Im Diskussionsthread meines Gastbeitrags auf nachtkritik (hier) fragte ein Kommentator, ob jene im Artikel geforderte Konzentration des Theaters auf das umgebende Gesellschaftliche in der Netzgesellschaft eine Politisierung beinhalte. Ich hatte mit einem Link auf meinen zwei Jahre alten Text Das Politische zurück ins Theater (hier downloadbar) darauf geantwortet. Dort hatte ich am Beispiel der Geschichtenerstellung rund um den Amoklauf von Winnenden zu zeigen versucht, wie sehr sich das Politische gerade in der Genese eines verbindlichen Dramas zeigt und zugleich verbirgt – in der Dramaturgie. Angesichts von Ereignissen, die das geübte Erzählen der Medien herausfordern und zu unterbrechen scheinen, laufen die Print‑, Radio- und Massenmedien geradezu hysterisch zu einer Hochform auf, die sich darin zeigt, dass unterschiedliche Erzählungsansätze ausprobiert werden. Und gerade der genaue Blick auf diese Erzählungen und ihre Entstehung, ihre Dramaturgie und ihre Implikationen sind es, die ein Theater zu fokussieren hat, das das Politische aufnehmen will.
Wie wird „London“ beobachtet
Es ist bedauerlich, dass gerade jetzt Klaus Kusanowsky in eine Blogpause abgetaucht ist, wäre doch aus seinem scharfen Blick auf das Beobachten vermutlich einiges an provokanten Einsichten über die Form der Beobachtung dessen, was in London sich gerade vollzieht, zu erwarten. Wie beobachten Medien die Ereignisse in London, Manchester und Birmingham? Wie beschreiben sie ihre Beobachtung, welches Drama bauen sie daraus und versuchen, es als gültige Beobachtung zu etablieren? Wird die Geschichte von Unterprivilegierten erzählt, deren ungerichtete Wut sich nunmehr „blind“ in einem Aufstand entlädt – den Aufständen in Los Angeles 1992 oder der Pariser Banlieue vergleichbar? Handelt es sich um eine englische Form der Sozialproteste, wie sie auch in Spanien zu beobachten sind? Artikuliert sich hier also soziale Ungleichheit in flammenden Fanalen? Oder handelt es sich um „Banden“, die die gegenwärtige Unübersichtlichkeit, die Unfähigkeit der sommerlich schläfrigen Ordnungsautoritäten ausnutzen, um maifertags- und hooliganhafte Randale und Krawalle anzuzetteln? Die göttliche Ina Bergmann, vormalige Würstchenbudenbesitzerin in London und einzigartige Nachtjournal-Moderatorin des ZDF, die verlängertes Wachbleiben durch unvergleichlichen Moderationsstil und Kugelschreiberartistik belohnt, brachte Montagabend sowohl die Referenz auf L.A. und Paris wie auch die Beschreibung des Geschehens als Bandenkrawall. Noch ist die Erzählung nicht ganz fertig. Noch herrscht Unsicherheit über die Einordnung. Noch ist der Raum des Politischen offen und nicht gänzlich definiert.
Spiegel Online etwa schwankt in der Bewertung der Ereignisse ähnlich wie die „Märkte“, die sich gerade am DAX austobten:
Am 07.08. schrieb man: „Aufgebrachte Bewohner setzten in der Nacht zum Sonntag mindestens zwei Polizeiwagen, einen Doppeldeckerbus sowie ein Gebäude in Brand.“ (hier)
Am 08.08.: Beobachter erklärten, die Polizei hätte große Probleme gehabt, die Randalierer unter Kontrolle zu bekommen. (hier)
Am 09.08.: Plündernde und brandschatzende Banden, die in der Nacht zum Sonntag im Nordlondoner Stadtteil Tottenham die Randale begonnen hatten, waren schon in der Nacht zum Montag in weitere Stadtteile weitergezogen. (hier)
Auch am 09.08.: Warum explodiert die Gewalt in England? Das Gefälle zwischen Arm und Reich wird immer größer, ethnische Minderheiten fühlen sich gezielt schikaniert. Eine ganze Generation sieht sich abgehängt — und ist geeint im Hass auf Eliten und Polizei. (hier)
Beim Blogger christiansoeder findet der Zusammenprall der Erzählungen ein einem einzigen Tweet Platz:
Es ist nicht einfach ein Wechsel des Beschreibungsvokabluars – sondern jede dieser Beschreibungen instituiert tendenziell ein Drama, dessen nächste Schritte bereits mehr oder minder unausgesprochen mitschwingen. Die dramatischen Formen sind zu sehr etabliert, um das zu übersehen. Mit „aufgebrachten Bewohnern“ ist anders zu verfahren, als mit „plündernden Banden“. Dabei geht es gar nicht darum, wer oder was die Beteiligten „wirklich“ oder „in Wahrheit“ sind. Das lässt sich von hier aus sowieso nicht beurteilen (das macht die Macht der Tele-Medien aus). Zudem lässt sich scheinbar auch kein „Anführer“ befragen, der erklären könnte, welchen Kollektivmotiven die Aktivitäten folgen. Es lässt sich aber sehr wohl erkennen, welche politischen Dimensionen dahinter stecken: Das Drama der „aufgebrachten Bewohner“ zöge nach sich eine Diagnose des sozialpolitischen Versagens der zuständigen Regierung inklusive der massiven Aufforderung, soziale Ungewichte zu bekämpfen. Das Drama der „marodierenden Banden“ zieht nach sich die Diagnose sicherheitspolitischen Versagens der politisch Verantwortlichen inklusive der Forderung nach schärferen Gesetzen usw. Man kennt die Lieder.
Spaßeshalber habe ich dieselbe Erzählform auf die Finanzmärkte projiziert — funktioniert auch:
Das Politische und der aristotelische Mythos
Aus der aristotelischen Poetik ist der Begriff der Mythos übernehmbar, der etwas ganz anderes meint als seine platte neuzeitliche Übersetzung als Legende, Märchen, Plot oder Story. Aristoteles schreibt:
Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung (systasis) der Geschehnisse
„Mythos“ ist ein struktureller Begriff, der beschreibt, wie die einzelnen Elemente, Situationen, Aktionen usw. miteinander verknüpft sind. Dabei bemisst sich die Qualität des einen oder anderen Mythos nicht daran, inwieweit er auf Tasächliches zurück verweist, sondern begründet seine Qualität aus sich selbst:
Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.
Die Regeln der Notwendigkeit und des Möglichen dominieren in der Qualifizierung des Mythos. Es muss in sich stimmig sein. Neben der Auswahl dessen, was als „relevant“ gelten und Nachricht werden kann (Redaktion — Filterfunktion), der Ausbildung und Organisation professioneller und deswegen glaubwürdiger Augenzeugen („Journalisten vor Ort“ — Dokumentschema), ist diese „mythopoietische“ Funktion die dritte und gesellschaftspolitisch mächtigste Funktion der Massenmedien. Und es ist eine Macht, die nicht einfach nur über Geschehenes berichtet, über Politik etwa. Sondern es ist eine Macht, die Macht auf Politik und politische Akteure ausübt, die ohne weiteres Zutun in diese dramatische Erzählung eingebaut, mit Bewertungen ihrer Arbeit und konkreten politischen Handlungsforderungen konfrontiert werden . Die (massenmedialen) Erzähler üben eine politische Macht aus, in dem sie politische Akteure einbinden in ihre Erzählung. Zugleich versuchen die politischen Akteure, ihre eigene Erzählung den massenmedialen Erzählungen anzupassen oder entgegen zu setzen. Sie kommen gar nicht darum herum, sich zu diesen Erzählungen zu verhalten, weil die Bühne politische Handelns weitestgehend von den Massenmedien bestimmt wird – und die Massenmedien im Zweifelsfall immer das letzte Wort haben. Allerdings – und das macht die gegenwärtige Lage besonders, befinden wir uns nicht mehr in einer rein massenmedialen Gesellschaft, sondern in einer gleichzeitig erstarkenden Netzgesellschaft. Und das führt dazu, dass das Erzählen sich in einer Krise befindet.
Die gegenwärtigen Krisen sind Erzählungskrisen
Auch in der gerade so kritischen Situation der Finanzpolitik geht es um Erzählungen. Aus traditioneller Zurichtung heraus suchen sowohl die politischen Akteure als auch die Massenmedien nach Erzählungen. Und sie suchen nach shakespeare’schen Figuren. Momentan scheinen ausnahmsweise Hedgefonds nicht als Hauptakteure zu taugen. Vielmehr werden andere Akteure massiv in den Vordergrund geschoben: Die Rating-Agenturen, die ebenfalls nichts anderes sind, als neue große Erzähler. Sie erzählen die Geschichte vom Wohl und Wehe von Unternehmen und Staaten. Sie definieren die Situation und geben Ausblicke, wie das Drama wohl weiter gehen wird. Momentan haben sowohl Massenmedien wie auch politische Akteure, in einer fast schon rührenden Bemühen um die Fortsetzung der alten Erzählform der Massenmediengesellschaft, diese Ratingagenturen zu den großen Schurken ernannt., Über ihre Erzählung wird versucht, eine Erzählung zu erzählen. Die Agenturen, die sich als Autor(ität)en gerieren, sollen selbst Teil einer Metaerzählung werden, etwa einer, in der diesen Schurken der weiße Ritter einer Europäischen Ratingagentur entgegen gestellt wird, wie Gary Cooper den bösen Buben in HighNoon.
Gleichzeitig lassen sich Stimmen hören, die kritisieren, dass Europa nicht mit „einer Stimme“ spricht, dass es also keinen einzelnen Erzähler gibt, der die gültige Situationsdefinition und daraus abzuleitende Dramaturgie vorstellt und installiert. Vielmehr gibt es politische Vielstimmigkeit – gleichzeitig in den USA einen großen Erzähler, dem niemand mehr glaubt (a.k.a. The President), weil er sich selbst wiederum in der Erzählung der Ratingagenturen befindet, die in der nächsten Erzählebene wiederum selbst zum Teil einer Erzählung werden. Und ohne sich um irgendwelche Erzählungen zu kümmern, agieren „die Akteure“ alias die Märkte, die ein Phantom sind. Und die sich keiner traditionellen Erzählung (etwa von Unternehmensanalysten, Chefvolkswirten, Finanzpolitikern, Finanzjournalisten usw.) unterordnen, sondern eigentlich viel eher als Schwarm agieren, der allerdings eben niemals konstituierter Schwarm ist, sondern aus einer Masse von Einzelbewegungen sich zusammensetzt, die im normalen Tagesgeschäft in die unterschiedlichsten Richtungen agieren, aber in dem Moment, wo sie ohne explizite Abstimmung in großer Zahl in dieselbe Richtung flattern, zu massiven Verwerfungen führen.
Klassische Gegendramaturgie – und postdramatisches Agieren in Netzen und Schwärmen
Bleibt man in der klassischen Form von Erzählung und Gegenerzählung, der Form also, die in Libyen betrieben wird und die die Erzählung der demokratischen Befreiungsbewegung durch die Erzählung von marodierenden, kriminellen Banden bekämpft, so wäre die einzig sinnvolle Aktivität der Regierungen, der Rating-Erzählung eine eigene Erzählung entgegen zu stellen – wie einstmals CDU und SPD mit eigenen Erzählungen antraten. Eine solche etwa, die die Krawalle an den Börsen marginalisiert und eben als das Werk von Schurken erlebbar macht. Solche Erzählungen rund um den „Spekulanten“ sind ja durchaus vorfindlich und könnten zum Einsatz kommen. Ebenso könnte Politik die Erzählung versuchen, es handele sich nicht um politisch relevante Geschehnisse, da die Aktienmärkt nun einmal wechselhaft sind wie das Wetter, man bei Regen halt im Trockenen bleiben sollte, bei Sonnenschein genießen kann. Es wäre nicht ausgemacht, welche Erzählung obsiegen wird. Es wäre aber eine politische Machtprobe. Nur – in der Netzgesellschaft ist dieser Kampf der Erzählungen längst nicht mehr gewinnbar. Weil die großen Erzähler fehlen – weil ihnen keiner mehr folgt, der sie „groß“ macht.
Wer ist der Akteuer der Krise? Wer ist der Akteur bzw. Erzähler der Jasminrevolution? Wer ist der Erzähler in Stuttgart21. Sie alle haben gemeinsam, dass es keine großen Erzähler gibt. In der Finanzkrise wird diese Verlegenheit mit dem Verweis auf die ominöse Figur „die Märkte“ adressiert. In Syrien als „das Volk“. Diese Scheinsubjekte lassen sich bei genauerer Betrachtung aber nicht mehr als Subjekte greifen. Ebensowenig wie die „öffentliche Meinung“, die nicht mehr von Leitmedien gemacht und erzählt wird, sondern von zahllosen Twitterern, Bloggern, Foto-Uploadern. Diese Partizipanten (nennen wir sie so anstelle von Akteuren) handeln in ihrem Grundzug chaotisch. Es lässt sich kein definierbares „wir“ erkennen, das von einzelnen Köpfen bzw. Erzählern geführt wird. Die Jasminrevolutionen haben keine Che‘, keine Lenins, keine Schorlemmers und Bohleys. Sie haben, wie Volker Perthes letzte Woche treffend im Interview in der FR festgestellt hat, keine Köpfe:
Wer ist die syrische Opposition?
Die Anti-Assad-Bewegung besteht aus vielen, vielen unbekannten Leuten, die lokal organisiert sind und sich zunehmend im ganzen Land vernetzt haben. Dass sie niemand kennt, ist ihr Vorteil und ihr Nachteil zugleich. Ein Nachteil, weil ausländische Regierungen fragen: Mit wem sollen wir sprechen? Ein Vorteil, weil die syrischen Geheimdienste keine Akten über diese Oppositionellen haben. Das Regime war ebenso überrascht über die Opposition wie das Ausland.
Dasselbe ließe sich über „die Märkte“ sagen. Dass die sich an Erzählungen ausrichten, sich Erzählungen unterordnen und ihr Handeln nach diesen Erzählungen einrichtete, ist beim besten Willen nicht zu sehen. Niemand weiß, wie die Revolutions- oder Marktteilnehmer sich verhalten werden. Ebenso wenig die S21-Protestierer (auch wenn in Geißlers Stuttgarter Puppenkiste versucht wird, ein hübsches Drama aufzuführen durch Zusammenstellung zweier dramatischer Kontrahentengruppen, den Capulets und Montagues gleich).
Die Macht hat, wer die eigene Erzählung durchsetzen kann
In der noch existierenden (Massen-)Mediengesellschaft hat die Macht, wer die eigene Erzählung durchsetzen kann. Das ist spätestens seit dem Propagandaminsterium Goebbels der Fall. Das begrenzte Vorhandensein, die Knappheit von Erzählmedien wie Zeitungen, Radiosenderns, fernsehsendern sorgte dafür, dass die Macht sich zentralisieren konnte. Revolutionäre wie Stauffenberg konzentrierten sich deswegen darauf, möglichst bereits im ersten Handstreich die reichweitenstärksten Medien unter Kontrolle zu bringen und die Erzählung zu kontrollieren. Das ist in der Netzgesellschaft nicht mehr möglich. Auch hier wandeln sich die zentralisierten Massenmedien in Schwärme mit nicht vorhersehbaren Bewegungen. Eine Unzahl von Bloggern, Twitterern, Facebook Sharern, Google Plussern, YouTube und flickr Uploadern steuern Inhalte bei, die zumeist nur von Mikroöffentlichkeiten zur Kenntnis genommen werden – dem chaotischen Verhalten an den Aktienmärkten vergleichbar, an denen zahllose Aktien ge- und verkauft werden. Wo sich letztlich der Präferenzpluralimus aber mit nur kleinen Abweichungsbewegungen in der Gesamtschau zeigt. Wie der DAX Tag für Tag um ein ein paar Pünktchen nach oben oder unten schwankt, weil Käufe und Verkäufe sich die Waage halten, so schwankt auch die Netzöffentlichkeit zumeist nur leicht, weil sich auch hier die Kräfte zum Teil ausgleichen. Es kann aber in jedem Augenblick geschehen, dass sich aus den Mikroöffentlichkeiten Massenöffentlichkeit schwarmhaft konstituiert. Der Fall Guttenberg zeigte solch ein Verhalten. Plötzlich war – ohne dass ein Revolutionsführer sichtbar würde – eine breite Bewegung zu erkennen, die sich zugleich über ein Thema (einer Einzelwährung vergleichbar) her machte und gegen ihn wettete. Das brachte den Guttenberg-Kurs zum Absturz – und sorgte bei einigen Betrachtern für die verständnislose Bemerkung, die Fundamentalwerte des Ministers hätten sich doch nicht geändert (welche auch immer das gewesen sein mögen). Kein Machthaber war zu sehen, der seine Erzählung durchzusetzen versuchte. Im Gegenteil: Die traditionelle Regierungsmacht zeigte sich in etwa so hilflos, wie die maghrebinischen Despoten oder die Finanzminister heute. Anders gesagt: Wie geradezu paradiesisch einfach es war, einen Sack voll Flöhe zu hüten, zeigt sich erst, wenn man dieselbe Aufgabe ohne Sack erledigen muss.
Die Krise der Erzählung und das Postdramna
Das Erzählen und Mythisieren funktioniert nicht mehr wie gewohnt. Die letzten verzweifelten Versuche, in Aufständen, Marktbewegungen, Öffentlichkeitsbildungen eine klassische Erzählform zu verankern, erweisen sich immer mehr als bodenlos. Das lässt (vermutlich eher unreflektiert) auch das Drama in die Krise geraten. Denn gerade die dramatische Mythik, nennen wir sie der Einfachheit halber: Die Shakrespeare’sche Dramaturgie, bestand ja darin, eine bestimmte Erzählung zu wählen und durchzusetzen. Eine gültige Erzählung. Eine gültige Deutung. In der Aneignung solcher Erzählformen sowohl durch Politik wie auch durch Massenmedien wurde nicht nur das dramatische Theater seines Eigensten beraubt (wie die realistische Malerei etwa durch die Fotografie beraubt wurde), sondern es ermangelt dieser Erzählung auch die Macht, die sie in der Vergangenheit entfaltete. Mächtigere als das Theater haben sich der dramatischen Erzählform angenommen und Theater sind natürlich viel zu unbedeutend, um den Machterzählungen andere Erzählungen entgegen zu setzen. Zudem dürfte es natürlich den Dramatikern auch an Werkzeugen gebrechen, eigene Erzählungen tatsächlich zu formen, die das Zeug dazu hätten, sich der Herrschaftserzählung entgegen zu setzen. So wäre denn Aufgabe des Postdramatischen, die Künstlichkeit der Mythopoietik darzustellen. Nicht einfach nur wie Kurosawa in Rashomon bzw. Hollywood in The Outrage. Sondern in der simplen Konfrontation der Erzählungen. Darin liegt das Metadrama und Postdrama, das allein als Form in der Lage ist, mit den geraubten Formen umzugehen.
Nach der Erzählmacht: Die Kontrollmacht
Das Ende der Erzählmacht ist nicht das Ende der Macht – es ist der Beginn der Kontrollmacht. In zahlreichen Artikeln hat Michael Seemann viel Kluges dazu geschrieben und seine Utopie des Kontrollverlusts vorgetragen, eine Utopie, die letztlich darin besteht, den Kontrollverlust über Privatheit und Daten als Befreiung, als totale Transparenz anzunehmen und unter diesen Bedingungen zu leben: Das Recht des Anderen auf Einblick hinzunehmen und ihm nachzugeben als eine Ethik- er schreibt hier von „vorauseilender Kapitulation“.
Darüber kann man sich streiten – allerdings zeigt London gerade auch, wie dieser Kontrollverlust zugleich einen immensen Kontrollgewinn bei staatlichen Stellen mit sich bringen kann: Die Handy-Firma Blackberry bot der britischen Regierung die Auslieferung von Verbindungsdaten und wohl auch Chat-Inhalten von allen Kunden an, die sich zur Zeit der Unruhen im betroffenen Gebiet aufhielten. Das macht eine technologische Infrastruktur sichtbar, die weit entfernt davon ist, Kontrollverlust zu sein. Automatisiert lassen sich Bewegungsprofile und Inhaltsprotokolle aufzeichnen und nach bestimmten Kriterien automatisiert durchsuchen und aufbereiten. Es ist ein Einfaches, sich in Echtzeit darüber ein Bild zu verschaffen, wer sich gerade wo befindet. Es ist ebenso einfach, in Echtzeit nach bestimmten Keywords ausgerichtet sich anzeigen zu lassen, welche Debatte gerade wo geführt wird. Da diese Dateiinhalte von den meisten Usern als „Privatmitteilungen verstanden werden, die niemand mitliest außer der Adressat (als handele es sich um Briefe), wird im Netz offen über alles Mögliche geplaudert – und damit identifizierbar für staatliche Stellen, die sich der Monitoringtechnologien bedienen.
Um es in der analogen Welt mit einer Analogie zu versehen: Dieses Monitoring bringt in etwa die Ergebnisse, als würde ein Agent jederzeit jeden Schritt eines Bürgers mitverfolgen, ihm jeden einzelnen Meter anchgehen, trübe dies in eine Karte ein, fragte im Fotoladen nach allen Fotos, die die Zielperson gemacht hat, bei den Banken nach allen Kontobewegungen. Er wäre bei jedem Telefonat, jedem Vier-Augen-Gespräch dabei und schriebe es mit. Er wüsste über die Zielperson alles – und noch mehr als die Zielperson über sich selbst. Das Netz als inoffizieller Mitarbeiter staatlicher Stellen muss nicht einmal zum möglichen Werkzeug totalitärer Regierungen werden. Diese beschriebene Form des Einsatzes der Überwachung macht jede Regierung selbst zu einer autoritären Regierung. Das zu verstehen, hieße, einen Schritt in die Netzgesellschaft gemacht zu haben.
An dieser Linie wird die Schlacht um Bürgerrechte und Demokratie für die nächsten Jahrzehnte geschlagen. Kann es den staatlichen Stellen erlaubt werden, Überwachungssysteme zu installieren, die der Stasi das Wasser in die Augen getrieben hätte? Oder wird die Kontrollmacht, die jederzeit Vollzugriff auf alle Daten hat, die Bürger damit als elektronisch fußgefesselt insgesamt zu Untersuchungshäftlingen macht, in die Schranken gewiesen und unter demokratische Kontrolle gestellt?
Wer übernimmt die gesellschaftsbildende Funktion der Massenmedien?
Spannender Weise kommt Seemann im Nachdenken über den Massenmörder von Norwegen (hier) zu einer selbstkritischen Betrachtung seiner „Queryology“ und der damit einhergehenden gefahr der Verkapselung von Individuen in Filterbubbles, die entstehen, weil sich auf das Nutzerverhalten anpassende Informationslieferanten dazu führen, dass der User nur noch sieht, was er eigentlich immer schon wusste: dass der Rassist also nur Rassistisches sehen und lesen wird und glaubt, die Welt sei genauso rassistisch wie er.
Seemann blickt zurück auf die ja auch hier im Blog schon beschriebene Funktion der Massenmedien, Gesellschaft zu ermöglichen durch Bereitstellung eines Konversationszusammenhangs. Sein Posting endet: „Wir müssen Alternativen finden, zum Gemeinsamen. Doch wen meine ich überhaupt mit “wir“?“. Die Antwort kann nicht mehr aus den verbindlichen Erzählungen kommen, denen ein „wir“ sich unterordnet, sie kommt auch nicht mehr durch die geschlossen vor den Volksempfängern versammelte Volksmasse. Alles andere – scheint offen zu sein. Theater sind übrigens herausragende Orte, um diese Fragen zu stellen und zu bearbeiten. Ohne dramatische Erzählungen.