Bei der verbreiteten Forderung nach theatraler “Werktreue” haben wir es nicht mit einer ästhetischen, sondern einerm nahezu religiösen Imperativ zu tun. Werktreue verstanden hier als die Forderung, eine Theateraufführung möge das, was sich der Autor gedacht oder vorgestellt habe ungebrochen und “unverfälscht” wiedergeben. Hinter dieser Forderung steht der Glaube an das Vorliegen einer objektiven Welt oder einer Welt der Objektivität, die durch objektive Repräsentation zu jeder Zeit und an jedem Ort objektiv wiedergegeben werden könnte. Das Grunddogma der Medien als “Medien”. Wenn Luhmann lakonisch formuliert, was wir über die Welt wüssten, wüssten wir aus den Medien — schließt er Werktreueprediger an: aber es muss unbedingt die unverstellt wiedergegebene Welt sein (hier hören wir Luhmann lachen).
Die Nachrichtengläubigkeit setzt voraus, dass Medien dem Dargestellten durch die Darstellung nichts hinzufügen oder weglassen. Zum Beispiel keine individuelle Interpretation oder Darstellungsweise. Schon gar keine künstlerische. Nicht auszudenken, wenn ein Kameramann oder Fotograf es spannender fände, Merkels Beine zu zeigen statt ihres Gesichtes. Wenn sie also plötzlich einen “künstlerischen” Spielraum bekämen. Wobei allerdings die Entscheidung, Merkels Gesicht zu filmen oder zu fotografieren ebenso Entscheidung ist, wie der Legshot. Objektiv wären beide. Aber der Headshot ist nicht bemerkenswert, elidiert die Wahrnehmung seiner Hergestelltheit, da er erwartbar und vom Dispositiv akzeptiert ist.
Allerdings wählen natürlich unterschiedliche Kameraleute und Fotografen verschiedene Blickwinkel — es muss ja bessere und schlechtere geben. Und sie wählen unterschiedliche Zeitpunkte — immerhin muss eine Auswahl notgedungen stattfinden. Hauptsache sie bleibt objektiv. Woran aber bemisst sich die Objektivität des Headshots? Merkel gähnt und lächelt kurz darauf. Welches ist das objektive Foto? Am Ende entscheidet darüber der Regisseur — Redakteur, was hier der objektive Beitrag zu seiner objektiven Story ist. Heißt: nicht der Fotograf der Objekte entscheidet mit seinem Objektiv, was objektiv ist, sondern der Redakteur entscheidet anhand seiner Story/Geschichte.
Ich erspare mir die weitere Fortsetzung, weil der Redaktionsregisseur natürlich in dieselbe Bredouille gerät wie der Kameramann. Auswahl, Blickwinkel, Einstellung, Zeit, Umfeld. Und am Ende wird dem Zuschauer, der nicht dabei war, überlassen bleiben zu entscheiden, was objektiv ist: FR, FAZ, BILD, WELT, ARD, ZDF, taz, RTLII. Wer bringt die objektive Wahrheit? Was objektiv ist, schreibt der Zuschauer dem gesehenen zu. Was werktreu ist, entscheidet der Zuschauer.
Dabei stürzt das gesamte Glaubenssystem der Nachrichtenwelt wie ein virtuelles Kartenhaus in sich zusammen, wo die scheinbare Objektivitätsstafette durch die Möglichkeit eines künstlerischen Eingriffes (und sei es nur einen interpretatorischen) bedroht wird. Wenn Regie-Team etwa nicht an Werktreue und Welttreue glauben, sondern zeigen, dass schon hier ein stilistisches Dispositiv am Werke ist, das beharrlich durch bestimmte Effekte den Eindruck erzeugen soll, Werk- und Welttreue sei möglich und genau in diesem vorliegenden Artefakt am Werk. Jegliche Devianz ist entweder aus Inkompetenz oder Korruption abzuleiten. In der Objektivitätsstafette gibt es keinen Platz für Subjekte (der Spiegel hat ja gar bis vor einigen Jahren die Autorenangabe in seinen Beiträgen unterlassen). In dem Augenblick, wo der Gedanke sich ausbreitet, es seien hier wählende und konstruierende Kräfte am Werk, wird ein Glauben bedroht. Daher die Unerbittlichkeit des scheinbar nur ästhetischen Werktreue-Imperativs. Und seine Absurdität. Credo quia absurdum.