Welt wird nicht reproduziert im technischen (Fernseh-)Zeitalter, verliert auch nicht ihre Aura. Sie wird vielmehr zitierbar – und verwandelt dabei, wie es jedes Zitat tut, die zitierte Welt in eine Autorität. Auratizität. Und produziert zugleich eine bedeutungslose Welt.
Fernsehen ist nicht (allein) auf die Signifikanz sprachlicher Zeichen angewiesen, die immer schon unter dem Vorzeichen der Abwesenheit stand und nur die vormalige Anwesenheit des Schreibers als schriftliche Spur der Geschrieben-habens bzw. Geschrieben-Seins durch … andeutungsweiser verbürgt. Fernsehen kann die Signifikanz nutzen – und tut es in dem Maße, wie es darum geht, die Abwesenheit in das Anwesende des Bildes hineinzubringen. Wo es also etwa darum geht das Abstrakte, Ideale oder Ideelle ins Bild zu bringen, ohne es sichtbar zu machen, es also aufzuladen.
Fernsehen erfüllt zudem den Traum der an der Unzulänglichkeit sprachlicher Kommunikation seit alters Verzweifelnden, mit Dingen sprechen zu können, die zu Zeichen ihrer selbst in der Abbildung werden. Nennen wir diese Funktion die referentielle Funktion, in der das Zeichen auf das zeigt, von dem es redet und in der es selbst zugleich zeigt, wovon es redet. Es weist nicht nur auf das Gezeigte wie der ausgestreckte Zeigefinger. Sondern es weist das Gezeigte zugleich auf als Bild. Und dieses Bild oszilliert nunmehr unaufhörlich zwischen dem Status, Zeigendes und Gezeigtes zu sein.
So wie das Zitat zugleich Ausschnitt aus einem anderen Text und präsentierter Einschub in einen Text ist, einerseits auf seine Herkunft verweist (jedenfalls sofern die Regeln guten, etwa wissenschaftlichen Zitierens, angewandt werden) und gleichzeitig im zitierenden Text als Teil steht, zugleich also dort ist und hier, so ist das Fernsehbild als Zitat zugleich Verweis auf ein Dort und Hier, als es zugleich Nachbild jenes Herrschers dort (und vor allem auch: damals) und Herrscherbild hier (und jetzt) ist. Der Kameramann geht „da“ hin, damit das, was er sieht, hier ist. Und spätestens auf der Ebene der Netzhaut des Wahrnehmenden beginnt, die theoretisch hergestellte Differenz von „da und damals“ und „hier und jetzt“ zu verschwimmen und zu verlöschen.
Das Da-Bild ist überall hier, wo das Da im Bild zitiert und das Bild präsentiert, zur Präsenz, zum Prä-Sensus gebracht wird und das Damals-Bild ist sowohl (potenziell) immer, als auch (aktuell) gerade jetzt – eingeschränkt nur und so lange, wie die Minderzahl der Kanäle des Fernsehens dafür sorgt, dass nicht alle Da-Bilder parallel hier, nicht alle Damals-Bilder gleichzeitig jetzt hier und jetzt sein können, sondern redaktionell ausgewählt werden müssen. Der Zuschauer ist ein potenziell alles-jetzt-Seher.
Sofern aber das im Rahmen des Fernsehers eingekastete Bild sich von der Umgehung des Fernsehers unterscheidet, einen Bruch, eine Differenz markiert, die etwa durch die Ein- und Ausschaltbarkeit des Fernsehbilds noch bestärkt wird, die als operative Rahmung gleich dem Rahmen des Kastens dient, so lange behält das Fernsehbild noch einen Rest an Zeichenverweisung. Solange also nicht das Sendebild direkt auf die Retina projiziert wird und für den Zuschauer unabschaltbar und unumschaltbar wird, er also nicht umhinkäme, es für einen cartesischen Traum hinzunehmen, an dem er nur Zweifel, aus dem er aber nicht mehr erwachen könnte, so lange erhält und bekommt es für ihn einen Rest des Zitates einer Welt dort und damals, die jetzt und hier durch referenzielle Zeichen vorgeführt, durch signifizierende Kommentare erhöht wird – und sorgt damit dafür, dass die Welt im Zeitalter ihrer technischen Referenzierbarkeit als Zitierte zur Autorität jenseits der banalen Umgebungswelt des Fernsehkastens wird. Eine Welt, die sowohl durch die bewusste Auswahl des Sendebildes als bedeutend markiert und durch den Kommentar mit Bedeutung aufgeladen wird. Eine Welt, die der Zuschauer anders sieht, als jene unbedeutende (weil nicht ausgewählte) und bedeutungslose (weil unkommentierte) Welt um ihn und den Fernseher herum und dazwischen. Die Fernsehwelt ist aufgeladen mit jener Aura der Bedeutung, deren Fehlen in der Welt um den Fernseher herum umso schmerzlicher als Entzug sichtbar wird, wie sie im Fernseher präsentiert wird.
Ich finde diese Gedanken hoch interessant, insbesondere dass in der unvermeidlichen Auschnitt-Auswahl der Keim dazu liegt, dass die Bilder “Autorität” bekommen, also für wichtig und wichtig machend gehalten werden.
Ich hätte nur 3 Fragen.
(1) Die Zitierbarkeit des Anblicks der Welt ist ja schon dem Foto eigen, später auch dem Film. Wo ist die Differenz zum Fernsehen?
(2) Bedarf die Verwandlung der Welt in in eine Autorität durch das Zitieren in Bild und Ton nicht auch noch eines spezifischen Bewusstseins des Publkums, vor allem des Bewusstseins, dass das, was ich sehe, allen gezeigt wird und von allen gesehen wird? Und des Glaubens, dass “alle darüber reden”? Es gibt da ja deutliche Unterschiede im Autoritätsrang. Die Macht zur Autoritätsbildung ist beim Mini-Lokalsender nahe bei Null, trotz gleicher Bildqualität. Die volle Hysterie der “Autortätsgläubigkeit” scheint nicht nur vom Apparat abzuhängen und dem Einzelnen, sondern auch von der fernsehtypischen Konstallation “Bilder, die alle sehen”. Gut zu beobachten auch am Promistatus von Schauspielern oder Moderatoren, der direkt korreliert mit dem Eindruck (!) ihrer Bekanntheit. (Aber es scheint Fakt zu sein, dass niemand prominent ist (für wichtig gehalten wird), der nicht im TV zu sehen war.)
(3) Die dritte Frage liegt natürlich nahe: Wie sieht es bei Youtube aus? Da herrscht ja ein unvorstellbares Gedrängel — jeder möchte mal Autorität sein bzw. Autorität machen. Wirklich jeder: Firmen, Teenager, kauzige Consultants, koreanische Karaoke-Sänger etc. Die Auswahl findet dabei quasi durchs Publikum selbst statt und verliert dadurch — trotz reichlich Zitieren der Welt — die Fähigkeit, noch als wichtig wahrgenommen zu werden. “Ich bin auf Youtube zu sehen” kribbelt ein bisschen den Narzissmus, aber “Autorität” entsteht dabei — per se — überhaupt nicht. (Wobei beim Speicher-Fernsehen ja noch eine andere Determinante hinzukommt, die dem Fernsehen gerade fehlt, nämlich die “Verewigung” des zitierten Anblicks, ähnlich wie in Fotos und Schrift). Ist es beim Zieren nicht auch eine Frage, wer zitiert?
Zum Schluss will ich nur auf eins hinweisen, wo möglicherweise auch noch ein gedankliches Problem liegen könnte (wenn man die Kette geht “TV-Bild ist Zitat”, “Zitat gebiert Autorität”, “TV-Bild gebiert Autorität”), nämlich dass ein Schriftzitat sich nicht selbst beweisen kann und man sogar bei jedem Zitat wissen will, wo es herkommt, um es im Zweifelsfall überprüfen zu können — man weiß sehr deutlich, dass es “aus dem Zusammenhang gerissen” ist), während ein Blick auf die Welt im Gegenteil eine unschlagbare Wahrheitssuggestion enthält, so dass der Betrachter es eben psychisch fast schon für die Sache selbst hält: Seeing is believing. Oder anders gesagt: Gemeinhin kriegt man es nicht fertig, TV-Bilder für nicht wahr zu halten. Es ist vielleicht nur eine Nuance, weil die Geschichte in semiotischer Betrachtung “oszilliert”, aber die Autorität kommt vielleicht weniger aus dem Zitiertwerden als aus dem Fürwahrhalten.
Vielen Dank, das freut mich. Ich würde dir deine Fragen alle sehr gerne stante pede beantworten. Und tatsächlich lägen vermutlich schon Antworten parat, die ich letztlich aber unbefriedigend finde — weswegen ich in den Postings ja versuche, das Rätsel des Fernsehens und seiner gewaltigen (Anziehungs-)Kraft, die eine Fernsehgesellschaft als Nachfolger der Buchdruckgesellschaft entstehen ließ, zunächst ein Stück weit offen zu halten.
Zu diesem Rätsel gehört auch, dass die Großmeister der Buchdruckgesellschaft, nennen wir sie Intellektuelle, Wissenschaftler, Akademiker so Weniges und zugleich so viel Unbedeutendes über das Fernsehen zu sagen haben. Dass die wirklich lesenswerte “Literatur” zum Fernsehen vermutlich auch zwei Regalbrettern, die Gesamtliteratur in zwei Schränken Platz hätte. Auch dies offen zu halten als Rätsel.
Um nicht gänzlich unbefriedigend zu antworten, ein paar tentative Gedanken:
— Der Unterschied zu Foto und Film. Vielleicht liegt er im Aufzeichnungs- versus Live-Charakter. Vielleicht mischen sich Dokumentation des Bedeutenden der Vergangenheit in die eine Richtung, Dokumentation des Jetzt mit anschließendem sofortigem Vergessen beim Fernsehen hinein. Interessant auch, dass Fernsehen natürlich Fotos und Filme zeigen kann — verändern diese sich bei ihrem Wechsel ins Fernsehen? Legt der Fernsehbericht eine weitere Ebene darüber? Ist der Film im fernsehen ein Film oder ein Bericht über einen Film? Diese Dinge gehen mir durch den Kopf — zu Antworten taugen sie noch nicht.
— Das “allen-Gezeigt-Werden”: Vermutlich ein wichtiger Punkt, ja. Fernsehen stellt ein überregionales Reservoir an potenziellen Gesprächsreferenzen bereit. Erlebbar auf den Schulhöfen der 70er und 80er Jahre, wo das Programm des Vorabends Gesprächsthema, der Fernseh-Depravierte ausgeschlossen war. Eine historisch einzigartige Situation, die darin gipfelt, dass alle Zuschauer eines Sendebereichs gemeinsame “Bekannte” haben. Vom Allgäu bis an die Nordsee. Auch hier gilbt es noch viel weiter zu überlegen. Man könnte sich fragen, ob seit den 60ern die Kulturnation eine Programmnation geworden ist, ob also das, was man kulturelle Identität zu bezeichnen pflegt, sich wesentlich aus dem Konsum derselben Kindersendungen speist. Von Plumperquatsch über Thomas und Zini, die Vorstadtkrokodile, Ernie und Bert.
— YouTube eröffnet den Blick über die MediaDivina hinaus. Und vielleicht macht es ihn möglich. Vielleicht ist diese Entwicklung von der Fernseh- zur Netzgesellschaft der Schritt von der MediaDivina zur MediaHumana — oder MediaTranshumana? Ich kann es dir nicht sagen. Aber es regt an.
— Wahrheit — damit rührst du natürlich ans Fundamentalste. Ich schlage mich schon seit einigen Tagen mit einem Posting zum Thema “Wahrheit und Fernsehen” herum. Glaube mir — da klafft unter jedem Satz ein Riss. Auf den sicheren Gang der Wissenschaft bin ich damit noch nicht geraten. Denn interessanterweise mischt Fernsehen auf technisch und historisch sehr variable Weisen Inhalte, die zwischen Fakt und Fikt oszillieren.
Insofern kann ich mich momentan nur bedanken für die Fragen und aufs Weitermachen hoffen.
“Und eben dies ist der Inter-Text: die Unmöglichkeit, außerhalb des unendlichen Textes zu leben — sei dieser Text nun Proust oder die Tageszeitung oder der Fernsehbildschirm: Das macht Buch macht den Sinn, der Sinn macht das Leben.”
(Roland Barthes, Die Lust am Text)
Wenn Schriftzeichen und Bild einerseits auseinanderfallen und als zwei ganz unterschiedliche Phänomene (d.i. der Sput, der Anwesenheit einer Abwesenheit) behandelt werden können. Das Bild als Zeichen (Sem), das Zeichen als Ab- oder Urbild (idea). Beide fallen zusammen im graphein, Tele-Technik zur Präsentation des Da eines Fort.
Ich fürchte, die Reduktion ins Gewebe der Texte bringt insofern nicht weiter, als zumindest als Behauptung die Live-ness der Fernsehübertragung im Raum steht: Es geschieht jetzt. Du kannst es nur jetzt sehen. Es geschieht jetzt und da und dort bei dir. Die Mondlandung findet jetzt statt. Darin zeigt sich, wenn graphische Verwandtschaft, dann diejenige zum Telegraphen, dessen Zeugenschaft nicht darin besteht, dass geschrieben wurde, sondern dass jetzt einer schreibt. Egal was.Und beim Fernsehen: dass du es nie mehr sehen kannst, wenn du es nicht jetzt schaust (ja, man müsste über das Abspielen von Aufzeichnungen, Wiederholungen, Inszenierungen nachdenken — aber imho führt das über den Text hinaus).
“Es geschieht jetzt. Du kannst es nur jetzt sehen. Es geschieht jetzt und da und dort bei dir.”
Das hic et nunc ist natürlich bei einer Live-Übertragung und deren Plusaquam-Präsenz nochmal eine andere als die einer Auf-Zeichnung.
“(ja, man müsste über das Abspielen von Aufzeichnungen, Wiederholungen, Inszenierungen nachdenken — aber imho führt das über den Text hinaus).”
“Auf-Zeichnung” scheint mir gerade über den Text im verallgemeinerten Sinne NICHT hinauszuführen, sondern die strukturellen Analogien deutlicher herauszubringen. (“es gibt kein außerhalb des textes” usw.)
Dort wo das von Dir reklamierte “es findet JETZT statt” Statt hat, unterscheidet sich Fernsehen eben gerade nicht von Warhnehmung und Beobachten (die immer Tele-Vision ist, das Ent-fernen, das Annähern von etwas Entferntem, das Vergegenwärtigen von etwas Abwesendem?), vom Erleben der Wirklichkeit als solcher.
Du kannst nie mehr sehen (egal was), wenn du nicht Jetzt siehst.
Dieses JETZT, die lebendige Gegenwart im Husserlschen Sinne, ist aber nun gerade das, was sich, als Zeit, jederzeit entzieht. Und was die Live-Übertragung fetischisiert einzufangen sucht (ohne den Zeit-Verzug wirklich bändigen zu können. Es findet eben schon nicht mehr Jetzt statt, sondern hat je schon stattgefunden. Konstitutives “zu spät..”)
Bedenkenswert. Die Überkreuzungen von Aufzeichnung und Liveness aber scheinen mir ein komplexeres Gewebe zu eröffnen. Ich habe gerade einen Versuch zu Zeitflow und Strukturierung gepostet. Das Aufgezeichnete verwandelt sich durch die Fernsehsendung natürlich selbst plötzlich in ein live-artiges Erlebnis, darin dem Theater verwandt, das in den textgebundenen Zeiten einen vorliegenden, aufgezeichneten Text nutze, der jederzeit zur Verfügung steht — zugleich aber ist die Aufführung (im Gegensatz zur Aufzeichnung) an einen Zeit/Raum gebunden und damit flüchtig. Der Kinofilm im Fernsehen mag auf Zelluloid jederzeit vorliegen: Solange es keine Aufzeichnungsgeräte für das Publikum gibt, rauscht er dahin wie eine Aufführung. Schaltest du zu spät ein, verpasst du den Anfang unwiederbringlich. Schaltest du gar nicht ein, verpasst du die Sendung gänzlich.
Wenn du auf die Wahrnehmungsebene verschiebst (die Wahrnehmung des Live im Kasten innerhalb eines räumlichen Life darum herum usw.) verschieben sich diese Verschränkungen weiter. Ich traue mir keine letztgültige, knappe Antwort zu. Momentan öffnen sich eher Dinge. In Serie…