{Vorbemerkung: In der Kategorie “Thesen zum Theater” sollen in diesem Blog Gedanken auf Tragfähigkeit getestet und zur Kritik und Überarbeitung gestellt werden. Jede These bleibt vorläufig. Wie auch diese Bemerkung.}
Dass das Theater der Raum des “Sozialen“sei, gelegen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, war letztens hier und hier im Blog als These aufgestellt worden. Das Soziale war dabei als der Bereich des sozialen Systems vorläufig bestimmt worden — was sich angesichts der Überlegungen zum Verhältnis von privat/öffentlich im Zusammenhang mit Google Streetview noch ein Stück weiter präzisieren lässt.
Das Soziale als Veröffentlichung des Privaten
Insbesondere in der Dramengeschichte der letzten Jahrhunderte spielte Theater häufig (aus dem Bauch heraus würde ich sagen: in bestimmten Epochen nahezu ausschließlich) in “Privaträumen”. Seien es die Herrscher- und Adligengemächer der Shakespeare’schen Könige, die Paläste Racines oder auch die Wohnräume bürgerlicher Trauerspiele. Theater ver-öffentlicht Räume, die weitestgehend “privat” in dem Sinne waren, dass das Publikum dort nicht hinein konnte. Und innerhalb dieser veröffentlichten Privaträume entspann sich das dramaturgische System der Socialitäten, der Beziehungen untereinander, die Verschiebungen von Konstellationen, der Wissensüberschuss oder ‑mangel bei Beteiligten. Das durch die Rampe getrennte, ggf. sogar ins Dunkel des Zuschauerraums getauchte Publikum war in die Rolle des “privaten” Voyeurs gewiesen und hatte das “Recht auf Einsicht” in das (allerdings fiktive) Private. Eine Form von “Big Brother” — nur eben unter den Regularien des Systems. Denn mit Kant wäre zu sagen, dass Theater dabei die transzendentale Ästhetik der praktischen Vernunft sowohl aufruft als auch formiert und aktualisiert. Um eine Handlung zu “verstehen” muss verstanden werden, was und wie beschaffen Verhaltensweisen sind und sein können. Dass es beispielweise “Motive” fürs Handeln gibt. Dass Aktionen Reaktionen nach sich ziehen. Dass Systemstabilität in den Socialitäten durch einzelne Artefakte (“Taten”) destabilisiert werden können und durch andere Artefakte wiederum “restabilisiert” werden könnten (“Happy End”). Das alles muss verstanden werden — so wie Raum und Zeit in der theoretischen Vernunft.
Das Soziale als Annäherung des Fernen
In Fortsetzung dieses Einblicks ins (scheinbar) Nahe kann der Blick auf angenähertes Fernes betrachtet werden. Fern hier zu verstehen als Zeitliches und Räumliches. Der Blick auf das scheinbar “ganz andere” (wie Shakespeares Sturm, die klassizistische Vorstellung von “der Antike”, die klassische Götterwelt, die vielerlei fernen Gestade an denen Attische Tragödien spielten oder auch der Hang zu internationalen Theaterfestspielen in der Gegenwart) zeigt das Andere als das Verwandte, reaktualisiert dabei in der Verfremdung (etwa durch den Unterschied etwa des versifizierten Sprechens) die transzendentale Ästhetik (oder müsste man von transzendentaler Ethik sprechen?), indem diese transzendentalen Strukturen weitgehend gleich bleiben oder gar bewusst idealisiert und in der moralischen Anstalt von nahezu normativer Gestalt werden. Indem etwa das vorgestellte Handlungssystem der idealisierten Antike zum Vorbild für die Gegenwart werden soll. Oder indem nicht präferierte Handlungsweisen (im Sinne einer finalen Strafe) mit ihren negativen Folgen gezeigt und damit verknüpft werden.Wer am eigenen Leibe erfahren möchte, wie es ist, das “system” nicht aktualisieren und anwenden zu können, möge sich in eine Kathakali- oder Noh-Vorstellung begeben, deren hauptsächliche Fremdheit nicht in der Sprache besteht…
Das Soziale als Äußerung des Inneren
ALs die extremste Form einer Veröffentlichung eines privaten “Innenraums” und zugleich des befremdlichen Anderen kann vermutlich das formale Mittel des Monologs angesehen werden. Hier äußern sich Gefühls- oder Denkbewegungen in der “Einsamkeit” der Bühne — zugleich ausgestellt für das Publikum, an das sich die monologische Adresse nicht unbedingt direkt richten muss (aber kann). Nicht einmal die Adresse an Götter, das Schicksal oder irgendeine andere pseudo-dialogfähige Entität ist nötig. Es wird Unsichtbares hörbar und “beobachtbar” gemacht. Der “Innenraum” im Menschen entsteht. Und wenn Dramatiker Psychologen waren, dann insbesondere deswegen, weil sie lange vor jeder Psychologie bereits den Innenraum des “Psychischen” eröffnet hatten und “überindividuell” für die vielen Zuschauer erfahrbar machten in der Äußerung des Einzelnen. Auch hier wiederum spielen sich wiederum “innere Dramen” ab. Durch die Sprachwerdung des Inneren ist “das Psychische” systemfähig geworden. Und als Verhältnis zu sich selbst wird auf dem Umweg über die Sprache, die zwischen Bewusstsein und Selbst-Bewusstsein nicht nur trennt, sondern gar Dialogfähigkeit zwischen dem Redenden und Hörenden signalisiert, wiederum eine Socialität geschaffen. Zwischen Je und Moi vielleicht.
Das dramatische Theater hat mit all diesen Raumtrennungen und gleichzeitg Grenzüberschreitungen die transzendentale Ästhetik der Ethik vielleicht geschaffen. Vielleicht auf Dauer gestellt. Vielleicht bearbeitbar gemacht. Und die Einsicht fordert heraus, dass ein nicht mehr dramatischen Drama — das nicht mehr dramatisch ist, weil das gesellschaftliche Leben sich in eine andere Ethik und transzendentale Ästhetik hineinbewegt, der mit klassischen Kategorien nicht mehr beizukommen ist. Dazu gehört beispielsweise die Auflösung der Begrifflichkeiten von privat/öffentlich, nah/fern, innen/außen. Google Streetview ist ein passender symbolischer Gegenstand, an dem zumindest das privat/öffentlich Schema als nachhaltig destabilisiert gezeigt werden kann.
To be continued.