist. Ob man sich dem anschließt oder nicht — das bleibt letztlich jedem selbst überlassen.
Zum zweiten Punkt: Auch die Aufzählung von Autoren ist nicht abschließend — jede Hinzuaddition ist willkommen, ändert aber an dem strukturellen Thema nicht wirklich etwas. Auch die Themenaufzählung ist Ergebnis einer Verfertigung von Gedanken beim Schreiben. Andere Themen? Selbstverständlich. Mir geht es letztlich in diesem Posting darum, dass sich mehr szenische Kraft entfalten lässt, wenn man sich mit Schreibern zusammentut.
Dennoch sind die Themen auch nicht gänzlich willkürlich gewählt. Wenn man Theater eine gesellschaftliche Position oder Funktion zuschreibt (das tue ich au Überzeugung), dann sind dies Themen, die die Gesellschaft umtreiben oder noch mehr umtreiben müssten. Und die die Bündelung der szenischen Kräfte sehr gut vertragen könnten. Eine Meinung.