Lansgam scheint sich — beispielsweise im Buchmarkt — Panik breit zu machen, angesichts der scheinbar übermächtigen Konkurrenz. Wie es dazu kam, warum diese Übermacht scheinbar so übermächtig ist, und welch alten europischen Stärken in dieser Situation hilfreich sein können, davon handelt dieses sehr lange Posting.
Digitale Agenden
Vor knapp zwei Wochen hat die Regierung der Bundesrepublik Neuland also eine sogenannte “Digitale Agenda” beschlossen. Dass das ein jämmerliches Gebilde ist, wurde an vielerlei Stelle berereits bemerkt. Wie jämmerlich es tatsächlich ist, wie jämmerlich verspätet, erschließt sich beim Blick auf eine andere “Digitale Agenda”, die fast ein viertel Jahrhundert alt ist: den High-Performance Computing Act of 1991, wesentlich vorangetrieben von Al Gore (deswegen auch bekannt als “Gore Bill”), den es sich durchaus im Ganzen zu lesen lohnt. Hier die einleitenden Passagen dieses Acts:
SECTION 1. SHORT TITLE.
This Act may be cited as the ‘High-Performance Computing Act of 1991’.
SEC. 2. FINDINGS.
The Congress finds the following:
(1) Advances in computer science and technology are vital to the Nation’s prosperity, national and economic security, industrial production, engineering, and scientific advancement.
(2) The United States currently leads the world in the development and use of high-performance computing for national security, industrial productivity, science, and engineering, but that lead is being challenged by foreign competitors.
(3) Further research and development, expanded educational programs, improved computer research networks, and more effective technology transfer from government to industry are necessary for the United States to reap fully the benefits of high-performance computing.
(4) A high-capacity and high-speed national research and education computer network would provide researchers and educators with access to computer and information resources and act as a test bed for further research and development of high-capacity and high-speed computer networks.
(5) Several Federal agencies have ongoing high-performance computing programs, but improved long-term interagency coordination, cooperation, and planning would enhance the effectiveness of these programs.
(6) A 1991 report entitled ‘Grand Challenges: High-Performance Computing and Communications’ by the Office of Science and Technology Policy, outlining a research and development strategy for high-performance computing, provides a framework for a multiagency high-performance computing program. Such a program would provide American researchers and educators with the computer and information resources they need, and demonstrate how advanced computers, high-capacity and high-speed networks, and electronic data bases can improve the national information infrastructure for use by all Americans.
SEC. 3. PURPOSE.
The purpose of this Act is to help ensure the continued leadership of the United States in high-performance computing and its applications by–
(1) expanding Federal support for research, development, and application of high-performance computing in order to–
(A) establish a high-capacity and high-speed National Research and Education Network;
(B) expand the number of researchers, educators, and students with training in high-performance computing and access to high-performance computing resources;
(C) promote the further development of an information infrastructure of data bases, services, access mechanisms, and research facilities available for use through the Network;
(D) stimulate research on software technology;
(E) promote the more rapid development and wider distribution of computing software tools and applications software;
(F) accelerate the development of computing systems and subsystems;
(G) provide for the application of high-performance computing to Grand Challenges;
(H) invest in basic research and education, and promote the inclusion of high-performance computing into educational institutions at all levels; and
(I) promote greater collaboration among government, Federal laboratories, industry, high-performance computing centers, and universities; and
(2) improving the interagency planning and coordination of Federal research and development on high-performance computing and maximizing the effectiveness of the Federal Government’s high-performance computing efforts. (Quelle)
Das ist eine Agenda. Und es ist ist nicht nur eine Menge windelweichen Papieres. Es wurde konsequent umgesetzt.
Die digitale Dominanz der USA
Zweieinhalb Jahrzehnte später sind die Konsequenzen nicht von der Hand zu weisen: nahezu alle global erfolgreichen Unternehmen des Digitalzeitalters sind US-amerikanische Unternehmen. Die Liste ist atemberaubend, selbst in ihrer rudimentären Unvollständigkeit:
- Cisco baut die Netz-Infrastruktur
- IBM entwirft die digitalen Großarchitekturen
- Google organisiert mit der Suchmaschine den Wissenszugang und kanalisiert den Konsum, schafft mit Maps und Earth eine neue Welterfahrung, die mit Informationen angereichert ist, dominiert die kommerzielle Werbung, experimentiert mit intelligenten Infrastrukturen, Robotik, Personenverkehr und was nicht noch alles
- Handy-Betriebssysteme wie Android, iOS usw. kommen aus den USA
- Apple baut die coolen und innovativen Endgeräte und nimmt eine starke Stellung auf dem Musik- und Filmmarkt ein
- Amazon schickt sich an, den gesamten (und nicht nur: Buch-) Handel und die Logistik umzustürzen
- Ebay dominiert den Markt des Handels zwischen Privatpersonen
- Microsoft dominiert noch immer den Software-Markt (insbes. Für Geschäftsanwendungen)
- Dropbox ist der dominierende Cloud-Anbieter
- Facebook ist das dominierende Soziale Netzwerk, der dominierende Foto-Dienst (Instagram), der dominierende 1:1‑Kommunikationsdienst (WhatsApp, Messenger)
- Twitter ist der dominierende Nachrichtendienst
- LinkedIn dominiert das Feld der Geschäfts-Kontaktpflege
- airbnb revolutioniert das Hotelgeswerbe
- Uber schickt sich an, das Personentransportgewerbe zu revolutionieren
- Die NSA ist die weltweit agierende Auslands-Geheimpolizei des 21. Jahrhunderts
Die Liste lässt sich fortführen. Die USA sind der digital dominierende Standort zumindest für das, was man einmal die westliche Welt, das Abendland usw. genannt hat. Diese Entwicklung ist mit dem Gore Bill angekündigt und wurde in den letzten Jahrzehnten oft genug diskutiert und prophetisch an die Wand gemalt. Wer sich damit beschäftigt hat, wusste klar und deutlich, dass die Entwicklung dorthin geht. Dass nur Unternehmen, die in den USA angesiedelt sind, die Konsequenz gezogen und sich in den letzten 1–3 Jahrzehnten kontinuierlich in diese Richtung bewegt haben, während gerade erst in Deutschland bemerkt wird, dass sich die BRD zur BRN (sprich: Bundesrepublik Neuland) umgeformt hat – ist ein Rätsel, dem sich in Zukunft Historiker werden stellen müssen. Es gemahnt an das 19. Jahrhundert, da die industrielle Revolution zunächst an Deutschland vorbei ging, um dann umso schneller (und für die Gesellschaft und die Menschen umso brutaler) einzusetzen.
In Deutschland? Zunehmende Panik
Die Panikreaktionen nehmen jetzt in Anbetracht der Auswirkungen des digitalen Wandels zu. Aufsetzend auf den zurückliegenden Kämpfen der Musikindustrie gegen Napster und nachfolgende Sharing-Angebote kam erst Google ins Visier der notleidenden Zeitungsverlage (Stichwort Leistungsschutzrecht), neuerdings auch Amazon ins Visier der notleidenden Literaturverlage und der Kulturverteidiger insgesamt. Dabei sind chauvinistische „Kauft nicht beim kapitalistischen Amerikaner“-Untertöne nicht zu überhöre bzw. zu überlesen. Als müsste mit aller Macht die „deutsche“ Kultur und Wirtschaft gegen „die Ausländer“ verteidigt werden. „Rettung der deutschen (alternativ: europäischen) Kultur“ (alternativ: der Steuereinnahmen) – was sich bei allen sicherlich berechtigten Fragen auch bei der Debatte rund um das Freihandelsabkommen TTIP zeigt.
Chauvinismus und darüber hinaus
Die Reaktion lautet: Raus aus dem Ami-Netz. Kauft nicht bei Amazon. Googelt nicht bei Google. Baut ein europäisches (alternativ: deutsches, bayerisches usw.) geschlossenes Internetz. Dreht das Rad der Geschichte zurück. „Wer ein Mobiltelefon besitzt, werfe es weg.“ (Enzensberger). Schreibt nichts ins Internetz. Verschlüsselt eure Kommunikation. Tragt Aluhüte gegen die Erdstrahlung. Wer so etwas ernsthaft fordert, versteht nicht, dass all diese Unternehmen etwas zu bieten haben, was offensichtlich einer überwältigenden Zahl von Menschen einen Nutzen bietet, von dem sie begeistert sind. Diese Unternehmen mögen Geschäftspraktiken und Monopolisten-Verhaltensweisen sowie Arbeitgebergebaren an den Tag legen, das zu kritisieren bis abstoßend ist – keines von ihnen aber wäre in die Position gekommen, die es jetzt hat, böte es nicht etwas, das eine große Zahl von Menschen begeistert und von dem man sich zumindest bis zu den Snowden-Enthüllungen ein großes emanzipatorisches Potenzial versprach.
Zudem haben diese Unternehmen durchgehalten. In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es auch in Teilen Europas und Deutschlands einen Geist des digitalen Aufbruchs mit Neuerungen und Unternehmensgründungen, der allerdings mit dem Platzen der Dotcom-Blase weitgehend in sich zusammenbrach. Die jetzt übermächtigen Unternehmen in den USA haben weitergemacht (und nicht zuletzt: schwächelnde oder vielversprechend klein startende europäische Konkurrenten einfach aufgekauft). Dort wo sie zusammenbrachen, traten andere an ihre Stelle. Die wenigen, die in (sagen wir der Einfachheit halber mal: ) Deutschland weitergemacht haben (z.B. die Scout-Gruppe, die Samwers) sind nicht ganz erfolglos, im Vergleich zu den oben genannten Riesen aber doch eher Zwerglein geblieben. Ein sich rasant schnell transformierender Konzern wie Axel Springer mit seinem Digital-Portfolio wirkt eher wie ein Beteiligungs-Gemischtwarenladen, denn wie ein Unternehmen der digitalen Zukunft. Angebote wie die VZ-Gruppe (als potenzieller Konkurrent zu Facebook) – weg. Xing – noch da, aber eher bemitleidenswert im Vergleich zu LinkedIn.
Die Dominanz der genannten US-amerikanischen Unternehmen besteht in ihrem Angebot und in ihrem Durchhaltevermögen. Ihre Größe rührt daher, dass sie keine ernstzunehmende Konkurrenz haben. Und dass sie sich jetzt anschicken können, das gesamte traditionelle Wirtschaftssystem umzustürzen, liegt eben in der Überlegenheit ihres Angebots und dem Durchhaltevermögen – zusammen mit der Bereitschaft zu gelegentlich unsauberen oder abstoßenden Geschäftspraktiken. Nur: Wo es keinen gleichguten Anbieter gibt, der auf diese unsauberen oder widerwärtigen Praktiken verzichtet, da gibt es keine Möglichkeit, sich ihnen zu entziehen. Gesetzgeberisches Handeln ist an vielen Stellen nötig – aber das Gesetz pflegt zumeist zu spät zu kommen. Wenn das Kind im Brunnen ist, helfen neue Brunnensicherungsverordnungen nicht. Zumal dann nicht, wenn die Vertreter der Legislative und der Exekutive nicht die geringste Ahnung davon haben, was Brunnen sind, wozu man sie benötigt und wie man sie eventuell sicherer machen könnte. Angesichts des Affentheaters rund um die NSA und die Snowden-Vernehmung, ergänzt um die quälende Langsamkeit der Entwicklungen und die überwältigende Menge an zu regelnden Sachverhalten ist die Hoffnung auf den Gesetzgeber vermutlich noch lächerlicher als das Tragen von Aluhüten.
Amazon – eine sehr persönliche Betrachtung
Ich habe in den letzten (geschätzt) 15 Jahren keine Buchhandlung mehr von innen gesehen, um mir Bücher zu kaufen. In diesem Zeitraum habe ich (geschätzt) gut 1000 Bücher bei Amazon bestellt. Viele davon (geschätzt > 50%) hätte ich nicht erworben, hätte ich mich dafür zu einer Buchhandlung begeben müssen. Weil die 1‑Klick-Verführung funktioniert. Weil die Empfehlungen funktionieren. Weil oftmals die Neugier auf ein Thema, einen Autor, einen Titel groß genug ist, um mich darauf zu freuen, am nächsten Tag in das Buch zu schauen, nicht aber groß genug, meine aktuelle Tätigkeit für 1–3 Stunden zu unterbrechen, um quer durch die Stadt zum Buchhändler (und eben nicht: um die Ecke) zu fahren, das Buch zu bestellen, um es am nächsten Tag, noch einmal durch die Stadt fahrend, abzuholen. Ich kaufe mehr Bücher durch Amazon. Ich lese mehr Bücher durch Amazon. Ich vermute, dass es nicht nur mir so geht – insbesondere Menschen, die nicht in buchhandelsversorgten Regionen wohnen, kommen gar nicht darum herum, ihren Lesestoff von Amazon zu beziehen.
Ich bin noch nicht hinreichend durch ebooks sozialisiert, um mich an die elektronische Lektüre auf Kindle und Co. zu verlagern. Aber ich weiß, dass das dumm ist. Denn die sofortige Verfügbarkeit eines ebooks, egal wo ich bin, die Möglichkeit, meine Bibliothek dabeizuhaben, wo immer ich bin, im Urlaub, im Café, in der Bahn, ist großartig. Eine Funktion wie AutoRip für Bücher, die mir sämtliche bei Amazon gekaufte Musik-CD’s auch digital ohne Zusatzkosten verfügbar macht, wäre mein Traum. Ich hänge an physischen Büchern noch. Und ich liebe meine Bibliothek. Ich möchte mich nicht entscheiden müssen zwischen physisch und digital. Wenn Amazon das bietet, bin ich glücklich. Vielleicht kommt es so.
Amazon ist aber (für mich, persönlich) nicht nur ein Buchhändler. Amazon ist ein Universal-Händler. Schaue ich mir meine Bestellungen der letzten Zeit an, finden sich in der Übersicht zwar zahlreiche Bücher, aber auch ein Bügelbrett, eine Bratpfanne, diverse Elektrogeräte, Gewürze, Musik als CD und MP3_Downloads, Blue-Ray Discs, gestreamte Filme und Serien. Welcher Buchhändler will da mithalten? Und ich kaufe bei Amazon, weil dort die Kommentare von Nutzern mir helfen, in den Segmenten, in denen ich mich nicht auskenne, die passenden Dinge zu finden. Ich bin kein Rasen-Fachmann. Aber die Auseinandersetzung mit den Kunden-Kritiken hat mir geholfen, sowohl die richtige Rasensaat, wie den richtigen Dünger zu finden – und zugleich noch auf Techniken aufmerksam zu werden, mit denen ich zusätzlich für das Gedeihen des Grüns sorgen kann. Als ich Biographien Luther, Karls V., Bismarcks und Adenauers gesucht habe, waren die Leserkritiken hilfreich, weitere Informationsquellen (zu Wikipedia, zu Universitäten, Bibliographien usw.) nur einen Mausschlag entfernt.
Um es ganz klar zu sagen: Ich habe keine Amazon-Aktien. Mir ist Amazon herzlich egal. Ich würde lieber bei einem Anbieter einkaufen, der sich glaubwürdiger zur Fairness gegenüber allen Beteiligten bekennt – sofern dessen Angebot mindestens so gut ist, wie das von Amazon. Und damit meine ich nicht nur den Preis, sondern all das, was ich oben als Motivationen beschrieben habe, Dinge bei Amazon einzukaufen.
Diesen Anbieter aber gibt es nicht. Als ich Mitte der 90er Jahre die ersten Bestellungen über das Internet gemacht habe, waren das Bücher. Der Anbieter hieß „Telebuch.de“. Eine deutsche Firma , die 1998 an Amazon verkauft wurde. In Frankreich bei alapage. Diese Anbieter gibt es nicht mehr, ihr Angebot kann sich jedenfalls nicht mit Amazon messen. Nicht im Entferntesten. Ich kaufe antiquarische Bücher. Bei ZVAB. Der ist von Amazon gekauft worden. Ich habe sogar eine Zeitlang versucht, über libri.de die Verbindung von Online-Bestellung und lokalem Buchladen zu nutzen. Das war frustrierend schlecht. Und ist inzwischen verschwunden.
Kampf gegen Amazon
Amazon und Hachette befinden sich in einem Preiskampf, der mit branchenüblichen harten Bandagen geführt wird. Und bei dem alle Beteiligten in der Vergangenheit bewiesen haben, dass sie bereit sind, die Grenzen der Legalität zu überschreiten. Hachette ist wegen verbotener Preisabsprachen mit Apple in Sachen ebooks verurteilt. Und Amazon muss sich immer wieder vor Gericht verantworten und verliert etwa wenn es um die deutsche Buchpreisbindung geht. Es gibt hier keine weißen Ritter. Und dass Autoren und Leser die Leidtragenden sind, kommt dabei auch immer wieder vor. Selbst wenn es um die Arbeitsbedingungen geht, Amazon-Mitarbeiter streiken und die Auslieferung von bestellten Büchern verhindern.
Dass Amazon inzwischen groß genug ist, um die größten traditionellen Akteure unter Druck zu setzen, dass es global genug ist, um selbst Regierungen unter Druck setzen zu können ist widerwärtig (etwa die Drohung, die deutschen Vertriebszentren aus Deutschland weg zu verlegen, von der gerade berichtet wurde). Zu fordern, dass Amazon sich an die Gesetze hält, ist eine Selbstverständlichkeit. Zu fordern, dass das profitorientierte Unternehmen Amazon sich aus freien Stücken fair verhalten möge unter Hintanstellung kapitalistischer Profitinteressen, ist blauäugig. Noch sind Transportexperimente mit Drohnen eher skurille Meldungen. Das muss aber nicht so bleiben. Das ist das eigentliche Thema hinter Amazon: dass automatisiert werden wird, was nur irgend automatisierbar ist.
Dass faire Bedingungen mit Verlagen geschaffen werden müssen – geschenkt. Aber die am Horizont auftauchende Frage lautet: Wozu denn noch Verlage, wenn Amazon heute schon Autoren komfortable Möglichkeiten des Self-Publishing anbietet? Es ist wichtig, menschliche Arbeitsbedingungen bei Amazon zu fordern und durchzusetzen. Dafür gibt es Gewerkschaften, die daran arbeiten. Dahinter aber gibt es ein größeres Problem: dass Amazon mittelfristig vermutlich gar keine Mitarbeiter mehr brauchen wird, weil die gesamte Logistik voll automatisiert wird. Mögen heute noch Fahrer für den Transport nötig sein – auf Personal innerhalb der Lagerhäuser könnte Amazon bald völlig verzichten und sie durch Maschinen ersetzen. Und auf den Versnad von Büchern sowieso (mit ebooks) und auf den Verkauf einzelner Titel mit der angekündigten monatlichen Flatrate Kindle Unlimited.
Die emanzipatorische Dimension
Nicht vergessen werden sollte, dass die Digitalisierung des Buchangebotes und dadurch sinkende Preise wiederum ein emanzipatorisches Potenzial hat: Warum sollen Schulkinder jedes Jahr Unsummen in die Geldbeutel einiger Schulbuch-Monopolisten werfen, wenn die Schulbücher, schneller, besser, interaktiver und: viel preisgünstiger digital verfügbar gemacht werden können. Abgesehen davon, dass das Ersetzen eines Kiloschweren Schulranzens durch einen Ebook-Reader die Rücken der Kleinen schon, sorgt es auch dafür, dass der Zugang zu Bildung erleichtert und verbreitert wird. Ebenso der Zugang zu wissenschaftlichem Wissen, erstellt durch die öffentliche Finanzierung von Hochschulen und der dort Forschenden, werden diese Ergebnisse heute von Wissenschaftsverlagen zu horrenden Preisen verkauft, Universitäten genötigt, das von ihnen finanzierte Wissen in einem enorm teuren Abonnement zum zweiten Mal zu bezahlen – und der interessierten breiteren, nicht akademischen Öffentlichkeit weitgehend unzugänglich zu machen.
Das umso mehr, da auf einem digitalen Endgerät nicht nur Aktualisierungen und Korrekturen jederzeit durchgeführt werden können, die Kinder ihre eigenen Beiträge und Hausaufgaben darin erledigen können. Sondern auch noch filmische Inhalte eingebunden werden können. Links angebracht werden können, mit denen die Kinder zu weiteren Informationen kommen. Oder ihre Beiträge direkt auf die digitale Schultafel oder an den Lehrer schicken können. Das Lernen verändert sich. Es wird reicher, zugänglicher, interessanter. Vielfältiger und vielleicht sogar freudvoller. Und vielleicht auch das Publizieren.
Ich lese gerade eine Biographie von Kaiser Karl V., in der ich einen spannenden Hinweis auf Bartolomé de Las Casas und seinen Einsatz gegen die Entrechtung der Indios von 1540 fand. Um mehr herauszufinden – Buch weglegen, an den Rechner gehen. Wikipedia. Google. Buch bestellen. Warum nicht einen Direktlink zu seinen Texten. Sie sind gemeinfrei. Demnächst wird wieder das Gejammer groß sein, weil Google die gesamte gemeinfreie Weltliteratur digitalisiert und sich „aneignet“. Warum kamen die europäischen Bibliotheken Google nicht zuvor und bieten diese historischen Bücher gemein- und werbefrei an?
So what?
Wenn die Autoren der Digitalen Agenda verstanden hätten oder noch verstehen würden, wie weit sie hinten liegen, dass tatsächlich ein Zeitverzug von 25 Jahren besteht — müssten sie anders handeln. Nicht im Sinne eines Chauvinismus, sondern vielleicht aus dem Gedanken heraus, dass Technologie einem emanzipatorischen gesellschaftlichen Ziel dienen könnte. Dass das Netz emanzipatorische Kräfte beflügeln und zugleich diejenigen mitnehmen und einbinden könnte, die momentan als Verlierer dastehen. Dafür gilt es zu verstehen, dass nicht die dämonischen Giganten der “Feind” ist.
Man fühlt sich (etwa in der Buch- und Handelsbranche) wie die Mayas, die von den Spaniern überrannt und ausgebeutet werden. Und dieses Gefühl trügt nicht. Nur dass eben Amazon nicht der dämonische Feind ist, der einmarschiert, sondern dass es die Kunden, die Leser in Deutschland sind, die die traditionelle Landschaft fortwischen. Der „Feind“ der Verlage und Buchhändler ist nicht Amazon, es sind – und immer wieder ist es dasselbe im Zusammenhang mit dem Internet – ihre besten „Freunde“. Nicht Google macht Zeitungen platt, sondern Zeitungsleser, die kein Papier mehr kaufen, sondern sich online informieren. Nicht Amazon ist die Gefahr für die Handels- und insbesondere die Buchbranche, sondern die Leser und Käufer. Und wenn etwas anders gemacht werden könnte, dann eben nur zusammen mit ihnen.
Jenseits des Chauvinismus
Dass es in den USA eine starke Tendenz gibt, gesellschatliche Entwicklung zunehmend nach marktwirtschaftlichen Bedingungen zu organisieren, darf wohl angenommen werden. Und so schafft man dort möglichst ideale Bedingungen, um aus Garagenfirmen Weltunternehmen werden zu lassen. Die Bundesregierung steht sicher im Verdacht, dieses Vorbild nachzuspielen. Vermutlich wird man die Baubetriebsverordnung für Garagen überarbeiten und die KfW kreditgünstige Darlehen für den Garagenbau vergeben lassen. In der Hoffnung, man müsse nur bessere Voraussetzungen für Garagen (vulgo: Start-Ups) schaffen, um denmächst auch irgendwelche tollen Unternehmen blühen zu sehen. Nicht verstehend, dass es sinnlos ist, mit über 20jähriger Verspätung eine Entwicklung nachzuspielen. Auch wenn es Firmen gibt, die damit erfolgreich sind: es ist dumm, erfolgreiche Geschäftsmodelle zu kopieren und zu hoffen, sie würden das Original überflügeln. Es gilt jetzt, eine Vision zu entwicklen, wo eine europäische Entwicklung, die die marktwirtschaftlichen hinter die gesellschaftlichen Interessen zurückstellt oder diese zumindest miteinander verbindet, hingehen könnte. Nicht im Sinne eines Anti-Amerikanismus, sondern im Sinne einer Alternative. Ein Netz, von dem viele zumindest bis zu den NSA-Enthüllungen geträumt haben.
Die USA bzw. die dort lebenden Menschen haben einige andere Prioritätensetzungen. Man vertraut auf die Kraft der Wirtschaft und der Eigeninitiative mehr als auf Gesellschaft, Staat und Solidarität. Man betrachtet das Tragen von Feuerwaffen als Bürgerrecht, anders als in Europa. Man betrachtet gesetzliche Sozialversicherungen grundsätzlich misstrauisch. Anders als in Europa. Man will existierende Energieabhängigkeiten dadurch mildern oder lösen, dass per Fracking noch das letzte Öl und Gas aus dem Boden gequetscht wird. In Deutschland setzt man deswegen auf erneuerbare Energien und steckt sogar massiv öffentliche Gelder hinein. In den USA findet man die Todesstrafe eine akzeptable Idee. In Europa nicht. Es gibt unterschiedliche Präferenzen und Sichtweisen, die zu bemerken nicht notwendigerweise chauvinistisches Überlegenheitsgefühl implizieren muss. Kann wohl – muss nicht. Dinge anders zu organisieren heißt nicht, auf andere Organisationsweisen automatisch chauvinistisch zu blicken. Man redet vielmehrt von Pluralismus und Toleranz.
Europäische Stärken
Sinnvoll wäre es, eine tatsächlich vorhandene europäische Stärke auszuspielen: Die trotz der Bologna-Idiotien noch vorhandene Hochschullandschaft. Technologische Entwicklung ist traditionell stark von Hochschulen mitbestimmt, geprägt und ermöglicht. Dafür auch in der Digitalen Naissance Geld in die Hand zu nehmen, macht Sinn. Dafür muss verstanden werden, dass es einen neuen Wissenschaftszweig gibt: Neben den Geisteswissenschaften (oder Kultur‑, Sozial‑, Human- usw.-Wissenschaften) und den Naturwissenschaften die Digital- und Netzwissenschaften. Nicht untergeordnet oder einsortiert unter eine der der beiden traditionellen Wissenschaftszweige. Sondern als gänzlich neuen Wissenschaftszweig. Das Internet allein den Informatikern und Technikern zu überlassen, ist ungefähr so klug, wie Laborphysiker über die Verwendung der Atombombe bestimmen zu lassen.
Dafür Geld in die Hand nehmen. 50 Milliarden pro Jahr. Oder 100 Milliarden pro Jahr in Deutschland. Das ist viel? Der Börsenwert von Facebook liegt gerade bei 157 Milliarden US-Dollar …
Der potenzielle Lehrkörper ist vorhanden und leistet momentan die Arbeit auf eigene Rechnung, lebt nicht einmal von der Hand sondern höchstens von der Fingerkuppe in den Mund. Ich nenne: Constanze Kurz, Frank Rieger, Jens Best, Michael Seemann, Niko Lumma, Christoph Kappes, Klaus Kusanowski, Marcel Weiss, Markus Beckedahl und seine Kollegen von der Digitalen Gesellschaft, Sascha Lobo, Christian Stöcker, Konrad Lischka, Martin Oetting, (Nachtrag:) Tina Lorenz – und viele andere. Mit Instituten wie:
- Institut für plurale Suchmaschinologie
- Institut für Digital- und Netzsoziologie
- Institut für Digitalökonomie
- Institut für soziale Netzwirtschaft
- Institut für digitalen und vernetzten Journalismus
- Institut für emanzipatorische Datenanalyik
- Institut für Peer-Production-Forschung
- Institut für Open Sources
- Institut für Kryptologie, Kryptografie
- Institut für Postwachstumsökonomie
- Institut für Arbeit nach dem Ende der Arbeit
- Institut für asymmetrische Kriegsvermeidung
- Institut für Terrorismusabwehr
- Institut für Spionageabwehr
- Institut für Programmierlinguistik
- Institut für Allgemeine und theoretische Kybernetik
- Institut für Digitaltheater
- Institut für Wasn-das-fürn-Knopfologie
- Institut für Blödsinn, Quatsch und Sachen, die Spaß machen, von denen aber keiner weiß, wozu sie gut sind
- Institut für alles, was woanders keinen Platz hat
- …
Die dritte Wissenschaft
Es geht darum zu verstehen, dass eine neue Wissenschaft entsteht, die weder Geistes- noch Naturwissenschaften ersetzt. Die teilweise geisteswissenschaftlich arbeitet, teilweise naturwissenschaftlich, aber weder nur das eine noch das andere. Der Akt des Programmierens ist dem Schreibakt der Geisteswissenschaft vergleichbar — aber unter naturwissenschaftlichen Rahmenbedingungen. Technologische Entwicklungen insbesondere der Kommunikationstechnologie haben unmittelbare gesellschaftliche Auswirkungen. Nichts lässt sich in einer nur-geisteswissenschaftlichen noch in einem nur-naturwissenschaftlichen Umfeld bearbeiten. Mathematische Algorithmen haben politische Folgen. Und was überhaupt Politik in Digitalien ist, was Digitalökonomie ist — das wird herauszufinden sein. In der dritten Wissenschaft: Der Digital- und Netzwissenschaft.
Baut nicht Garagen, sondern Hochschulen!
Es geht also nicht darum Garagen (=Start-Ups) zu bauen, sondern Hochschulen. Man zähle die jetzt vorhandenen Hochschulmitarbeiter zusammen, teile die Zahl durch zwei und hat damit das benötigte Personal für die Digital- und Netzwissenschaft. Man nehme das jetzt eingesetzte öffentliche Budget… Usw. Die dritte Wissenschaft wird gegründet, in dem die Hochschulausgaben von Jetzt=100 auf Dann=150 erhöht werden.
Technische Neuerungen der letzten 150 Jahre gingen parallel mit der Entwicklung der Hochschulen, mit der Entwicklung von Geistes‑, Natur und nicht zuletzt Ingenieursdisziplinen. Aus den Grundlagenforschungen dieser Einrichtungen sind — wie von selbst — auch technische Fortschritte entstanden. Oder wurden TGV, ICE, Airbus etwa in Garagen entwickelt? Der “Gore Bill” penetriert das Thema Forschung und Bildung geradezu. Nochmal ein paar Punkte von oben:
(1) expanding Federal support for research, development, and application of high-performance computing in order to–
(A) establish a high-capacity and high-speed National Research and Education Network;
(B) expand the number of researchers, educators, and students with training in high-performance computing and access to high-performance computing resources;
(C) promote the further development of an information infrastructure of data bases, services, access mechanisms, and research facilities available for use through the Network;
(D) stimulate research on software technology;
…
(H) invest in basic research and education, and promote the inclusion of high-performance computing into educational institutions at all levels; and
(I) promote greater collaboration among government, Federal laboratories, industry, high-performance computing centers, and universities;
Got me?
Zugleich sind Hochschulen die Orte, an denen — wenn nicht durch Bologna-Schwachsinn ausgedörrt — eine kritische Reflexion stattfinden kann, die bei der Dritten Wissenschaft bestenfalls bereits bei Entstehen des Neuen reflektierend mitwirkt.
Was zu wünschen ist, wäre ein europäischer High-Performance Computing Act of 2014, der sich darauf richtet, was in den nächsten 20 Jahren geschehen soll, der jetzt die Grundsteine für eine offene Entwicklung legt. Der nicht versucht, die Ergebnisse der letzten 20 Jahre in den nächsten 20 Jahren zu kopieren, damit diese noch im Start-Up-Stadium gewinnbringend an die Big Player verscherbelt werden, sondern auf eine nachhaltige Entwicklung setzt. Und der eine Präambel formuliert, in der die Eigenheiten der europäischen Tradition, die sozial-gesellschaftlichen Errungenschaften, die Errungenschaften der Arbeitnehmer, der Kunden, die Sozialverpflichtung von Eigentum und Wirtschaft, die Rechte der hier Lebenden wie derjenigen in anderen Ländern der Welt erhalten, geachtet und verteidigt werden. Liberté, Égalité, Fraterinté 2.014!