Gestern Abend wurde in der Boell-Stiftung über die Frage: “Schauspiel im Livestream — Fluch oder Segen” diskutiert. Dafür hatte ich mir im Vorfeld ein paar Gedanken gemacht, mit denen ich mein Podiums-Statement bestreiten wollte. Nach dem grandiosen Stream aus dem Schauspiel Dortmund mit Kay Voges’ Inszenierung von Sarah Kanes “4.4. Psychose” hab ich dann entschieden, nur relativ knapp einige wenige Überlegungen daraus anzubringen. Die ganze Sache deswegen jetzt hier:
Reaktionen auf die Frage: “Theater-Streaming- Ja oder Nein?” oder: “I can haz livestream?”
Die erste Reaktion: Ja klar, sofort. Die Technik ist da, es ist eine großartige Chance zur Öffnung von Theatern in den digitalen Raum, die Möglichkeit die Teilhabe zu erweitern, Menschen, die aus welchen Gründen auch immer, nicht im Theaterraum anwesend sein können oder wollen Zugang zu verschaffen – immerhin ist die Access-Thematik einer der wichtigsten Bestandteile der utopischen Erzählung vom Internet. Abwesende Zuschauer bekommen Zugang, können in unterschiedlichen Orten halb-anwesend sein, Theatermacher können sich von anderen Theatermachern inspirieren lassen. Klingt toll.
Die zweite Reaktion: Wenn ihr es macht, macht es vernünftig. Die nervigen “Kameraheinis” drei Tage vor der Premiere ein paar Minuten rein- und ihr Equipment aufbauen lassen, dann die Sache irgendwie ins Netz bringen, ist ein verständlicher Ansatz angesichts der vorhandenen Arbeitsbelastung, aber es ist ein ziemlich aussichtsloser Weg.
Wenn jedes Theater sich den eigenen Stream dann nur irgendwo auf die eigene Webseite bastelt, ist die Enttäuschung vorprogrammiert. Ein paar Dutzend Zuschauer, die jeweils für ein paar Minuten schauen. Und der ganze Aufwand für die Katz.
Zu überlegen ist vielmehr, was, wie, warum, wo vorgestellt wird. Vielleicht eine gemeinsame Plattform zu schaffen. Sei es eine Netztheater-Plattform vom Bühnenverein, die alle Streams versammelt. Einen gemeinsamen YouTube-Theaterchannel. Oder sich zu überlegen, wie man Reichweite und Öffentlichkeit gewinnt etwa auf Netflix, T‑Entertain, Amazon Fire TV, Google Chromecast und Co.
Klar kann man dann auch über über Ertragsmöglichkeiten nachdenken. Schließlich bieten diese Plattformen als bezahlte Angebote die Möglichkeit, mit Inhalten auch Einnahmen zu erzielen. Aber es ist hier kein Reichtum zu erwarten. Wenn überhaupt erreichbar, wird es lange dauern bis auch nur die Streamingkosten von den Einnahmen gedeckt werden. Schon die Zeitungsverlage haben merken müssen, dass im Internet nur Lousy Pennies zu verdienen sind.
Die dritte Reaktion. Denn an diesem Punkt zeigt sich, worum es eigentlich geht, wenn über diese Form des Streamings geredet wird: Letztlich tendiert das bloße filmende Streaming dazu, sowohl Theater zum Fernsehen zu degradieren, als auch das Netz. Die vierte Wand wird zu einer undurchdringlichen Mattscheibe. Die Interaktivität des Netzes, der Rückkanal, dem sich etwa Nachtkritik geöffnet hat, wird wieder zum One-Way-Kanal man sitzt vor dem Stream wie vor der Glotze. Und wenn man auf den besagten Portalen und Angeboten eingebunden ist und Theater auf dem Plasmascreen schaut, wird der TV-Eindruck zementiert.
Theater findet im TV ja aus bestimmten Gründen nicht mehr statt. Der ZDF Theaterkanal ist nicht etwa dicht gemacht worden, weil die Masse enthusiastischer Zuschauer nicht mehr zu handhaben war. Ist dann der Nachbau eines solchen Theaterkanals mit digitalen Mitteln ein erfolgversprechenderer Weg? Solange man die digitalen Möglichkeiten nicht ernsthaft auslotet, darf daran Zweifel angemeldet werden. 2005 oder 06 hätte man mit der Meldung „Theater jetzt auch als Livestream“ vielleicht für Aufsehen und Neugier gesorgt, heute droht es, hinter der Entwicklung her zu laufen. Man muss weiter springen. Man kann das alles tun. Vielleicht sollte oder muss man es tun. Man kann aber nicht halb über den Abgrund springen. Man kann ein Pilotprojekt machen. Aber auch ein Pilot kommt nur mit einer funktionierenden Maschine zum Fliegen, sonst endet er als Crash-Test-Dummie.
Mit dieser Art des reinen Live-Streaming fällt man übrigens ja fatalerweise auch noch hinter die aktuelle Fernsehentwicklung zurück: Inzwischen muss ich nicht mehr um 8 zuhause vor der Glotze sitzen, um die Tageschau zu sehen, nicht Sonntag viertel nach acht vor dem Tatort, kann ich mir meine amerikanischen Serien ansehen, wann immer ich will. Man sollte also darüber nachdenken, ob man den Livestream anschließend archivieren und on-demand verfügbar halten muss. In einem deutschen Theaterarchiv. Wo das Publikum schauen kann, wann es will. Wo Theaterwissenschaftler endlich eine Grundlage für ihre Arbeit finden. Wo ich unterschiedliche Fausts und Hamlets vergleichen kann. Die ich im Netzwerk sharen kann. Kommentieren. Die auf nachtkritik, Spiegel Online und anderen Portalen direkt bei der Kritik eingebunden werden können.
Jedenfalls gilt diese Anmerkung so lange, wie es keinen tieferen Sinn macht, dass ich hier und jetzt diesem Stream live beiwohne. Wenn ich also nicht die Möglichkeiten des Digitalen als künstlerische Möglichkeiten des Spiels mit der digitalen Live-ness verstehe, sie an den Augenblick koppele. In dem genau jetzt passieren muss, was passiert. In dem nicht nur eine in sich geschlossene, fertige Produktion übertragen wird, die ich mir auch 3 Stunden später ansehen könnte. Sondern in der es eben Sinn macht, jetzt und genau jetzt dabei zu sein. Und in dieser Zeit vielleicht selbst als Zuschauer in Aktivitäten verwickelt zu werden. Möglichweise wäre es sogar spannender die Richtung des Streams umzukehren und den Zuschauer ins Theater zu übertragen statt anders herum.
Es geht also darum, sich künstlerisch mit dem Digitalen auseinander zu setzen. Es nicht nur als Übertragungsmittel zu begreifen; es nicht als das kleine Schwänzchen am theatralen Elefanten zu betrachten, den Rest des Elefanten aber außen vor zu lassen.
Vielmehr ist der künstlerische Umgang mit digitalen Möglichkeiten der spannendere Weg. Auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen. Wenn der Schritt zum Livestream der Schritt durch die Tür ins digitale Wunderland wird, wenn Künstler und Theatermacher hindurchgehen ohne beim bloßen Streamen stehen zu bleiben, dann kann damit etwas großartiges Neues beginnen, ein Theater des digitalen Zeitalters und der digitalen und vernetzten Gesellschaft, auf das die Dortmunder “4.48 Psychose” einen Ausblick gabmit einer Theaterarbeit, die in sich menschliche Darsteller und technische Mittel im Zusammenspiel vereint, wo sich die Streamingtechnik einfügte oder anfügte und sich als interessante und spannende Fortsetzung oder sogar Erweiterung der szenischen Mittel vor Ort zeigte.
Das verändert die Theaterkunst. So wie der Schritt aus den Freilichttheatern ins geschlossene Haus sie verändert hat, wie Tinal Lorenz schon twitterte. Wie die Elektrifizierung der Beleuchtungsanlagen sie verändert und fantastische neue Möglichkeiten eröffnet hat. Und eine digitalisierte Theaterkunst hätte dann insbesondere auch die Möglichkeit, die Auswirkungen der Vernetzung der Gesellschaft zu reflektieren und wo nötig zu kritisieren.
Das ist die Eröffnung eines neuen Spielraums und vielleicht einer neuen Sparte: des Digitaltheaters. Gleichzeitig ist es eine enorme Anstrengung. Urheberrechtsfragen. Sind Schauspieler und Regisseure und bereit, ihre Bühnenarbeit in vielleicht mittelmäßigen Videos für die Ewigkeit digital verfügbar zu machen. Auch eventuelle Fehlschläge. Verwertungsrechtliche Fragen: Wer zahlt dafür? Wer bekommt wie viel dafür? Müssen wir Teile der GEZ-Beiträge des öffentlichen Rundfunks dafür beanspruchen, dass öffentliche Einrichtungen jetzt zu neuen Sendeanstalten werden? Die inzwischen zum Diskussionsgegenstand gewordenen traditionellen Konzepte von Autorschaft werden weiter zu befragen und vielleicht nachhaltig zu verändern sein.
Ja aber: “Unsere Theatertradition?” mag jetzt jemand zum Beispiel aus einer Frankfurter Kulturredaktion rufen. Geht die Tradition nicht den Bach runter? Theater war immer eine sich verändernde Kunst, das ist vielleicht die wichtigste Theatertradition. Um wieder mal Gustav Mahler zu zitieren: „Tradition ist Bewahrung des Feuers und nicht Anbetung der Asche.“ Vielleicht heißt Theatertradition also nicht, Shakespeare-Textasche immer wieder neu zu beleben (und jetzt auch noch zu streamen), sondern sich zu fragen: Was würde Shakespeare mit den digitalen und vernetzten Möglichkeiten in einem world-wide Globe-Theatre tun?
Vierte und letzte Reaktion also: Wenn man sich diesen Fragen im Theater zu öffnen beginnt und sie wirklich ernst nimmt, dann ist das Livestreaming ein toller erster Schritt in die richtige Richtung. Wenn man mit dem Digitalen spielt UND darüber künstlerisch reflektiert – und beim Livestreaming vielleicht plötzlich sogar eine politische Haltung zur Netzneutralität und zu Open Access entwickelt.
Wenn es aber auf die anfangs geschilderte kleine Lösung hinausläuft, in der die “Videoheinis” zähneknirschend ihr Dingdong treiben dürfen frei nach Theodor Heuss: „Nun streamt mal schön“, dann kann man es tun oder lassen. Wahrscheinlich guckt dann jedenfalls wieder kein Schwein.
Der Untergang der Theaterwelt ist jedenfalls vom Livestreaming nicht zu erwarten. Wer es nicht sehen will, soll es lassen. Ob das Streaming insgesamt traditionellem Theater irgendetwas bringt (was auch immer man sich davon verspricht) — scheint mir fraglich. Man kanns probieren. Aber die Richtung in die die Dortmunder Arbeit weist ist imho die wesentlich spannendere Option: künstlerisch mit der Technik umgehen, wo der künstlerische Umgang Sinn macht. Und/oder Spaß.
Nachtrag: Von Rainer Glaap bekam ich einen schönen Artikel geschickt, der die nächste mögliche Evolutionsstufe nach dem Livestreaming aufgreift und über die Möglichkeiten von Oculus Rift nachdenkt und schreibt: “Can Oculus Cure Baumol”? Next discussion, anybody?
Updates:
Auf nachtkrtik ein Dossier mit vielen Texten zum Thema hier.
Ein Überblicks-Artikel von Beate Heine dazu auf boell.de hier.
Auf Deutschlandradio Kultur dazu ein Bericht hier.
Der Mitschnitt von der gestrigen Diskussion in der Boell-Stiftung: