Nach den Überlegungen, wie mit dem ABC einer neuen (digitalökonomisch vorbereiteten) Wirtschaftsordnung einige gravierende gegenwärtige Probleme meines Erachtens gelöst werden könnten, hatte ich mir vorgenommen, mich mit dem BGE nochmal auseinander zu setzen. In loser Folge will ich dazu posten. Heute zu einer Frage, die mir vordringlich erscheint. Ist das BGE die kapitalistisch logische Fortentwicklung der Wirtschaft? Oder handelt es sich um die Gestaltung einer lebenswerteren Kulturgesellschaft? Handfestere ökonomische Fragen zunächst zurückgestellt.
Ein Zitat aus dem neuen Buch von Werner/Goehler: „1000 Euro für jeden – Freiheit, Gleichheit, Grundeinkommen“ (Amazon) dazu:
Eine Kulturgesellschaft definiert sich nicht mehr in erster Linie über Lohnarbeit und die zunehmende Abwesenheit derselben. Sie erkundigt sich nach den Vermögen eines Einzelnen, das mehr umfasst als seine Arbeitskraft und seinen Marktwert. In einer Kulturgesellschaft müsste es darum gehen, aus einer sozialen Arbeit, die Ungerechtigkeiten notdürftig ausgleicht, eine solche zu machen, die Gesellschaft gestaltet: mit Selbstverantwortung, Vertrauen, Hingabe, Eigeninitiative, Experimentieren, Ausprobieren, Verwerfen. (145)
Das klingt relativ eindeutig nach einer Gesellschaftsutopie der Selbstverwirklichung. Bei Boltanski/Chiapello würde man es als die „Künstlerkritik“ an der Gesellschaft sehen. Die Form der Kritik, die jenseits der Sozialkritik im Wesentlichen auf die Verwirklichung der Individualität, Authentizität, der eigenen Kreativität besteht. Bei Werner/Göhler allerdings wird dieser Künstlerkritik eine gesellschaftliche – also letztlich dann soziale – Utopie angehängt. Eine Organisation von Kultur und Gesellschaft zur Kulturgesellschaft, die diese Form der Verwirklichung des künstlerischen Selbst in den Mittelpunkt rückt. Dabei aber schnappt direkt im nächsten Satz die Falle des „neuen Kapitalismus“ von Boltanski/Chiapello zu:
Die Idee der Kulturgesellschaft geht von zwei Annahmen aus: davon, dass die Ressource der Gegenwart in rohstoffarmen Ländern die Kreativität ist, die zu fördern vor allem heftige Fragen an das gegenwärtige Bildungssystem aufwirft. Zweitens setzt sie auf das Vermögend er Einzelnen, darauf, dass alle Menschen durch ihr Tun Wirkung erzielen wollen, dass sie gebraucht, gemeint sein und gestalten wollen. (145f.)
Ist das ein dem Kapitalismus entgegengesetzter kultureller “Humanismus”? Oder haben wir es mit Humankapitalismus zu tun? Ist also die Gesellschaftsutopie keine Gesellschaftsutopie, sondern lediglich eine weitere versteckte Subvention an die Wirtschaft im Übergang. Noch kann die Ökonomie nicht auf die Kreativen ausschließlich setzen. Noch ist der Wandel von der Industrie-/Dienstleistungsgesellschaft nicht komplett genug vollzogen, dass Kreative schon davon leben könnten, dass sie mit ihren Ideen und ihrem Engagement die Ökonomie voranbringen könnten. Kleine erste Pflänzchen gibt es wohl. Aber weder die breite Masse der Unternehmen noch die breite Masse der Kreativen (welcher Blogger könnte vom Bloggen leben? Welcher Musiker? Wie viele Webdesigner, Maler, Theatermacher, Postdramatiker könnten) hat ein System geschaffen, das tatsächlich die „Kreativen“ mit Subsistenzgarantien versorgte. Nicht zufällig konzentrieren sich Werner/Goehler auf den Seiten zuvor auf die vielen kleinen und großen „Kreativen“.
Schon auf den ersten Seiten klingt dieses Übergangsszenario im Kapitel „Im Zwischenraum von >Nicht mehr und noch nicht<“ deutlich an:
Der Sozialstaat, wie wir ihn noch kennen, ist längst an seine Grenzen gestoßen und trägt nicht mehr über die neuen Ungewissheiten der Gegenwart. Aber noch sind die Umrisse einer kulturell definierten Gesellschaft nicht genug ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. […] Und obwohl die wirtschaftliche Bedeutung des kulturelles Sektors erheblich zunimmt, ist die Hälfte aller Arbeitsplätze darin so schlecht bezahlt, dass [Goehler] von der „Avantgarde der prekären Verhältnisse“ spricht.(14)
Vielleicht ist es ja „beides“: Die glückliche Koordination von kapitalistischen und individuellen Interessen. Natürlich wäre es großartig, könnten Blogger bloggen ohne sich fragen zu müssen, wovon sie leben wollen. Könnten Kreative nachdenken bis sie zu wirklich neuen und tollen Lösungen kommen. Das BGE scheint deswegen die ideale Flankierung für die Digitale Bohème (wie ich ja schon vor einiger Zeit gepostet hatte als es um die Frage ging, wie angesichts der Erosion von Urheber- und Verwertungsrechten Kreative denn wohl zukünftig ihren Lebensunterhalt mit ihren Kreationen verdienen sollten). Aber würde es dieser Gruppe nicht auch einfach genügen, sich zu organisieren? Heißt: Tarifverträge. Heißt Mindeststundensätze. Heißt Mindeststandards für Freiberufler und Kreative.
Dann allerdings würden sie das andere Grundanliegen Werner/Goehlers gefährden, das mir zu dem bisher geschilderten quer zu stehen scheint: Der Gedanke der – historisch revolutionären – Entkoppelung des Zusammenhangs von Arbeit und Einkommen für alle Bevölkerungsschichten. Und nicht nur für Rentiers.
Zudem zeigt das Weiterdenken hin zu Boltanski/Chiapello: Die Entwicklung hin zur projektbasierten Polis in der Netzwerkökonomie, die die Künstlerkritik für sich gewendet und als Imperativ an die Arbeitnehmer reformuliert hat (Sei kreativ! Übernimm Verantwortung! Arbeite Eigenständig! Verwirkliche dich im Dienst für uns! Sei leidenschaftlich! Hab Spaß an der Arbeit! Usw.), ist nicht die Lösung. Sie scheint vielmehr das Problem zu sein, dessen Ausbreitung durch das BGE nur gefördert zu werden scheint. Zumal die erste Reaktion seitens der Jobvergeber sein wird: „Nun, Ihr Grundeinkommen ist ja gesichert; da werden Sie verstehen, dass wir Ihre Arbeitsleistung im ersten (zweiten, dritten …) Projekt erst einmal ohne Bezahlung ausprobieren wollen.“ Nicht? Doch, schreiben Werner/Goehler doch selbst:
Mit einem Ausbildungsplatz-Grundeinkommen könnten leichter Ausbildungsplätze finanziert werden, denn die Jugendlichen würden ja einen Teil des Geldes mitbringen, sodass viele kleine und junge Betriebe. Die sich heute nicht erlauben können, einen Ausbildungsplatz zu stellen, und deshalb nur unbezahlte Praktikumsplätze vergeben, diese Möglichkeit hätten. (185)
Aus dem Prekariat wird das unendliche Praktikantiariat. Und aus der Kulturgesellschaft wird die Kreativindustrie. Oder?
Angesetzt hatte das Buch mit einer großen Vision:
[…] Grundeinkommen meint nicht nur eine Alternative zu den schwächer werdenden Sozialleistungen, entwickelt nicht nur ein anderes Modell von Fürsorge, sondern es geht auch um demokratische Prinzipien: um Solidarität, um Freiheit und Gleichheit …
Aus dem vorher Zitierten gilt das alles in erster Linie für Künstler, die sich nahtloser in das Getriebe der Kreativindustrien begeben können sollen. Im Übrigen ist das hier ausschließlich zitierte Buch eine wunderbare Traumtänzerei. Was soll es nicht noch alles lösen. Die Probleme schüchterner Musiklehrerinnen (166f), es vereinfach die Beantragung staatlicher Forschungsmittel (172), erlaubt unfinanzierten Habilitanden ein Auskommen (175), sorgt für höhere Geburtenraten (184).
Ich will mich eigentlich darüber gar nicht lustig machen, ich teile weitestgehend die Diagnosen und die Aufgabenbeschreibungen des Buches. Was ich aber in all dem Wust wirklich vermisse ist: die konzentrierte Darlegung, wie das BGE “funktionieren” kann, damit alle Ansprüche und Träume verwirklicht werden könnten. Im letzten Abschnitt des Buches soll es geleistet werden. Ich werde demnächst darüber posten. Ich fürchte, es wird fürchterlich enden.