Die Frage ist so alt wie die Philosophie selbst: Wie kommt der Mensch aus seiner Hingegebenheit an das sinnlich Vorliegende, das hier und jetzt Wahrnehmbare, heraus und hin zu etwas, das jenseits des Sinnenflusses liegt. Wie reißt er sich aus der bloßen Immanenz heraus, die ein bloßes Wechselspiel von Eindrücken bietet, die Gegenstände (von denen zu reden schon einen Schritt aus der Immanenz hinaus bedeutet) mal in dieser, mal in jener Form, mal ferner und kleiner, mal näher und größer erscheinen lässt? Die metaphysische Tradition bietet den Ausbruch in die Transzendenz an. Etwa durch die Wiedererinnerung an die ewigen Ideen, die im Totenreich geschaut wurden. Oder aber durch die Begriffe, die vor allem sprachlich vorliegen, und den See, der morgens in tiefem Blau, abends im tiefen rot, nachts in tiefem Schwarz liegt, als denselben See mit unterschiedlichen akzidenziellen Zuständen beschreiben lassen. Sei die wechselhafte und täuschungsverwobene wahrnehmbare Welt nur eine Teilhabe an den jenseitigen Ideen, seien diese Ideen Begriffe und bloß nominal existent und verbürgen durch die Selbigkeit des Begriffes die Identität.
Allen gemeinsam ist, dass derjenige, der sich aus der Immanenz lösen will, sich abwenden muss vom sinnlich Vorliegenden. In Platons Höhlengleichnis schön beschrieben durch die Hinwendung zur Sonne oder gar durch den Schritt ins Totenreich im Mythos von ER. Im nominalen Zusammenhang durch die Abwendung vom Sinnlichen hin zum Denken, zum Sprechen oder noch besser: gleich zum Buch. Der aristotelische Denker ist der Schreiber und Leser, der über Tiere und Pflanzen spricht, die gerade nicht da sind. Es ist die Abwendung vom Vorliegenden, der Übergang in die Vernunft, die dann in der Rückwendung zum Vorliegenden zum verstehenden Betrachter wird.
Raus aus dem Hier und Jetzt – durch die Schrift
Der Losriss vom Vorliegenden richtet sich daher immer auf ein Abwesendes, das intendiert werden kann. Das also abwesend ist – zugleich aber anwesend in gewisser Hinsicht. Etwa in der Vorstellung, der Erinnerung, im Referenten der Schrift. Es ist kein Zufall, dass Hegel bereits ganz zu Anfang der Phänomenologie ein Blatt Papier auftreten lässt, wenn es gilt, aus der sinnlichen Gewissheit auszubrechen.
Auf die Frage: Was ist das Itzt? antworten wir also zum Beispiel: Das Itzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir itzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist. {…} Es wird derselbe Fall sein mit der andern Form des Dieses, mit dem Hier. Das Hier ist zum Beispiel der Baum. Ich wende mich um, so ist diese Wahrheit verschwunden, und hat sich in die entgegengesetzte verkehrt: Das Hier ist nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus. Das Hier selbst verschwindet nicht; sondern es ist bleibend im Verschwinden des Hauses, Baumes und so fort, und gleichgültig, Haus, Baum zu sein. (Quelle)
Aus der sinnlichen Gewissheit, die sich auf das Hier und das Dieses auszubrechen, heißt, die Sprache, die „hier“ und „dieses“ sagen kann, nicht nur zu verstehen als konstante Aussage über das „hier“ und das „dieses“, sondern durch das Aufschreiben noch die Identität genau dieses „Hier“ und dieses „dieses“ sicher zu stellen.
Das zunächst an Nacht und Baum verfallene vorbewusste Ich, das noch nicht einmal Ich sagen könnte, weil es im Fluss der Wahrnehmungen selbst zu einem Fließenden und keinem konstanten Ich-Fluchtpunkt werden kann, muss eine Identität des Dieses und Hier lernen. Und es lernt sie, indem es sich aus der Zeit und dem Ort losreißt und an ein Abwesendes erinnert. Es lernt, dass es viele Jetzt und viele Dieses gibt – indem es sich selbst Briefe schreibt. Den Brief von Jetzt zu Jetzt, den Brief von Baum-Hier zu Haus-Hier. Es tritt einen Schritt heraus aus dem Fluß, konstatiert zwei differente Hiers und Jetzts und macht damit den Schritt hin zu etwas nicht dem Fluß Unterworfenen. Dem Zettel. Der bringt es – als externalisierte Erinnerung – dazu, Zeit und Raum zu erleben. Der Begriff, der Zettel, die jenseitige Idee – sie alle verhelfen dem fließenden, immanenten Noch-Nicht-Bewußtsein auf den Weg hin zum Bewusstsein. Der Beobachter entsteht, der den Wechsel des Hier und des Dieses verfolgen kann. Er wird vielleicht, einem kleinen Kind gleich, Freude daran finden, durch die Welt zu laufen, und zu jedem Gegenstand „dieses“ und zu jeder Sekunde „jetzt“ zu rufen. Es hat die Differenz zwischen Immanenz und Bleibendem erlebt.
Von der fließenden Meinung zur festen Wahrheit
Derselbe Prozess findet statt, wenn es um das Verfallensein an die Meinung (doxa) geht. Mal ist die Tapferkeit dieses, mal jenes, mal etwas anderes. Aber as ist – fragt Sokrates – denn die Tapferkeit selbst? Genauso gut könnte man, wenn man Sokrates als Säugling, als Kind, als jungen Mann, als Politiker, als Verurteilten erlebt hätte, die Frage stellen: Was ist Sokrates selbst? Und es ist – darauf wird zurück zu kommen sein – kein Zufall, dass Platon den toten Sokrates in seinen dialogischen Schauspielen auftreten lässt.
Wie also lässt sich herauskommen aus diesem Meinungsgewebe? Durch bestimmte Praktiken und Verfahren, die aus dem schwankenden Fluss, in dem nichts sicher, nichts identisch, nichts unmanipulierbar ist, in dem sich Simulation eines Gegenstandes und der Gegenstand selbst gelegentlich nicht auseinander halten lassen, etwas Bleibendes entstehen lassen. Der sokratische Dialog etwa, aus dem, in der Aporie angekommen, plötzlich die Wiedererinnerung an die Wahrheit des eidos möglich wird. Oder durch die Bewegung des Begriffs, der am Ende in fest definierte Begriffe mündet. Oder – wie Kusanowski wohl sagen würde – durch Verfahren, die aus den ursprünglichen Performaten Dokumente erzeugen. Gültig jenseits von hier und jetzt, dieses und jenes.
Das aber heißt zugleich, dass der Performator zum Dokumentar wird. Aus dem Verfallensein an die Wechselhaftigkeit der sinnlichen Welt muss er sich losreißen und zum Beobachter werden. Ein Beobachter, der dieses und jenes Dieses, das jetzige und das gestrige Jetzt im Blick hat. Er ist auf dem Weg zum theoretischen, zum beobachtenden Bewusstsein. Schon die Vokabel theoria, die einerseits die betrachtende Zusammenschau (mit den Augen), genauso aber das geordnete Ganze eines Festumzuges oder einer Gesandtschaft benennt (also die subjektive und objektive Seite eines Ensembles oder „Systems“), weist in diese Richtung des Beobachters. Der theoros ist der Immanenz entrückt, wie ein Feldherr auf seinem Hügel – oder der Zuschauer im Theater.
Von der Metaphysik zurück in den Fluss der différances
Der Hegel’sche Zettel, die platonische Idee, der aristotelische Begriff und die sinnliche morphé sind entweder Transzendentalien oder Abstraktionen vom sinnlich Vorliegenden. Sie führen insbesondere Identität und Differenz al grundlegende Prinzipien in die Philosophie ein und führen zu jahrhundertelanger Kurzweil zwischen den Schulen, zwischen Realisten und Nominalisten, Rationalisten und Empiristen usw.. Bis hin zum nachmetaphysischen Denken der Phänomenologen und Heideggers, weiter bis zu Derridas différance, war es schwer, aus dieser Mechanik heraus zu kommen. Wenn man aber einmal raus zu sein glaubt, wird’s auch nicht einfacher, weil sich plötzlich das philosophische Denken in Spielen von Differenzen (Kritiker würden es als Beliebigkeit bezeichnen), in nicht Feststellbarem, in vorphilosophischer Flusssäure auflösen. Diese Schwierigkeit kommt daher, dass der Zettel als Transzendentalie betrachtet wird. Will heißen: Der Zettelleser ist der Leser schlechthin. Er schwimmt im Fluss der Sinnlichkeit dahin, schwingt sich ans Ufer in die Bibliothek – und beginnt zu lesen. Er versteht, dass die Bibliothek, die „über“ die Welt schreibt, nicht die Welt „ist“, durch die er gerade schwamm. Die Welt ist ihm zugleich entstanden und abwesend. Er lernt Vokabeln, Namen, Begriffe, mit denen er zurück in die Welt geht. Und weiß nun, dass das, was im Fluss schwimmt, ein scheinbar identisches „Ich“ (dieses ändert kein Zeitpunkt oder Ort, an dem er einen Zettel mit der Aufschrift „Ich bin ich“ lesen würde“) ist, dass das, worin er schwimmt, der Fluss der Wahrnehmung ist, in dem er aber nunmehr mithilfe der mitgebrachten Begriffe Gegenstände identifizieren kann. Er schafft Selbigkeiten mithilfe der (nunmehr abwesenden) Inhalte der Bibliothek. Er kann nicht zugleich in der Welt und in der Bibliothek sein. Selbst wenn er seinen „Nacht“-Zettel dabei hat, ist das eine die Nacht und das andere das Wort auf dem Zettel. Er kann aber im Theater sein. Und damit sich vom Schriftbewusstsein der Philosophen entfernen hin zum immanent-transzendenten Beobachter-Bewusstsein.
Das Theater-Bewusstsein
In Abwandlung des Buchtitels von Arthur Zajonc, der eine gemeinsame Geschichte von Licht und Bewusstsein vorstellte, ist von einer gemeinsamen Geschichte von Theater und Bewusstsein, von Theater und Theorie zu sprechen. Als Platon die Transzendenz zum eidos einführt, im Dialog Menon, greift er zu einer Theaterszene. Ein namenloses Knäblein als Darsteller, Sokrates als Regisseur, Mitspieler und Bühnenbildner, Menon als Zuschauer, der Leser als Beobachter zweiter Ordnung. Sokrates baut auf der imaginären Bühne, die von Platon aufgeschlagen wurde (dem Schauplatz des Dialogs) seine eigene kleine Bühne auf und inszeniert den Zugang zur Idee, den der Knabe angeblich vollzieht, als Schau-Spiel für Menon. So wie Platon für die Imagination des Lesers.
Der Knabe aber bekommt nichts zu lesen, er geht nicht in die Bibliothek. Der Knabe versteht nicht einmal, was er tut – jedenfalls erfahren wir nichts darüber. Wohl aber der Beobachter Menon. Dieser erfährt an der Vorstellung den Zugang zur Idee. Und der Leser der Szene erlebt es imaginativ. Es wird kein logischer Beweis geführt. Es ist die bloße Vorstellung (in ihrer doppelten Bedeutung), die die Transzendenz in Immanenz erleben lassen. Trotzdem ist Platon kein Theatermacher, sondern ein Schreiber, der lediglich an dieser zentralen Stelle zum Theater greift. Weil das, was zu beweisen ist, in der Schrift nicht beweisbar ist. Dass es aber sein könnte, dass es sich nur um Theater handelt, also um eine Inszenierung, bringt Platons Beweis immer schon in Verdacht. Er könnte den Knaben ja instruiert und bezahlt haben, genau das zu tun, was er hier tut. Man könnte auch auf die Idee kommen, dass Sokrates vielleicht etwas über den Knaben erzählt – und nicht die Idee beweist. Dass es also ein Schauspiel über einen Knaben ist. Der vielleicht gar nicht der Knabe „ist“, der den Knaben spielt. Für den Beobachter Menon scheint das unerheblich zu sein. Menon lernt in situ, nicht in der Bibliothek. Er betrachtet das Schauspiel und lernt daraus etwas, das er nach“spielen“ kann. Es dem Knaben nachzumachen ist also die Folgerung, die aus diesem Schauspiel zu ziehen ist. Egal also, ob der Knabe der aber ist oder nur den Knaben spielt – wenn Menon den Knaben nachspielt (in verändertem Setting und Zusammenhang natürlich), gelangt auch er zum eidos (bzw. zunächst einmal zum Nachschein der Idee, die er durch angebliche Wiedererinnerung auffindet). Die Unsagbar- und Unschreibbarkeit der Lehre findet sich übrigens im Dialog selbst – denn das gesuchte Quadrat mit dem Flächeninhalt acht hat keine ganzzahlige Seitenlänge. Die Wurzel aus acht ist für die griechische Mathematik irrational (arrhêton). Die Seitenlänge des gesuchten Quadrates kann im Sand als endlich gesehen, nicht aber beschrieben oder gesagt werden. Hegel könnte die Seitenlänge eines Quadrates mit dem Flächeninhalt acht nicht auf seinen Zettel schreiben, aber er könnte sagen: Diese da. Wenn man so will, könnte man Platons Programm als eine inszenierte Anschauung beschreiben, aus der der Beobachter lernt – allerdings eine imaginäre Vorstellung. Ganz anders als beim Schreiberschreiber Aristoteles. Dass die Urszene der Philosophie also eine Ur-Szene ist, sollte man nicht übersehen.
Bleibt man bei Kusanowskis Trennung zwischen Performat und Dokument, sind die platonischen Dialoge (als scheinbare Protokolle) Performat-Dokumente. Dokumate? Permanente? Er trennt aber noch immer die Schrift von der Vorstellung. Das eine ist das schriftlich-körperliche sôma-sêma, das die lesenden Augen abtasten und im lauten (Vor-)Lesen wiederverstimmlichen, das andere die Vorstellung der vielen Stimmen in der lesenden Stimme und die Personae, die zu diesen Stimmen gehören (darüber hab ich vor ein paar Jahren mal ein Büchlein geschrieben). Gesprächsperformat und Schriftdokument bleiben zweierlei. Anders in der Szene. Anders im Theater.
Theater als Performat-Dokument
Trotz vieler Versuche ist es bisher nicht gelungen, Theater von Nicht-Theater ontisch zu unterscheiden. Was auch immer man versucht: Die Trennung ist entweder in der Vergangenheit aufgehoben worden oder könnte aus purer Lust aufgehoben werden. Das Wort auf dem Zettel ist nicht die Nacht und umgekehrt. Die Nacht auf der Bühne ist von der Nacht nicht zu unterscheiden, wenn man es nicht will. Es muss nicht einmal Nacht sein, um Nacht zu sein.
Nichts unterscheidet es – außer das Bewusstsein, im Theater zu sein, das vorhanden sein muss seit der ersten theatralen Aktion. Egal wo auch immer sie stattgefunden haben mag. Es muss ein Bewusstsein vorliegen, dass das, was sich da vollzieht, etwas anders ist, als das, was sich da vollzieht. Das der der da steht, nicht der ist, der da steht. Vielleicht musste man es der Menge klar machen durch die Maske, die nicht die Aufgabe hat, das Antlitz eines anderen vorzuspiegeln, sondern lediglich, das Antlitz dessen, der da ist, zu verbergen. Die Ausschaltung des direkt-sinnlich Identifizierbaren. Als Irritation dem hegelschen Zettel gleich, der plötzlich feststellt, dass das, was da angeblich ist, nicht das ist, was da ist. Was also, wenn Hegels sinnliche Gewissheit auf der Theaterbühne gestanden hätte, und am helllichten Tag dafür gesorgt hätte, dass eben doch Nacht ist, indem es die Differenz IN DIE WAHRNEHMUNG DES IDENTISCHEN brachte. Indem also Identität und Differenz keine Gegensätze sind, die dokumentiert werden können, sondern ineinander transformierbar sind. Das Dokument ist hier lediglich, DASS THEATER STATTFINDET. Dass es nur genau hier stattfindet (RAUM) und irgendwann anfängt und aufhört (als ZEIT-RAUM). Die Abgeschlossenheit des Performats macht es zum Dokument, das aber kein Dokument ist, weil es verschwindet, wenn es vorbei ist. Wer kein Bewusstsein gebildet hat, wird glauben, dass Hamlet stirbt und das Krokodil dem Kasperl wirklich gefährlich werden könnte. Ja dass man dem Kasperl vielleicht helfen könnte – obwohl man gar nicht da ist. Denn ist man beim Krokodil angelangt, ist das Theater zu Ende – und nur ein grüner Holzkopf übrig. Was mit dem dürren Begriff des „einfühlenden Spiels“ (Stanislawski und co) beschrieben wurde, ist tatsächlich eine Entfremdung oder Verfremdung. Der der da ist, ist nicht der der er ist, sondern ein anderer. Wer dafür kein Bewusstsein hat, wird am Theater irre werden. Wer aber das bewußtsein für den Raum und die Zeit des Theaters hat, wird hinterher erst verstehen, was Raum und Zeit selbst sind. Und was Personen sind, die nicht auf der Bühne stehen.
Egal was nun auf der Bühne geschieht, ist nicht einfach das, was geschieht. Aleatorik, Zufall, Extemporé und Improtheater bleiben noch immer Theater, zeigen den Riss in der Gegenwart, der sowohl senkrecht ist (als Riss zwischen Anfang und Voranfang, Ende und Nachende), zugleich Riss zwischen Darsteller und Dargestelltem. Man könnte hier erneut die Debatte von Privatheit und Öffentlichkeit anschließen. Denn zumindest der Riss zwischen privat und öffentlich zieht sich durch die Darstellung.
Ohne den Beobachter (theoros) gibt es Theater nicht. Er sieht das Ganze. Er sieht den Riss und sieht ihn zugleich nicht. Er sieht, was sich vollzieht – und weiß, dass es Theater ist. Damit sieht er, was er sieht, wiederum anders. Zum Beispiel als sinnhaltiges Geschehen, das aber erst durch den sinnsuchenden Zuschauer Sinn bekommt. Dieser Zuschauer sieht ein Ganzes, das es außerhalb des Theaters nicht zu sehen gibt. Auf die Ganzheit hob schon das aristotelische Poietik-Fragment ab. Das Ganze erkenne man daran, dass es nichts vorher und nichts nachher gibt. Und außerdem – so Aristoteles – habe dieses Theater (will heißen: die Tragödie) etwas Wichtiges, das Wichtigste überhaupt, wie er fand, nämlich den mythos. Heute wird dieser Begriff gerne substanzialistisch als die „Story“ verstanden, also die Geschichte, die sich abspielt und nacherzählen lässt. Dass Aristoteles so platt war, sollte man allerdings nicht annehmen. Sein mythos-Begriff ist ein struktureller, dem „System“ vergleichbar. Es ist die Risszeichnung des Geschehens, er meint die Strukturiertheit des Ganzen. Das Beziehungsgeflecht. Das Geschehen als definierbare geschehen. Und dieses ist nur dem Beobachter zugänglich (und dem Darsteller nur insofern auch er Beobachter ist). Aber es ist zugänglich. Der Bebachter im Theater bekommt den ganzen mythos geboten – wiewohl er ihn außerhalb des Theaters nur in „Teilen“ findet, die aber keine Teile sind, weil es das Ganze nicht gibt. Es sei denn, das Theater zeige einen mythos, der sich auch außerhalb des Theaters wiederfinden lässt. Zum Beispiel der mythos der psychologischen Motiviertheit. Oder den mythos der Herrschaftsbeziehungen in Königreichen. Oder den mythos der bürgerlichen Familie usw.
Damit schließt sich der Kreis: Der Beobachter geht nicht in die Bibliothek, um hinterher die Welt zu verstehen, sondern er sitzt im Theater, sieht einen Ausschnitt der Welt, in dem das Verstehen im Sinne der Wahrnehmung des mythos vorhanden ist. Anders als ein Soziologe, der sich in der Welt herumtreibt, sein Buch aus der Bobachterperspektive schreibt und wieder zurück in die Welt geht, die er vermutlich noch immer nicht viel besser versteht, heißt ins Theater zu gehen: in der Welt bleiben. Aber in dieser Welt mit Bewusstsein sein.
Keine Ahnung, ob die Argumentation damit schon am Ende ist. Mir scheint, dass die enge Verwandtschaft eines nicht-metaphysischen Bewusstseins mit der Situation des Theaterbeobachters schlagend ist.