Inder philosophischen Tradition ist der Zusammenhang zwischen Sein und Wahrnehmung/Beobachtung alles andere als einfach oder harmlos. Solch ein Rückblick in die Tradition kann vielleicht den Beobachtungsphänomenen im Zeitalter des Internet eine interessante Dimension verschaffen — einerseits zwischen der Seinskonstitution, die durch Wahrnehmung entsteht, andererseits die Bedrohung durch den Betrachter.
Der ersehnte Blick
Überspringen wir mal Parmenides und andere Ontologen und kommen direkt zu George Berkeleys “Esse est percipi” — “Sein heißt wahrgenommen werden”. Und erlauben wir uns, ohne jeden interpretatorischen und diskursiven Ballast eine Übertragung ins Netz — so wird unmittelbar augenfällig, dass für alles, was im Netz stattfindet, ein Anderer vonnöten ist. Sei es ein Mail-Empfänger, ein Chatpartner, ein Webseitenbesucher, ein Blog-Leser, ein Blogkommentator, ein Videobetrachter usw. Und die Seinsdimension des einzelnen Seienden ist quantifizierbar. Ein millionenfach angesehenes YouTube-Video “ist” (genau wie sein Macher) mehr als ein nur wenige Male geschautes. Ein Blog mit vielen Besuchern und Kommentaren “ist” mehr als ein wenig gelesenes und unkommentiertes. Das “Sein” ist dabei nicht nur im Gegensatz zum Nichtsein — sondern eine kantisch gesprochen “intensive Größe”, die er das Reale der Wahrnehmung zu sein urteilte. Der Realitätsgrad eines Dings ist quantitativ different:
Also hat jede Realität in der Erscheinung intensive Größe, d.i. einen Grad. Wenn man diese Realität als Ursache (es sei der Empfindung oder anderer Realität in der Erscheinung, z.B. einer Veränderung) betrachtet: so nennt man den Grad der Realität, als Ursache, ein Moment, z.B. das Moment der Schwere, und zwar darum, weil der Grad nur die Größe bezeichnet, deren Apprehension nicht sukzessiv, sondern augenblicklich ist. (KrV 209; hier)
Eine Webseite, ein Chatpartner, ein Mailpartner, ein Blog, der mehr Wahrnehmung hat bekommt mehr Realität und damit wiederum mehr “Wirkung”. Das hat Kant so nicht gemeint — versteht sich. Kant sprach von physischen Objekten, nicht von Kommunikationsgrößen. Dennoch lässt sich das Prinzip “rauben”. Ein Webinhalt, der nicht wahrgenommen wird, “ist” nicht. Ein Webinhalt der oft wahrgenommen wird, “ist” mehr. Dieses Phänomen kennt jeder, der ein Blog betreibt und auf die Stats schielt, jeder Werbetreibende, der Visits misst, jeder Video-Uploader, Musik-Uploader, Bild-Uploader. Und es kennt auch der Beobachter, der sich an der intensiven Realität der Wahrnehmungen (etwa durch den Google-Suchalgorythmus oder die Sortierfunktion “beliebteste/meistgesehene/meistkommentierte”) die Suchergebnisse aufbereiten lässt. Der Produzent setzt sich dabei der Ungewissheit des Nicht-Wahrgenommenwerdens aus. Mit Chlodwig Poth: “Vermutlich guckt wieder kein Schwein.”
Der bedrohliche Blick
Der allwissende und insbesondere alles sehende Gott, der sich im symbolischen Auge der Barockkunst besonders eindrücklich veranschaulichte, eröffnet die andere Dimension des Beobachters und des Blickenden. Der “Big Brother” oder der Foucault’sche Überwacher. Zunächst scheint dies ein Jemand zu sein, der beobachtet, urteilt und straft. Wäre es so simpel, könnte man hoffen, nicht gesehen worden zu sein (dem Dieb in der Nacht gleich). Tatsächlich aber ist die Überwachung so einfach nicht zu fassen — ist doch die Überwachung selbst gar nicht nötig. In den Beobachteten das Wissen um seine Beobachtetheit zu pflanzen, ist das eigentliche Ziel dieser Überwachungen. Der Aufruf des Gläubigen, jederzeit so zu handeln, als würde ein Gott ihn betrachten und für alles was er tut (und gar denkt) zur Verantwortung ziehen.
Foucault zeigt diesen Mechanismus in “Überwachen und Strafen” sehr eindrucksvoll an den nach Benthams Plan gebauten “panoptischen” Gefängnissen. Es kommt gar nicht darauf an, dass der Zelleninsasse sieht, dass er beobachtet wird. Vielmehr ist es in Haftanstalten erheblich wirkungsvoller, die Scheiben des Wachturms so zu verspiegeln, dass der Gefangene nicht weiß, wann ein Blick ihn treffen könnte und wann nicht. Denn dann wird ihn der internalisierte Blick jederzeit treffen. Hunderte Gefangene können gleichzeitig in der Illusion gehalten werden, der Blick des Auf-Sehers gälte in diesem einen Moment ausschließlich ihm selbst. Und sie werden die Frage nach dem Blick insbesondere dann stellen, wenn sie im Begriff stehen, etwas zu tun, was mutmaßlich dem Aufseher nicht gefallen könnte.
Im Gegensatz zu dem ersten, das Sein intensivierenden Blick, ist dieser Blick der Disziplinierende (Foucault). Und im Netz erhält dieser disziplinierende Blick wiederum eine andere Dimension, die der leidigen StreetView Debatte entnommen werden kann. Es ist nicht so sehr der Blick des Zensors oder Bestrafers. Es ist — als Gegenstück des göttlichen Blicks — ein “diabolischer” Blick. Der “Andere”, der eben noch als Seins-bringer agierte, indem er meine eigenmächtig ins Netz gestellten Inhalte in der Weise rezipierte, wie es mir gefiel, wendet sich nun in einen unheimlichen Voyeur, der durch seine Fähigkeit der stillen Beobachtung zu einem “schlechten Gewissen ohne Inhalt” mutiert. Es ist ein Beobachter, der den Beobachteten entmächtigt, weil er einfach als Beobachter nicht vor-gesehen war. Weil er sich erdreistet zu schauen, ohne dazu explizit eingeladen gewesen zu sein.
Es handelt sich ja zumeist gar nicht darum, dass tatsächlich inkriminierbare Inhalte (oder Hausfassaden) vorliegen. Diejenigen, die solche Inhalte produzieren wissen sehr wohl, wie man sie unerwünschten Blicken und Netzsperren entzieht. Es ist ein Gewissen, das sich meldet, ohne dass ein Beobachter identifiziert werden und auf seine Regeln und Gesetze befragt werden könnte. Es ist das Gewissen selbst, das nur in der Frage besteht: “Was könnte irgendjemand mit diesen Inhalten anstellen, die ich ins Netz gestellt habe?” Und die jeweilige Besetzung des Diabolus erzählt sehr viel über den (vermeintlich) Beobachteten. Es kann “der Staat” sein, ein “Einbrecher”, ein “kapitalistisches Unternehmen”, ein “Arbeitgeber — der Möglichkeiten sind unbegrenzt viele. Und sie finden vor allem in einem paranoiden oder par-ästhetischen Bereich statt.
Nicht wer mit welcher Perspektive schaut und das Reale steigert — sondern dass nicht klar ist, wer wann mit welchen Regeln schaut (und ob überhaupt jemand schaut) ist der disziplinierende Blick. Wer sich auf die Singebörse stellt, möchte von möglichst vielen anderen infrage kommenden Singles betrachtet werden — aber zugleich nicht von Freunden, Eltern, Kollegen oder Ehepartnern dabei “erwischt” werden.
Der doppelte Blick des Anderen
Zugleich ersehnter Realitätssteigerer eines Netzinhaltes — ist jeder Netzinhalt auch den Blicken des potenziellen Diabolus ausgeliefert. Die Unsicherheit, ob die Erwünschten kommen werden, wird mit der Angst verwoben, dass der Falsche kommen könnte. Einen persönlichen Inhalt in den kommunikativen Kontingenzraum, der das Web ist, hinaus zu stellen, heißt, sich der Unsicherheit und Sorge auszusetzen. Dieser Unsicherheit und Sorge kann nicht ausgewichen werden. Es sei denn, man stelle ein Angebot nur für sich ein (aber wozu dann das Web)? Oder man schaffte eine Garantieinstitution, die vor “dem Anderen” schützt. Aber auch diese Institution wäre selbst ein “Anderer”, der mit seinen dann expliziten Regeln das Foucault’sche Panoptikon wieder errichten würde. Und das wäre für das Web grauenvoller als jede Kontingenzangst.
Nachgetragenes Postscriptum: Ist vielleicht der ersehnte Andere derselbe wie der diabolische Andere — der nur deswegen beängstigend ist, weil er beim Beobahcten nicht beobahctet werden kann? Weil also das ganze Netz permanent eine verspiegelte Scheibe ist, in der sich erst zeigt, wer zu sehen gibt? Weswegen alle, die zu sehen sind, fordern, dass auch alle andern sichtbar sein mögen? Das würde die Vehemnz der Kritik derer, die StreetView bejahren an jenen, die glauben, sehen zu dürfen und sich dabei selbst nicht sehen lassen wollen (und seis nur die Fassade)? Vielleicht müsste man Levinas heranziehen? Damit wären wir dann zuletzt in der philosophischen Ethik (des Netzes?) gelandet.
“Vermutlich guckt wieder kein Schwein.” » F.K. Waechter, nicht Poth. (Ganz hinten steht ein Schwein und sagt leise: “Toll.”)
Aaaaah.. Waechter. Stimmt. Wie konnte das passieren.
[…] da sind wir bereits bei dem nächsten Artikel, den ich hier noch kommentieren wollte. Der Postdramatiker hat eine sehr schöne Grundlage für die Diskussion der digitalen Öffentlichkeit geliefert und […]