Feuer in London, Finanzkrise, Erzählmacht und ctrl-Gewinn

August 10th, 2011 Kommentare deaktiviert für Feuer in London, Finanzkrise, Erzählmacht und ctrl-Gewinn

Im Dis­kus­si­ons­th­read mei­nes Gast­bei­trags auf nacht­kri­tik (hier) frag­te ein Kom­men­ta­tor, ob jene im Arti­kel gefor­der­te Kon­zen­tra­ti­on des Thea­ters auf das umge­ben­de Gesell­schaft­li­che in der Netz­ge­sell­schaft eine Poli­ti­sie­rung beinhal­te. Ich hat­te mit einem Link auf mei­nen zwei Jah­re alten Text Das Poli­ti­sche zurück ins Thea­ter (hier down­load­bar) dar­auf geant­wor­tet. Dort hat­te ich am Bei­spiel der Geschich­ten­er­stel­lung rund um den Amok­lauf von Win­nen­den zu zei­gen ver­sucht, wie sehr sich das Poli­ti­sche gera­de in der Gene­se eines ver­bind­li­chen Dra­mas zeigt und zugleich ver­birgt – in der Dra­ma­tur­gie. Ange­sichts von Ereig­nis­sen, die das geüb­te Erzäh­len der Medi­en her­aus­for­dern und zu unter­bre­chen schei­nen, lau­fen die Print‑, Radio- und Mas­sen­me­di­en gera­de­zu hys­te­risch zu einer Hoch­form auf, die sich dar­in zeigt, dass unter­schied­li­che Erzäh­lungs­an­sät­ze aus­pro­biert wer­den. Und gera­de der genaue Blick auf die­se Erzäh­lun­gen und ihre Ent­ste­hung, ihre Dra­ma­tur­gie und ihre Impli­ka­tio­nen sind es, die ein Thea­ter zu fokus­sie­ren hat, das das Poli­ti­sche auf­neh­men will.

Wie wird „Lon­don“ beobachtet

Es ist bedau­er­lich, dass gera­de jetzt Klaus Kus­anow­sky in eine Blog­pau­se abge­taucht ist, wäre doch aus sei­nem schar­fen Blick auf das Beob­ach­ten ver­mut­lich eini­ges an pro­vo­kan­ten Ein­sich­ten über die Form der Beob­ach­tung des­sen, was in Lon­don sich gera­de voll­zieht, zu erwar­ten. Wie beob­ach­ten Medi­en die Ereig­nis­se in Lon­don, Man­ches­ter und Bir­ming­ham? Wie beschrei­ben sie ihre Beob­ach­tung, wel­ches Dra­ma bau­en sie dar­aus und ver­su­chen, es als gül­ti­ge Beob­ach­tung zu eta­blie­ren? Wird die Geschich­te von Unter­pri­vi­le­gier­ten erzählt, deren unge­rich­te­te Wut sich nun­mehr „blind“ in einem Auf­stand ent­lädt – den Auf­stän­den in Los Ange­les 1992 oder der Pari­ser Ban­lieue ver­gleich­bar? Han­delt es sich um eine eng­li­sche Form der Sozi­al­pro­tes­te, wie sie auch in Spa­ni­en zu beob­ach­ten sind? Arti­ku­liert sich hier also sozia­le Ungleich­heit in flam­men­den Fana­len? Oder han­delt es sich um „Ban­den“, die die gegen­wär­ti­ge Unüber­sicht­lich­keit, die Unfä­hig­keit der som­mer­lich schläf­ri­gen Ord­nungs­au­tori­tä­ten aus­nut­zen, um mai­fer­tags- und hoo­li­g­an­haf­te Ran­da­le und Kra­wal­le anzu­zet­teln? Die gött­li­che Ina Berg­mann, vor­ma­li­ge Würst­chen­bu­den­be­sit­ze­rin in Lon­don und ein­zig­ar­ti­ge Nacht­jour­nal-Mode­ra­to­rin des ZDF, die ver­län­ger­tes Wach­blei­ben durch unver­gleich­li­chen Mode­ra­ti­ons­stil und Kugel­schrei­ber­ar­tis­tik belohnt, brach­te Mon­tag­abend sowohl die Refe­renz auf L.A.  und Paris wie auch die Beschrei­bung des Gesche­hens als Ban­den­kra­wall. Noch ist die Erzäh­lung nicht ganz fer­tig. Noch herrscht Unsi­cher­heit über die Ein­ord­nung. Noch ist der Raum des Poli­ti­schen offen und nicht gänz­lich definiert.

Spie­gel Online etwa schwankt in der Bewer­tung der Ereig­nis­se ähn­lich wie die „Märk­te“, die sich gera­de am DAX austobten:

Am 07.08. schrieb man: „Auf­ge­brach­te Bewoh­ner setz­ten in der Nacht zum Sonn­tag min­des­tens zwei Poli­zei­wa­gen, einen Dop­pel­de­cker­bus sowie ein Gebäu­de in Brand.“ (hier)

Am 08.08.: Beob­ach­ter erklär­ten, die Poli­zei hät­te gro­ße Pro­ble­me gehabt, die Ran­da­lie­rer unter Kon­trol­le zu bekom­men. (hier)

Am 09.08.: Plün­dern­de und brand­schat­zen­de Ban­den, die in der Nacht zum Sonn­tag im Nord­lon­do­ner Stadt­teil Tot­ten­ham die Ran­da­le begon­nen hat­ten, waren schon in der Nacht zum Mon­tag in wei­te­re Stadt­tei­le wei­ter­ge­zo­gen. (hier)

Auch am 09.08.: War­um explo­diert die Gewalt in Eng­land? Das Gefäl­le zwi­schen Arm und Reich wird immer grö­ßer, eth­ni­sche Min­der­hei­ten füh­len sich gezielt schi­ka­niert. Eine gan­ze Gene­ra­ti­on sieht sich abge­hängt — und ist geeint im Hass auf Eli­ten und Poli­zei. (hier)

Beim Blog­ger chris­ti­ans­oeder fin­det der Zusam­men­prall der Erzäh­lun­gen ein einem ein­zi­gen Tweet Platz:

Es ist nicht ein­fach ein Wech­sel des Beschrei­bungs­vo­ka­bluars – son­dern jede die­ser Beschrei­bun­gen insti­tu­iert ten­den­zi­ell ein Dra­ma, des­sen nächs­te Schrit­te bereits mehr oder min­der unaus­ge­spro­chen mit­schwin­gen. Die dra­ma­ti­schen For­men sind zu sehr eta­bliert, um das zu über­se­hen. Mit „auf­ge­brach­ten Bewoh­nern“ ist anders zu ver­fah­ren, als mit „plün­dern­den Ban­den“. Dabei geht es gar nicht dar­um, wer oder was die Betei­lig­ten „wirk­lich“ oder „in Wahr­heit“ sind. Das lässt sich von hier aus sowie­so nicht beur­tei­len (das macht die Macht der Tele-Medi­en aus). Zudem lässt sich schein­bar auch kein „Anfüh­rer“ befra­gen, der erklä­ren könn­te, wel­chen Kol­lek­tiv­mo­ti­ven die Akti­vi­tä­ten fol­gen.  Es lässt sich aber sehr wohl erken­nen, wel­che poli­ti­schen Dimen­sio­nen dahin­ter ste­cken: Das Dra­ma der „auf­ge­brach­ten Bewoh­ner“ zöge nach sich eine Dia­gno­se des sozi­al­po­li­ti­schen Ver­sa­gens der zustän­di­gen Regie­rung inklu­si­ve der mas­si­ven Auf­for­de­rung, sozia­le Unge­wich­te zu bekämp­fen. Das Dra­ma der „maro­die­ren­den Ban­den“ zieht nach sich die Dia­gno­se sicher­heits­po­li­ti­schen Ver­sa­gens der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen inklu­si­ve der For­de­rung nach schär­fe­ren Geset­zen usw. Man kennt die Lieder.

Spa­ßes­hal­ber habe ich die­sel­be Erzähl­form auf die Finanz­märk­te pro­ji­ziert — funk­tio­niert auch:

Das Poli­ti­sche und der aris­to­te­li­sche Mythos

Aus der aris­to­te­li­schen Poe­tik ist der Begriff der Mythos über­nehm­bar, der etwas ganz ande­res meint als sei­ne plat­te neu­zeit­li­che Über­set­zung als Legen­de, Mär­chen, Plot oder Sto­ry. Aris­to­te­les schreibt:

Ich ver­ste­he hier unter Mythos die Zusam­men­set­zung (systa­sis) der Geschehnisse

„Mythos“ ist ein struk­tu­rel­ler Begriff, der beschreibt, wie die ein­zel­nen Ele­men­te, Situa­tio­nen, Aktio­nen usw. mit­ein­an­der ver­knüpft sind. Dabei bemisst sich die Qua­li­tät des einen oder ande­ren Mythos nicht dar­an, inwie­weit er auf Tasäch­li­ches zurück ver­weist, son­dern begrün­det sei­ne Qua­li­tät aus sich selbst:

Aus dem Gesag­ten ergibt sich auch, daß es nicht Auf­ga­be des Dich­ters ist mit­zu­tei­len, was wirk­lich gesche­hen ist, son­dern viel­mehr, was gesche­hen könn­te, d. h. das nach den Regeln der Wahr­schein­lich­keit oder Not­wen­dig­keit Mögliche.

Die Regeln der Not­wen­dig­keit und des Mög­li­chen domi­nie­ren in der Qua­li­fi­zie­rung des Mythos. Es muss in sich stim­mig sein.  Neben der Aus­wahl des­sen, was als „rele­vant“  gel­ten und Nach­richt wer­den kann (Redak­ti­on — Fil­ter­funk­ti­on), der Aus­bil­dung und Orga­ni­sa­ti­on pro­fes­sio­nel­ler und des­we­gen glaub­wür­di­ger Augen­zeu­gen („Jour­na­lis­ten vor Ort“ — Doku­ment­sche­ma), ist die­se „mytho­poie­ti­sche“ Funk­ti­on die drit­te und gesell­schafts­po­li­tisch mäch­tigs­te Funk­ti­on der Mas­sen­me­di­en. Und es ist eine Macht, die nicht ein­fach nur über Gesche­he­nes berich­tet, über Poli­tik etwa. Son­dern es ist eine Macht, die Macht auf Poli­tik und poli­ti­sche Akteu­re aus­übt, die ohne wei­te­res Zutun in die­se dra­ma­ti­sche Erzäh­lung ein­ge­baut, mit Bewer­tun­gen ihrer Arbeit und kon­kre­ten poli­ti­schen Hand­lungs­for­de­run­gen kon­fron­tiert wer­den . Die (mas­sen­me­dia­len) Erzäh­ler üben eine poli­ti­sche Macht aus, in dem sie poli­ti­sche Akteu­re ein­bin­den in ihre Erzäh­lung. Zugleich ver­su­chen die poli­ti­schen Akteu­re, ihre eige­ne Erzäh­lung den mas­sen­me­dia­len Erzäh­lun­gen anzu­pas­sen oder ent­ge­gen zu set­zen. Sie kom­men gar nicht dar­um her­um, sich zu die­sen Erzäh­lun­gen zu ver­hal­ten, weil die Büh­ne poli­ti­sche Han­delns wei­test­ge­hend von den Mas­sen­me­di­en bestimmt wird – und die Mas­sen­me­di­en im Zwei­fels­fall immer das letz­te Wort haben. Aller­dings – und das macht die gegen­wär­ti­ge Lage beson­ders, befin­den wir uns nicht mehr in einer rein mas­sen­me­dia­len Gesell­schaft, son­dern in einer gleich­zei­tig erstar­ken­den Netz­ge­sell­schaft. Und das führt dazu, dass das Erzäh­len sich in einer Kri­se befindet.

Die gegen­wär­ti­gen Kri­sen sind Erzählungskrisen

Auch in der gera­de so kri­ti­schen Situa­ti­on der Finanz­po­li­tik geht es um Erzäh­lun­gen. Aus tra­di­tio­nel­ler Zurich­tung her­aus suchen sowohl die poli­ti­schen Akteu­re als auch die Mas­sen­me­di­en nach Erzäh­lun­gen. Und sie suchen nach shakespeare’schen Figu­ren. Momen­tan schei­nen aus­nahms­wei­se Hedge­fonds nicht als Haupt­ak­teu­re zu tau­gen. Viel­mehr wer­den ande­re Akteu­re mas­siv in den Vor­der­grund gescho­ben: Die Rating-Agen­tu­ren, die eben­falls nichts ande­res sind, als neue gro­ße Erzäh­ler. Sie erzäh­len die Geschich­te vom Wohl und Wehe von Unter­neh­men und Staa­ten. Sie defi­nie­ren die Situa­ti­on und geben Aus­bli­cke, wie das Dra­ma wohl wei­ter gehen wird. Momen­tan haben sowohl Mas­sen­me­di­en wie auch poli­ti­sche Akteu­re, in einer fast schon rüh­ren­den Bemü­hen um die Fort­set­zung der alten Erzähl­form der Mas­sen­me­di­en­ge­sell­schaft, die­se Rating­agen­tu­ren zu den gro­ßen Schur­ken ernannt., Über ihre Erzäh­lung wird ver­sucht, eine Erzäh­lung zu erzäh­len. Die Agen­tu­ren, die sich als Autor(ität)en gerie­ren, sol­len selbst Teil einer Metaer­zäh­lung wer­den, etwa einer, in der die­sen Schur­ken der wei­ße Rit­ter einer Euro­päi­schen Rating­agen­tur ent­ge­gen gestellt wird, wie Gary Coo­per den bösen Buben in HighNoon.

Gleich­zei­tig las­sen sich Stim­men hören, die kri­ti­sie­ren, dass Euro­pa nicht mit „einer Stim­me“ spricht, dass es also kei­nen ein­zel­nen Erzäh­ler gibt, der die gül­ti­ge Situa­ti­ons­de­fi­ni­ti­on und dar­aus abzu­lei­ten­de Dra­ma­tur­gie vor­stellt und instal­liert. Viel­mehr gibt es poli­ti­sche Viel­stim­mig­keit – gleich­zei­tig in den USA einen gro­ßen Erzäh­ler, dem nie­mand mehr glaubt (a.k.a. The Pre­si­dent), weil er sich selbst wie­der­um in der Erzäh­lung der Rating­agen­tu­ren befin­det, die in der nächs­ten Erzähl­ebe­ne wie­der­um selbst zum Teil einer Erzäh­lung wer­den. Und ohne sich um irgend­wel­che Erzäh­lun­gen zu küm­mern, agie­ren „die Akteu­re“ ali­as die Märk­te, die ein Phan­tom sind.  Und die sich kei­ner tra­di­tio­nel­len Erzäh­lung (etwa von Unter­neh­mens­ana­lys­ten, Chef­volks­wir­ten, Finanz­po­li­ti­kern, Finanz­jour­na­lis­ten usw.) unter­ord­nen, son­dern eigent­lich viel eher als Schwarm agie­ren, der aller­dings eben nie­mals kon­sti­tu­ier­ter Schwarm ist, son­dern aus einer Mas­se von Ein­zel­be­we­gun­gen sich zusam­men­setzt, die im nor­ma­len Tages­ge­schäft in die unter­schied­lichs­ten Rich­tun­gen agie­ren, aber in dem Moment, wo sie ohne expli­zi­te Abstim­mung in gro­ßer Zahl in die­sel­be Rich­tung flat­tern, zu mas­si­ven Ver­wer­fun­gen führen.

Klas­si­sche Gegen­dra­ma­tur­gie – und post­dra­ma­ti­sches Agie­ren in Net­zen und Schwärmen

Bleibt man in der klas­si­schen Form von Erzäh­lung und Gegen­er­zäh­lung, der Form also, die in Liby­en betrie­ben wird und die die Erzäh­lung der demo­kra­ti­schen Befrei­ungs­be­we­gung durch die Erzäh­lung von maro­die­ren­den, kri­mi­nel­len Ban­den bekämpft, so wäre die ein­zig sinn­vol­le Akti­vi­tät der Regie­run­gen, der Rating-Erzäh­lung eine eige­ne Erzäh­lung ent­ge­gen zu stel­len – wie einst­mals CDU und SPD mit eige­nen Erzäh­lun­gen antra­ten. Eine sol­che etwa, die die Kra­wal­le an den Bör­sen mar­gi­na­li­siert und eben als das Werk von Schur­ken erleb­bar macht. Sol­che Erzäh­lun­gen rund um den „Spe­ku­lan­ten“ sind ja durch­aus vor­find­lich und könn­ten zum Ein­satz kom­men. Eben­so könn­te Poli­tik die Erzäh­lung ver­su­chen, es han­de­le sich nicht um poli­tisch rele­van­te Gescheh­nis­se, da die Akti­en­märkt nun ein­mal wech­sel­haft sind wie das Wet­ter, man bei Regen halt im Tro­cke­nen blei­ben soll­te, bei Son­nen­schein genie­ßen kann. Es wäre nicht aus­ge­macht, wel­che Erzäh­lung obsie­gen wird. Es wäre aber eine poli­ti­sche Macht­pro­be. Nur – in der Netz­ge­sell­schaft ist die­ser Kampf der Erzäh­lun­gen längst nicht mehr gewinn­bar. Weil die gro­ßen Erzäh­ler feh­len – weil ihnen kei­ner mehr folgt, der sie „groß“ macht.

Wer ist der Akteu­er der Kri­se? Wer ist der Akteur bzw. Erzäh­ler der Jas­min­re­vo­lu­ti­on? Wer ist der Erzäh­ler in Stuttgart21. Sie alle haben gemein­sam, dass es kei­ne gro­ßen Erzäh­ler gibt. In der Finanz­kri­se wird die­se Ver­le­gen­heit mit dem Ver­weis auf die omi­nö­se Figur „die Märk­te“ adres­siert. In Syri­en als „das Volk“. Die­se Schein­sub­jek­te las­sen sich bei genaue­rer Betrach­tung aber nicht mehr als Sub­jek­te grei­fen. Eben­so­we­nig wie die „öffent­li­che Mei­nung“, die nicht mehr von Leit­me­di­en gemacht und erzählt wird, son­dern von zahl­lo­sen Twit­te­rern, Blog­gern, Foto-Uploa­dern. Die­se Par­ti­zi­pan­ten (nen­nen wir sie so anstel­le von Akteu­ren) han­deln in ihrem Grund­zug chao­tisch. Es lässt sich kein defi­nier­ba­res „wir“ erken­nen, das von ein­zel­nen Köp­fen bzw. Erzäh­lern geführt wird. Die Jas­min­re­vo­lu­tio­nen haben kei­ne Che‘, kei­ne Lenins, kei­ne Schor­lem­mers und Boh­leys. Sie haben, wie Vol­ker Per­thes letz­te Woche tref­fend im Inter­view in der FR fest­ge­stellt hat, kei­ne Köpfe:

Wer ist die syri­sche Opposition?

Die Anti-Assad-Bewe­gung besteht aus vie­len, vie­len unbe­kann­ten Leu­ten, die lokal orga­ni­siert sind und sich zuneh­mend im gan­zen Land ver­netzt haben. Dass sie nie­mand kennt, ist ihr Vor­teil und ihr Nach­teil zugleich. Ein Nach­teil, weil aus­län­di­sche Regie­run­gen fra­gen: Mit wem sol­len wir spre­chen? Ein Vor­teil, weil die syri­schen Geheim­diens­te kei­ne Akten über die­se Oppo­si­tio­nel­len haben. Das Regime war eben­so über­rascht über die Oppo­si­ti­on wie das Ausland.

Das­sel­be lie­ße sich über „die Märk­te“ sagen. Dass die sich an Erzäh­lun­gen aus­rich­ten, sich Erzäh­lun­gen unter­ord­nen und ihr Han­deln nach die­sen Erzäh­lun­gen ein­rich­te­te, ist beim bes­ten Wil­len nicht zu sehen. Nie­mand weiß, wie die Revo­lu­ti­ons- oder Markt­teil­neh­mer sich ver­hal­ten wer­den. Eben­so wenig die S21-Pro­tes­tie­rer (auch wenn in Geiß­lers Stutt­gar­ter Pup­pen­kis­te ver­sucht wird, ein hüb­sches Dra­ma auf­zu­füh­ren durch Zusam­men­stel­lung zwei­er dra­ma­ti­scher Kon­tra­hen­ten­grup­pen, den Capu­lets und Mon­ta­gues gleich).

Die Macht hat, wer die eige­ne Erzäh­lung durch­set­zen kann

In der noch exis­tie­ren­den (Massen-)Mediengesellschaft hat die Macht, wer die eige­ne Erzäh­lung durch­set­zen kann. Das ist spä­tes­tens seit dem Pro­pa­gan­da­min­s­te­ri­um Goeb­bels der Fall. Das begrenz­te Vor­han­den­sein, die Knapp­heit von Erzähl­me­di­en wie Zei­tun­gen, Radio­sen­derns, fern­seh­sen­dern sorg­te dafür, dass die Macht sich zen­tra­li­sie­ren konn­te. Revo­lu­tio­nä­re wie Stauf­fen­berg kon­zen­trier­ten sich des­we­gen dar­auf, mög­lichst bereits im ers­ten Hand­streich die reich­wei­ten­stärks­ten Medi­en unter Kon­trol­le zu brin­gen und die Erzäh­lung zu kon­trol­lie­ren. Das ist in der Netz­ge­sell­schaft nicht mehr mög­lich. Auch hier wan­deln sich die zen­tra­li­sier­ten Mas­sen­me­di­en in Schwär­me mit nicht vor­her­seh­ba­ren Bewe­gun­gen. Eine Unzahl von Blog­gern, Twit­te­rern, Face­book Sharern, Goog­le Pluss­ern, You­Tube und flickr Uploa­dern steu­ern Inhal­te bei, die zumeist nur von Mikro­öf­fent­lich­kei­ten zur Kennt­nis genom­men wer­den – dem chao­ti­schen Ver­hal­ten an den Akti­en­märk­ten ver­gleich­bar, an denen zahl­lo­se Akti­en ge- und ver­kauft wer­den. Wo sich letzt­lich der Prä­fe­renz­plu­ra­li­mus aber mit nur klei­nen Abwei­chungs­be­we­gun­gen in der Gesamt­schau zeigt. Wie der DAX Tag für Tag um ein ein paar Pünkt­chen nach oben oder unten schwankt, weil Käu­fe und Ver­käu­fe sich die Waa­ge hal­ten, so schwankt auch die Netz­öf­fent­lich­keit zumeist nur leicht, weil sich auch hier die Kräf­te zum Teil aus­glei­chen. Es kann aber in jedem Augen­blick gesche­hen, dass sich aus den Mikro­öf­fent­lich­kei­ten Mas­sen­öf­fent­lich­keit schwarm­haft kon­sti­tu­iert. Der Fall Gut­ten­berg zeig­te solch ein Ver­hal­ten. Plötz­lich war – ohne dass ein Revo­lu­ti­ons­füh­rer sicht­bar wür­de – eine brei­te Bewe­gung zu erken­nen, die sich zugleich über ein The­ma (einer Ein­zel­wäh­rung ver­gleich­bar) her mach­te und gegen ihn wet­te­te. Das brach­te den Gut­ten­berg-Kurs zum Absturz – und sorg­te bei eini­gen Betrach­tern für die ver­ständ­nis­lo­se Bemer­kung, die Fun­da­men­tal­wer­te des Minis­ters hät­ten sich doch nicht geän­dert (wel­che auch immer das gewe­sen sein mögen). Kein Macht­ha­ber war zu sehen, der sei­ne Erzäh­lung durch­zu­set­zen ver­such­te. Im Gegen­teil: Die tra­di­tio­nel­le Regie­rungs­macht zeig­te sich in etwa so hilf­los, wie die maghre­bi­ni­schen Des­po­ten oder die Finanz­mi­nis­ter heu­te. Anders gesagt: Wie gera­de­zu para­die­sisch ein­fach es war, einen Sack voll Flö­he zu hüten, zeigt sich erst, wenn man die­sel­be Auf­ga­be ohne Sack erle­di­gen muss. 

 

Die Kri­se der Erzäh­lung und das Postdramna

Das Erzäh­len und Mythi­sie­ren funk­tio­niert nicht mehr wie gewohnt. Die letz­ten ver­zwei­fel­ten Ver­su­che, in Auf­stän­den, Markt­be­we­gun­gen, Öffent­lich­keits­bil­dun­gen eine klas­si­sche Erzähl­form zu ver­an­kern, erwei­sen sich immer mehr als boden­los. Das lässt (ver­mut­lich eher unre­flek­tiert) auch das Dra­ma in die Kri­se gera­ten. Denn gera­de die dra­ma­ti­sche Mythik, nen­nen wir sie der Ein­fach­heit hal­ber: Die Shakrespeare’sche Dra­ma­tur­gie, bestand ja dar­in, eine bestimm­te Erzäh­lung zu wäh­len und durch­zu­set­zen. Eine gül­ti­ge Erzäh­lung. Eine gül­ti­ge Deu­tung. In der Aneig­nung sol­cher Erzähl­for­men sowohl durch Poli­tik wie auch durch Mas­sen­me­di­en wur­de nicht nur das dra­ma­ti­sche Thea­ter sei­nes Eigens­ten beraubt (wie die rea­lis­ti­sche Male­rei etwa durch die Foto­gra­fie beraubt wur­de), son­dern es erman­gelt die­ser Erzäh­lung auch die Macht, die sie in der Ver­gan­gen­heit ent­fal­te­te. Mäch­ti­ge­re als das Thea­ter haben sich der dra­ma­ti­schen Erzähl­form ange­nom­men und Thea­ter sind natür­lich viel zu unbe­deu­tend, um den Mach­ter­zäh­lun­gen ande­re Erzäh­lun­gen ent­ge­gen zu set­zen. Zudem dürf­te es natür­lich den Dra­ma­ti­kern auch an Werk­zeu­gen gebre­chen, eige­ne Erzäh­lun­gen tat­säch­lich zu for­men, die das Zeug dazu hät­ten, sich der Herr­schafts­er­zäh­lung ent­ge­gen zu set­zen. So wäre denn Auf­ga­be des Post­dra­ma­ti­schen, die Künst­lich­keit der Mytho­poie­tik dar­zu­stel­len. Nicht ein­fach nur wie Kur­o­sa­wa in Ras­ho­mon bzw. Hol­ly­wood in The Outra­ge. Son­dern in der simp­len Kon­fron­ta­ti­on der Erzäh­lun­gen. Dar­in liegt das Met­adra­ma und Post­dra­ma, das allein als Form in der Lage ist, mit den geraub­ten For­men umzugehen.

Nach der Erzähl­macht: Die Kontrollmacht

Das Ende der Erzähl­macht ist nicht das Ende der Macht – es ist der Beginn der Kon­troll­macht. In zahl­rei­chen Arti­keln hat Micha­el See­mann viel Klu­ges dazu geschrie­ben und sei­ne Uto­pie des Kon­troll­ver­lusts vor­ge­tra­gen, eine Uto­pie, die letzt­lich dar­in besteht, den Kon­troll­ver­lust über Pri­vat­heit und Daten als Befrei­ung, als tota­le Trans­pa­renz anzu­neh­men und unter die­sen Bedin­gun­gen zu leben: Das Recht des Ande­ren auf Ein­blick hin­zu­neh­men und ihm nach­zu­ge­ben als eine Ethik- er schreibt hier von „vor­aus­ei­len­der Kapitulation“.

Dar­über kann man sich strei­ten – aller­dings zeigt Lon­don gera­de auch, wie die­ser Kon­troll­ver­lust zugleich einen immensen Kon­troll­ge­winn bei staat­li­chen Stel­len mit sich brin­gen kann: Die Han­dy-Fir­ma Black­ber­ry bot der bri­ti­schen Regie­rung die Aus­lie­fe­rung von Ver­bin­dungs­da­ten und wohl auch Chat-Inhal­ten von allen Kun­den an, die sich zur Zeit der Unru­hen im betrof­fe­nen Gebiet auf­hiel­ten. Das macht eine tech­no­lo­gi­sche Infra­struk­tur sicht­bar, die weit ent­fernt davon ist, Kon­troll­ver­lust zu sein. Auto­ma­ti­siert las­sen sich Bewe­gungs­pro­fi­le und Inhalts­pro­to­kol­le auf­zeich­nen und nach bestimm­ten Kri­te­ri­en auto­ma­ti­siert durch­su­chen und auf­be­rei­ten. Es ist ein Ein­fa­ches, sich in Echt­zeit dar­über ein Bild zu ver­schaf­fen, wer sich gera­de wo befin­det. Es ist eben­so ein­fach, in Echt­zeit nach bestimm­ten Key­words aus­ge­rich­tet sich anzei­gen zu las­sen, wel­che Debat­te gera­de wo geführt wird. Da die­se Datei­in­hal­te von den meis­ten Usern als „Pri­vat­mit­tei­lun­gen ver­stan­den wer­den, die nie­mand mit­liest außer der Adres­sat (als han­de­le es sich um Brie­fe), wird im Netz offen über alles Mög­li­che geplau­dert – und damit iden­ti­fi­zier­bar für staat­li­che Stel­len, die sich der Moni­to­ring­tech­no­lo­gien bedienen.

Um es in der ana­lo­gen Welt mit einer Ana­lo­gie zu ver­se­hen: Die­ses Moni­to­ring bringt in etwa die Ergeb­nis­se, als wür­de ein Agent jeder­zeit jeden Schritt eines Bür­gers mit­ver­fol­gen, ihm jeden ein­zel­nen Meter anch­ge­hen, trü­be dies in eine Kar­te ein, frag­te im Foto­la­den nach allen Fotos, die die Ziel­per­son gemacht hat, bei den Ban­ken nach allen Kon­to­be­we­gun­gen. Er wäre bei jedem Tele­fo­nat, jedem Vier-Augen-Gespräch dabei und schrie­be es mit. Er wüss­te über die Ziel­per­son alles – und noch mehr als die Ziel­per­son über sich selbst. Das Netz als inof­fi­zi­el­ler Mit­ar­bei­ter staat­li­cher Stel­len muss nicht ein­mal zum mög­li­chen Werk­zeug tota­li­tä­rer Regie­run­gen wer­den. Die­se beschrie­be­ne Form des Ein­sat­zes der Über­wa­chung macht jede Regie­rung selbst zu einer auto­ri­tä­ren Regie­rung. Das zu ver­ste­hen, hie­ße, einen Schritt in die Netz­ge­sell­schaft gemacht zu haben.

An die­ser Linie wird die Schlacht um Bür­ger­rech­te und Demo­kra­tie für die nächs­ten Jahr­zehn­te geschla­gen. Kann es den staat­li­chen Stel­len erlaubt wer­den, Über­wa­chungs­sys­te­me zu instal­lie­ren, die der Sta­si das Was­ser in die Augen getrie­ben hät­te? Oder wird die Kon­troll­macht, die jeder­zeit Voll­zu­griff auf alle Daten hat, die Bür­ger damit als elek­tro­nisch fuß­ge­fes­selt ins­ge­samt zu Unter­su­chungs­häft­lin­gen macht, in die Schran­ken gewie­sen und unter demo­kra­ti­sche Kon­trol­le gestellt?

Wer über­nimmt die gesell­schafts­bil­den­de Funk­ti­on der Massenmedien?

Span­nen­der Wei­se kommt See­mann im Nach­den­ken über den Mas­sen­mör­der von Nor­we­gen (hier) zu einer selbst­kri­ti­schen Betrach­tung sei­ner „Queryo­lo­gy“ und der damit ein­her­ge­hen­den gefahr der Ver­kap­se­lung von Indi­vi­du­en in Fil­ter­bubbles, die ent­ste­hen, weil sich auf das Nut­zer­ver­hal­ten anpas­sen­de Infor­ma­ti­ons­lie­fe­ran­ten dazu füh­ren, dass der User nur noch sieht, was er eigent­lich immer schon wuss­te: dass der Ras­sist also nur Ras­sis­ti­sches sehen und lesen wird und glaubt, die Welt sei genau­so ras­sis­tisch wie er.

See­mann blickt zurück auf die ja auch hier im Blog schon beschrie­be­ne Funk­ti­on der Mas­sen­me­di­en, Gesell­schaft zu ermög­li­chen durch Bereit­stel­lung eines Kon­ver­sa­ti­ons­zu­sam­men­hangs. Sein Pos­ting endet: „Wir müs­sen Alter­na­ti­ven fin­den, zum Gemein­sa­men. Doch wen mei­ne ich über­haupt mit “wir“?“. Die Ant­wort kann nicht mehr aus den ver­bind­li­chen Erzäh­lun­gen kom­men, denen ein „wir“ sich unter­ord­net, sie kommt auch nicht mehr durch die geschlos­sen vor den Volks­emp­fän­gern ver­sam­mel­te Volks­mas­se.  Alles ande­re – scheint offen zu sein. Thea­ter sind übri­gens her­aus­ra­gen­de Orte, um die­se Fra­gen zu stel­len und zu bear­bei­ten. Ohne dra­ma­ti­sche Erzählungen.

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