Was macht denn Theater aus? Was kann es denn anderes, mehr, besser als Film, Fernsehen, Internet, Videospiele? Wo liegt die Quelle einer einzigartigen Kraft des Theatrons? Natürlich in der livehaftigen Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern. Aber was heißt das schon, wenn das Darstellungspersonal in seiner Darstellung die Livehaftigkeit auf die Simulation eines nicht vorhandenen Screens einschränkt, vor dem die Zuschauer sitzen? In dem Kopräsenz lediglich zur Störungsquelle des Darstellungspersonals durch unbotmäßiges Hüsteln, Flüstern, falsches Gnickern wird, um nicht zu reden von Chips- und Popkorntütenrascheln oder den Geräuschen eines Kaltgetränkegenusses und ganz zu schweigen von der Benutzung digitaler Kommunikationsmedien. Was bleibt von der Kopräsenz, wenn das Publikum nichts anderes ist als potenzieller Störenfried?
Chips? Handys im Zuschauerraum? Wer will das denn? Will ich das? Ich weiß es nicht. Es geht darum auch gar nicht, sondern darum, dass Theater aus seiner Hier- und Jetzigkeit nichts zu machen versteht. Und wenn die Gegenfrage „Ja wie denn“ nicht nur polemisch-rhetorisch im Raum stehen bleibt, sondern vielleicht zum Ansatz eines künstlerischen Forschungsprogrammes wird, wenn zudem das allfällige gelangweilte „machen wir doch alles schon“ weg bleibt und akzeptiert wird, dass das Publikum das, was in dieser Form stattfindet, eben noch (!) nicht als Kern des Theaters versteht, sondern als mehr oder minder geliebte modernistische Anekdote erlebt und (de)goutiert, dann wäre der Blick vielleicht offen für Anderes.
Aber Hier- und Jetzigkeit setzt vielleicht auch voraus, dass sich Theater mit seinem lokalen Hier und Jetzt auseinander setzte. Und damit ist nicht die Lage der Welt oder der Nation gemeint, sondern vielleicht die Lage der Stadt, der Stadtbewohner, in deren Mitte sich die Theater befinden. Ist die diskursive Gleichschaltung der Nation durch die nationalen Abendnachrichten wirklich das letzte Wort? Ich gebe die Antwort nicht – aber auch diese zu reflektieren, wäre des Schweißes der edlen Musen wert. Mehr als Wert. Mehrwert des Theaters vielleicht sogar. Jetzt im Hier zu sein. Und das Hier im globalen Jetzt stark zu machen.
Was das sein könnte? Ich mache mich nicht anheischig, das für jede Stadt, für jedes Hier und Jetzt zu beantworten. Aber nach zwei Jahrzehnten in Frankfurt erlaube ich mir, das dortige Schauspiel für einen Skandal zu erklären. Angesiedelt in Pflastersteinwurfweite von der Europäischen Zentralbank, jenem durchgebrannten Finanzatomkraftwerk, das gerade an der Verwüstung Südeuropas seinen Anteil hat, weiß man in diesem Theater nichts Besseres, als sich mit ästhetizistischen Kinkerlitzchen zu feiern, die Fäuste zu spielen, statt sie szenisch zu ballen. Frankfurt wäre das Hier und Jetzt für ein Europäisches Zentraltheater (auch wenn ich mir jetzt den Vorwurf einhandle, scheinbar nicht lokales Hier und Jetzt, sondern Globales zu fordern – das räume ich für Frankfurt ein, in dem lokal das Globale adressiert ist). Ein Ort, den man griechischen Truppen verfügbar machen könnte, damit sie hier vor Ort ihren Protest an Mann und Bank bringen können. Monatelang harrte die Occupy-Bewegung bibbernd vor Kälte in Zelten vor Bank und Schauspiel. Und auf der Bühne weiß man nichts besseres zu tun, als Zeltsimulakra im Hintergrund des Faust II aufzustellen. Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, womit die Existenz dieses Hauses gerechtfertigt ist. Dass eine Kunstform, die ihre griechischen Wurzeln noch heute in ihrem Genrenamen trägt, sich ignorant gegenüber den Griechen zeigt, sich die Kunst von der Deutschen Bank sponsern lässt, halte ich für – more moraliter gesagt – widerwärtig. Das Hier und Jetzt ist auch ein Gesellschaftliches oder Politisches.
Es bedarf der maximalen Bündelung der lokalen kreativen Kräfte. Dazu reichen vielleicht nicht die Texte in den Programmen nationaler Theaterverlage aus. Sondern dazu bedarf es vielleicht Schreibern, die in dem hier und Jetzt angesiedelt sind, in dem sich auch das Publikum befindet. Das dann vielleicht sogar aufhört, bloß rezeptives Publikum zu sein und sich in einer produktiven Gemeinschaft mit dem Theater verbindet.
Das ist utopisch? Ich bin gerne mit dabei, wenn es darum geht sich über die Informatik-AStenkonferenz namens Piratenpartei lustig zu machen. Aber das sollte nicht davon abzuhalten, neugierig auf sie zu sein und von ihnen zu lernen. Ja, das ist möglich. Glaubt irgend jemand, der Rechner, auf dem dieser Text hier jetzt gelesen wird, wäre als das Werk eines Originalgenies in dieser Form, mit Hard- und Software möglich geworden? Die Informationstechnologie hat spannende neue kooperative Arbeitsweisen entwickelt, an denen sich auch kooperative künstlerische Arbeit orientieren kann. Und auch diese Kooperativität macht Theater aus, das immer schon Werk von Gruppen heterogener Kompetenzen war. Die Bündelung und Stärkung der Kreativkräfte der einzelnen Häuser nur, der Zusammenschluss mit den einstigen passiven Rezipienten, ihre Anbindung, vielleicht sogar Einbindung ist die Kraftquelle des nächsten Theaters. Wie das geschehen kann? Kann man herausfinden. Ausprobieren. Theater muss nicht der Ort des Fertigen sein. In der Softwarebranche redet man vom „permanent beta“ Status, der laufenden Überarbeitung, Verbesserung, Veränderung der „Produkte“, die keine Produkte oder Werke mehr sind, sondern – mit Klaus Kusanowsky gesagt – selbst zu Performaten werden. Ständig im Fluss, sich ändernd. Wer sich über Prozesse informieren möchte, die funktionieren, frage die IT-Nerds. Oder lese „The Cathedral and the Bazaar“. Oder was auch immer.
Es ist mehr Neues möglich. Und ich bin davon überzeugt, dass nur der Schulterschluss mit Autoren vor Ort Theatern zukünftig die volle Kraftentfaltung ermöglichen wird. Und zwar die Entfaltung einer Kraft, die nur dem Theater eignet.
Nachtrag
Für Verlage wird das eine neue Situation werden. Das stimmt. Aber ich glaube nicht, dass es das Ende der Verlage sein wird. Das – so scheint mir – betreiben leider gerade ganz andere Kräfte in einer Schmierenkomödie, die wirkt, als hätte Goldoni eine Bearbeitung der Orestie gewagt.
Ganz herzlichen Dank für diese engagierte Antwort, der mich in seiner Deutlichkeit und Positioniertheit an den guten alten Sendbrief erinnert: Vielleicht tragen die fahrenden Leute ihn bis in die letzte Ecke des Landes, damit er zur Kenntnis genommen wird. Verdient hätte er es.
Ich will auch anders als zuvor gar nicht groß widersprechen (ich teile zwar Deine Beurteilung des Schauspiels Frankfurt nicht, aber da das hier nichts zur Sache tut, können wir uns darüber vielleicht ein anderes Mal streiten), sondern Dich insgesamt unterstützen: Ich finde es voll und ganz überzeugend, nicht gleich auf alle Probleme Antworten zu bieten. Das tun nur Berufspolitiker, um die Wähler in Sicherheit zu wiegen. Du lieferst mit diesem Sendbrief eine Diagnose und Kritik, die muss nicht unbedingt konstruktiv sein und sagen, wie’s in Zukunft besser gemacht werden kann. Ein Schlüssel ist zweifellos die lokale Verankerung des Theaters, da hast Du voll und ganz recht. Gerade Theater, die das in den letzten Jahren gemacht haben, haben bei ihrem Publikum oftmals sehr punkten können — und bei der Kritik.
lieber ulf, gestern abend bin ich endlich dazu gekommen, deine ausführlichen entgegnungen auf meinen ziemlich knappen einwurf noch einmal genauer zu lesen. rechtzeitig vor der nächtlichen mahlzeit meiner tochter fiel mir dies dazu ein:
ich kann viele deiner beobachtungen nur bestätigen. nicht alle. eigentlich müssten dir jetzt theaterleute antworten und von der immer komplizierteren theaterpraxis berichten. und dann ergäbe sich zwischen deiner polemik und ihrer erfahrung vermutlich ein raum, der möglichkeiten einer anderen praxis eröffnet. du hast recht: es gibt in den theaterleitungen die fixierung auf einen bestimmten kanon. alles nicht-durchgesetzte gilt erst einmal als risiko. das erstaunliche ist ja, dass sich ein betrieb, der durchschnittlich 80% seiner Mittel aus subventionen bezieht, so stark an der quote=auslastungszahl orientiert. irgendwie leben wir in hasenfüßigen zeiten, scheint es. man schalte nur eines der zu 100% subventionierten programme von ard und zdf an: ein noch beklagenswürdigerer zustand. dass die quote=auslastungszahl im heutigen theater eine so große rolle spielt, hat mindestens zwei gründe. jede tariferhöhung und jede etatkürzung schlägt unmittelbar auf die künstlerischen spielräume eines hauses durch. nur durch erhöhung der eigenfinanzierungsanteils lässt sich ein künstlerischer etat überhaupt noch stabil halten. das hat auch etwas mit der größe der apparate zu tun. und nach wie vor sind auslastungszahlen=quote ein ausschlaggebendes kriterium für die jeweilige örtliche kulturpolitik. das aber quote nichts mit kunst, anspruch und qualität zu tun hat, müssen wir nicht miteinander diskutieren. in der realität wird dieser kurzschluss dennoch ständig vollzogen. niemand will leere theater, aber für manche produktionen will es mir nicht einleuchten, warum 50% auslastung nicht ausreichen sollten. in der realität wird ein leitungsteam, das auch nur ein jahr lang 50% auslastung vorzuweisen hat, mit ziemlicher sicherheit abgeschossen.
es müsste ein anderes bewusstsein von theater her — zuerst auch in der kulturpolitik. und damit komme ich zu deiner feuerwehrmetapher. da bin ich nämlich ganz anderer meinung. theater löscht keine brände (eher setzt es in brand) und muss auch nicht schnell sein. und ich erwarte mir vom theater auch keine direkte politische einflussnahme. theater und damit auch das schreiben für theater ist zuerst einmal eine kunst, die von ideologischen funktionsansprüchen freizuhalten ist. theater kann politisch wirken, aber nicht in einem unmittelbaren, plump-aufklärerischen sinn, sondern über seine sinnlichen möglichkeiten, über die haltungen der schauspieler, über den grad der bewusstheit gesellschaftlicher zustände, die in einer produktion deutlich werden. aber all das erfährt im theater zuerst einmal einen umwandlungsprozess, an dem ich als zuschauer aktiv teilnehmen muss, um überhaupt irgendwelche erkenntnisse daraus zu gewinnen. das klingt so verkürzt vielleicht etwas kryptisch, aber mir gehts hier auch nur darum, theater von der überforderung eines naiven politischen anspruchs zu befreien, der in ost und west — aus jeweils unterschiedlichen gründen, noch immer den smalltalk über theaterwirkungen grundiert. (meine prägendsten theatererfahrungen haben sehr viel mehr mit verwirrung bisheriger haltungen und überzeugungen zu tun, aus denen dann eine selbstbefragungsprozess entstand, als mit meiner einsicht in verlautbarungen politischer botschaften auf der bühne. und ich bin auch weiterhin für eine arbeitsteilung kritischer journalismus/theater.)
ich glaube auch nicht, dass theater zu langsam auf gesellschaftliche prozesse reagiert. es reagiert vielleicht zu kleinteilig, zu zerstreut, zu wenig nachhaltig und druckvoll, weil es neuen und alten stücken (und zu allen von dir als relevant genannten themen — von militarismus über arbeit bis wirtschaftskrise — gibt es starke stücke) zu wenig entfaltungsmöglichkeiten einräumt. ich wünsche mir ein (einziges!) entschleunigtes theater in der republik, dass sich auf — sagen wir: fünf premieren pro spielzeit konzentriert, statt sich in 35 unfertigen, angerissenen premieren zu verausgaben. die ergebnisse einer solchen konzentrierten laborarbeit würden mich interessieren. und da dann zuerst: die entwickelten formen, die spielweisen, der klang — dann erst: inhalt, thema, botschaft.
ich bleibe dabei: dein vorschlag eines neuen modells der schreibenden zusammenarbeit, der pragmatischen autorenkollaboration zur gewinnung einer neuen theaterliteratur, sollte an einem der 200 größeren häuser im deutschsprachigen bereich einfach mal professionell und über mehrere jahre hinweg erprobt werden. insofern lese ich deinen fünfteiligen beitrag auch als manifest und bewerbungsschreiben für eine theaterleitung. ich kenne autorenkollektive, da hat es funktioniert. aber 1+1+1+1 kann auch 0 ergeben, wenn sich schwung, inspiration und energie in endlosen abstimmungsdiskussionen erschöpfen. einstweilen wartest du weiter auf das große genie bzw. bezweifelst sein erscheinen, während wir verlagsleute uns um die vielen vorhandenen klein- und großgenies kümmern. man muss sie nur entdecken wollen. — herzlich, frank.
@Frank — danke dir für deine ausführliche Antwort!
Bewerbung — eher nicht. Das überlasse ich Jüngeren, deren Energie für den Aufrieb ausreicht, dafür bin ich vermutlich zu lang solipsistischer Schreiber.
“Feuerwehr” — ich bin inzwischen über die eigene Metapher ärgerlich. Ja, du hast recht: Es geht eher darum Brände zu stiften. Größere Brände.Und zwar unter Nutzung des Vorteils den — darin begründete sich die Metapher — diese “stehende Institution” bietet.
Durch plumpe politische Botschaft? Vielleicht sogar manchmal das. Manchmal sind plumpe politische, naiv-aufklärerische Botschaften nötig. Oft eher die Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzung, von denen du, gar nicht kryptisch, schreibst. Genaueres würde sich mit den Begriffen “inhalt, thema, botschaft” auseinanderzusetzen haben, die vermutlich nicht so einfach sind, wie wir sie hier hinschreiben. Als Tentative tauglich, sind sie natürlich fraglich darauf, was das im Theater meint. Und mit mehr als einer Antwort zu versehen.
Auch deinem Traum von 5 Produktionen pro Jahr vermag ich Einiges abzugewinnen, eher als dem Dauerfeuer von Produktionen, in dem Theater sich — aus den von dir angeführten Auslastungsgründen — aufreibt. Dass ich nicht viele Theater sehe, in denen das denkbar ist, sei dazugesagt.
Bei den Kollektiven geht es mir nicht um basisdemokratische Klatschgrüppchen. Ich denke eher an schlagkräftige, arbeitsteilige Teams. Das ganze Theater besteht aus Arbeitsteilung und summiert dabei die einzelnen Möglichkeiten — warum sollte das beim schreibenden Produzieren anders sein. Es erfordert vielleicht andere Schreiber. Wenn man den Mythos vom genialischen Autor aber erst einmal zu killen geschafft hat — dann wird es funktionieren.
Und da ich gerade einige Folgen der Serie sah: “Homeland”, Machwerk des verteufelten amerikanischen Fernsehens, vermag in kollektiver Produktion eine Erzählung hart an der gesellschaftlich-politischen Gegenwart zu leisten. Was ich von dieser Produktion genau halte, weiß ich noch nicht. Aber momentan erscheint sie mir weder plump, noch bei schreiberischer Null angelangt. Ein Produkt der sogenannten Kulturindustrie, dem es gelingt für Aufsehen und breites Gespräch zu sorgen. Mangelnde Einschaltquote ist da nicht das Problem. Vielleicht lässt sich von den Produktionsweisen dieser Industrie lernen?
lieber ulf, ich sage ja nicht, dass ein schreibendes kollektiv im theater nicht funktionieren kann. im gegenteil: dass sollte mal ernsthaft versucht werden. und du solltest das organisieren. zur us-kulturindustrie: ich habe “mad men” verschlungen wie einen guten roman, und zwar alle staffeln. irgendwo war zu lesen, dass es einer besonderen tv-channel-finanzierungs-situation zu verdanken war, dass die serie sich so entwickeln konnte. das mal genauer zu recherchieren, könnte sicher interessant sein. meine vermutung ist, dass sich aus der kombination “haufenweise geld + glänzende ideen + toller cast + professionelle umsetzung” eher so etwas wie qualität ergeben kann (aber nicht unbedingt muss) als aus der summe “knappe mittel + aussterbendes abopublikum + ängstliche spielplanpolitik + betonharte kantinenbouletten”. — ahoi, frank
“mad men” — auch ein hervorragendes beispiel, ja. ich will keine fernsehserien im theater sehen, versteht sich. aber sich diese werke anzuschauen und daraus etwas zu lernen, sich vielleicht gedanken über formen zu machen und über strukturen — das scheint mir sinnvoll.
natürlich muss daraus nichts gutes entstehen. das zeigt uns das deutsche vorabendfernsehen jeden abend in schrecklichster deutlichkeit. aber es kann. ich glaube, sowas kann sogar entstehen, wenns nicht haufenweise geld ist (aber doch etwas und vermutlich mehr als jetzt) und die bouletten weiterhin hart bleiben. ich würde jedenfalls nicht nur mit finanzierung argumentieren. das wird mir zu oft als ausrede ge- und missbraucht — ohne dir das zu unterstellen.