Die Neubestimmung des Verhältnisses Privat/Öffentlich bleibt hartnäckig im Kopf. Gerade stolperte ich über einen Tweet des Kollegen Kusanowsky, der dieses bereits einige Tage alte Posting (das mir damals leider entgangen war) dankenswerterweise nochmals durch erneutes Tweeten auf die Agenda setzte (was wiederum eine spannende Reflexion auf Twitter urgieren könnte und die Möglichkeit, in Reserve liegende Inhalte dann zu twittern, wenn der March of Timeline gerade am betreffenden Gedachten vorbeizuziehen sich anschickt …). Darin geht Kusanowsky auf meinen Text zu Streetview (hier; ähnlich auch hier und hier) ein, problematisiert meine flapsig dahin geworfene Behauptung, die Debatte sei eine Pseudodebatte und bediene sich falscher Begriffe oder Kategorien. Darüber hatte ich mich mit ihm schon in Kommentaren auseinander gesetzt. Deswegen dazu nichts Weiteres. Aktuell interessiert mich allerdings der Fortgang seines Postings. Ich zitiere:
Privatheit war Schutz, der gewährleistet werden konnte, weil die Schutzverletzung enorme Hürden zu überwinden hatte, wie etwa die Notwendigkeit des Eindringens, Verfolgens, Denunzierens; Maßnahmen, die immer daran gebunden waren, dass ein Körper lokal gebundene Zugriffsmöglichkeiten auf Privatdaten entsprechender Dokumente haben musste. Man denke als Beispiel an die Arbeit eines Privatdetektivs.
Kusanowsky denkt das Private als einen Raum, den Privatraum, dessen Schutz gewährleistet sei. Solange es sich auf die klassische Privatheit bezieht, die Privatwohnung, ist diese Bestimmung durchaus überzeugend. Wie aber verhält es sich mit nicht-physischen Privatheiten? Also etwa um Privatinformationen? Schutz der Privatsphäre kann hier nicht einmal angeben, was geschützt wird. Denn die Privatinformation – das ist der Witz an der Sache – ist unbekannt. Über die Privatinformation lässt sich sagen, dass es niemand weiß, ob es hier etwas zu wissen gibt. Das Private ist hier mein Geheimnis – und meine Souveränität besteht darin, nicht etwa einen geschützten Raum garantiert zu bekommen – sondern definieren zu können, was ich wem gegenüber als Geheimnis betrachte. Und was ich demnach als Souverän meines Privaten verteilen oder zurückhalten kann. Das Eigenartige am meinem Privaten ist, das niemand weiß, ob ich ein Privates habe (bzw. dass die Meisten es nicht wissen, jenseits derer mit denen ich Privates teile). Und wenn sie vermuten, ich hätte ein Privates, würden sie nicht wissen können (wohl aber fröhlich spekulieren) welchen Inhalt das Private hat.
Von der Physik des Detektivs zur Ethik des Anderen
Kusanowsky sieht die sich ändernde Herausforderung angesichts des Privaten unter anderem darin, dass der Privat-Detektiv (der in diesem Falle nicht privat agierte, sondern Detektiv des Privaten wäre) in alten Zeiten zumindest körperlich präsent sein musste, um mitzuhören. Durch neuere Überwachungstechnologien und insbesondere die Nachvollziehbarkeit der Spuren im Netz diese physische Präsenz zu einer körperlosen, unsichtbaren, quasi-diabolischen würde. Damit hat er Recht. Im Abschluss des Postings bringt er ein Bild einer Kneipenszene – und hier finde ich wiederum ein interessantes Geflecht aus Privatheiten und Öffentlichkeiten, die es einen Moment lang zu betrachten gilt. Sei diese Kneipe eine fiktive Kneipe (ich liefere also KEINE Bildinterpretation). Sondern ich beschreibe nur Socialitäten einer möglichen Kneipe.
Eine Kneipe ist ein privatwirtschaftlicher Raum. Der Wirt muss sich zwar der Öffentlichkeit öffnen und „Publikum“ zulassen – dann aber sitzen die Leute in seinem Privatraum. Da eine leere Kneipe nichts ist, gehören zu diesem Privatraum auch immer die „Stammgäste“ (wie immer sie in den verschiedenen Szenen auch heißen mögen), die sich untereinander kennen und nicht fremd sind. Sie teilen zumindest den Kneipenraum und diese Kneipe miteinander. Und schon die Regelmäßigkeit des Besuchs und die Menge des Verzehrs ist möglicherweise eine „private“ Information, die eine etwa vorbeikommende Polizeistreife oder den Arbeitgeber nichts angeht.
Öffentlicher Privatraum und Privat-Socialitäten
Versammeln sich nun Menschen um einen Tisch herum, so befinden sie sich noch immer mitten in diesem der Öffentlichkeit zugänglichen Raum, der ja nicht ihr abschließbares Wohnzimmer ist. Trotzdem können Gespräche an diesem Tisch von enormer Privatheit sein. Ob Geschäftsanbahnung, Abwerbungsversuch, erstes Date, Ende einer Beziehung, Beginn einer Affäre, Gründung einer Band … der möglichen privaten Themen sind viele. Wer am Nebentisch sitzt, mag versucht sein, zuzuhören. Auch wenn es sicherlich nicht besonders fein ist, wird das Heraushören des einen oder anderen Gesprächsfetzens, der nicht für meine Ohren bestimmt ist, vermutlich kein großes Problem sein. Es sei denn – ich fange mit dieser sinnlosen Information deswegen etwas an, weil ich die Privatheit der Information verstehe und daraus etwas zu ziehen vermag. Weil ich Privatdetektiv bin, befreundet mit dem aktuellen Arbeitgeber, den aktuellen Freund der Daterin kenne usw.
Das Private ist kommunikativ relational bestimmt durch den Einzelnen
Was erzählt das? Eine Information, die für mich in einem bestimmten Zusammenhang nicht „privat“ ist und deswegen nicht verborgen bleiben muss, wird in einer anderen Beziehung höchst privat. Und entscheidend ist nicht allein die Situation selbst, sondern der Andere, der sie erhält. Bei mspr0 findet sich hier der Gedanke, das Private und Öffentliche vom ethischen Anderen her zu denken, sehr spannend gedacht. Es gibt – so meine These – keine menschliche Beziehung, in der es nichts Privates gibt. Selbst nach Jahrzehnten der besten, harmonischsten Ehe wird ein Rest bestehen bleiben, den beide als privat gegeneinander verbergen. Selbst wenn sie diese Information mit einem anderen (Freund oder Freundin) teilen mögen. Das „Private“ ist kein Raum, in dem eine bestimmte Masse an Sachverhalten und Informationen versammelt ist, die insgesamt „privat“ sind. Sondern das Private ist in allen Beziehungen zu Anderen zu finden – es hat aber nur selten oder vielleicht auch nie in verschiedenen Beziehungen dieselben Inhalte.
Und Spießers Standardbeichte „Ich habe nichts zu verbergen“ sollte jeden nur umso mehr aufhören lassen – als es der Hinweis sein dürfte, wie viel hier wirklich verborgen ist (und vielleicht erst im sarrazinschen Gemeinschaftsrülpsen öffentlich wird).
Der Verlust der Souveränität über meine „Privatheiten“
Die Herausforderung durch das Internet besteht nun darin, dass potenziell die Souveränität über das Management des Privaten verloren geht. Solange ich glauben und darauf vertrauen kann, dass ich verschiedene Identities auf unterschiedlichen Plattformen mit unterschiedlichen Namen und Charakteristiken und vor allem: verschiedenen Datenfreigaben erstellen kann, so lange habe ich den Eindruck, meine Privatheiten zu beherrschen. In dem Moment aber, wo ich plötzlich bemerke, das Unternehmen oder der Staat diese (bewusst) verstreuten Daten zu bündeln beginnen, werde ich meiner Privatsphäre insofern beraubt, als ich keine Macht mehr über die Informationen und ihre Adressaten habe. Stellen wir uns vor, auf einer Party verabredeten sich alle Menschen, die mit mir zu tun gehabt haben und tauschten ihre jeweiligen Informationen bis ins Detail aus. Exfreundinnen und Arbeitgeber, One Night Stands und Kinder, Urlaubsbekanntschaften und Kollegen. Alle schaffen die komplette Transparenz – und der einzige, der nicht auf diese Party darf bin ich. Alle können über mich alles wissen – aber ich weiß nicht, wer was alles weiß und es beginnt ein ultimativer Stress, zunächst herauszufinden, wer was weiß. Dann Stellung zu dem einen oder andren zu beziehen. Und letztlich ein Leben zu führen, das so konform mit allen möglichen Kontakten geht, das keine Privatheit mehr als schützenswert vorkommt. Die Hölle der Transparenz (zum heiklen Thema der Transparenz hier mspr0)
Privates als Begründung von Gemeinschaft
Zugleich ist das Private aber auch mögliche Begründung von Gemeinschaftlichkeit. Die Tischgenossen der Kneipe mögen ein Geheimnis teilen (weil sie vielleicht demnächst eine Bank überfallen wollen), das jeder von ihnen als so privat betrachtet, dass er es keinem anderen mitteilen würde – s sei denn den Tischgenossen. Die Geschlechtsorgane sind zumeist von einer solchen Privatheit, das ihr wechselseitiger Gebrauch (wie Kant so schön formulierte) die Ehe begründen könnte. Jeden Falls sind die „private parts“ für viele Menschen von einer Privatheit, das ihre Offenbarung nur in fester Gemeinschaft erfolgen darf. Andere sind da eher entspannter – mögen ihre private party im Wochenturnus neu teilen, in Parkanlagen gar die Veröffentlichung such, in FKK Geländen der Zugehörigkeit zu einer Kulturgemeinschaft Ausdruck geben oer sich mit anderen Swingern zusammen tun. Aber: So öffentlich das Swingen für alle beteiligten Swinger sein mag, so öffentlich der Aufenthalt am FKK-Strand sein mag – das Foto davon ist zu privat, um etwa in der nächsten Tageszeitung, einer Erotikzeitung oder etwa in einer beruflichen Fachzeitung zu erscheinen.
So vermag das geteilte „Private“ Gemeinschaften zu begründen. Die dabei existierende „Öffentlichkeit“ kann sich aber in anderer Beziehung wiederum als Privatgeheimnis zeigen. Dass die Neugier auf Privates ein mächtiger Antrieb ist, zeigt sich etwa an der Tatsache, dass der Konsum von Pornographie konstant auf allerersten Plätzen der Internetnutzung liegt. Und doch wünscht sich jeder, der dieses öffentliche Angebot nutzt, dass es sein privates Geheimnis bleibe.
P.S. Da ich gerade privat unterwegs bin während ich dies veröffentliche kann es sein, dass ich etwas verzögert auf Kommentare reagiere.
Um es gleich vorweg zu sagen: ich schaue Pornos. Fast jeden Tag!
Zweitens: danke für die Erwähnung und das Aufgreifen der Ethik des Anderen. Da ist aber noch weit mehr zu holen, scheint mir. Mich kribbelt es in den Fingern den Faden hier aufzunehmen und weiter zu spinnen, aber ich will mir ja nicht restlos die ganze Spannung kaputt machen. Für irgendwas muss das Geheimnis ja schließlich ja noch gut sein. ;)
Hau rein und mach weiter! Meine spannung sei dir gewiss!
ach, und du hast die Links vergessen.
Sorry. Wp for blackberry. Jetzt sollten sie da sein. Bin gespannt, deinen vortrag mal zu lesen. Kann leider nicht hoeren kommen.
Ich glaube, der interessante Punkt in dem Beitrag besteht in den Hinweis auf “Geheimnis”, das mit dem Privaten irgendwie verbunden scheint. Was mir dazu einfällt ist, ob es weiter führt, wenn man zwischen den Strategien der Herstellung und Verteidigung von Privatheit und Geheimnissen funktionale Äquvalente findet. Man denke etwa an:
# Intimgeheimnis
# Staatsgeheimnis
# Bankengeheimnis
# Beichtgeheimnis
# Geschäftsgeheimnis
Bei Interesse:
http://differentia.wordpress.com/2010/02/14/nacktsanner-die-intimitat-der-inneren-sicherheit/
Dazu zählen aber auch andere Einrichttungen wie Schweigepflichten aller Art, von Ärzten, Rechtsanwälten und dergleichen.
Was ich faszinierend finde ist, wie sich solche Geheimhaltungen aller Art gerade dadurch erhärten, dass sie ständigen Angriffen ausgesetzt werden; und dadurch, dass sie erfolgreich behauptet werden können, selbst wiederum den Grund dafür liefern, ihre Stabilisierungsbedingungen zu zerrütten.
Wichtig aber, dass das Private nicht deckungsgleich mit einem Bereich der Geheimhaltung ist. Das ergibt sich aus einem Vergleich der beoachtungsleitenden Unterscheidugen:
privat/öffentlich und geheim/öffentlich. Es käme entsprechend eine dritte Unterscheidung hinzu: privat/geheim.
Sorry, dein Kommentar war im Spamordner gelandet. Deswegen jetzt erst freigeschaltet. Das Interessante an den von dir aufgezählten Geheminissen ist ja, dass es institutionell/staatlich garantierte Geheimnisse sind, die der Staat als vor ihm selbst sicher erklärt. Das Private ist hier das Private, das der Staat als ihm gegenüber privat anerkennt und dem er zubilligt, geheim zu bleiben. Bei den (wiederum gesetzlich geregelten) Schweigepflichten handelt es sich um staatliche Eingriffe in die Kommunikation, in der der Staat die Wissenden dazu verpflichtet, ihr Wissen mit niemand anderem, als dem, den dieses Wissen selbst betrifft, auf den es sich bezieht, zu teilen. Auch nicht mit staatlichen Einrichtungen oder Gerichten. Ich folge dir darin, dass der Unterschied privat-geheim zu machen ist. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob das Private nicht immer Anspruch auf partielle Geheimhaltung gegenüber bestimmten Anderen in sich trägt. Dann wäre zwar nicht alles, was geheim ist, privat — eventuell aber alles, was privat ist, potenziell geheim.
Nachtrag @Kusanowski. Spannend daran finde ich auch, dass der Staat Räume oder Bereiche des Geheimen dekretiert, deren Inhalt er doch nicht wissen kann. Zugleich aber muss er in allen anderen Bereichen, die er nicht als dem Staat gegenüber dekretierte, zunächst das Geheime herausfinden, um überhaupt zu wissen, dass es etas Geheimes gab. Will heißen: Das gesamte Volk muss in den Verdacht kommen, heimlich ein Terrorist zu sein — um dann ausschließen zu können, dass da dieses vermutete Geheimnis doch nicht vorliegt. Außerhalb der Bereiche, die der Staat als legitime Geheimnisse deklarierte, weiß der Staat nicht, ob und wo es Geheimnisse gibt.