Als Institution kam der Theaterkritik im Zeitalter des Drama-Theaters die Funktion einerseits des Wächters über den Wanderungsprozess wie auch die kontrollierende Rückübersetzung des Wanderungsprozesses aus dem geschrieben Text auf die Szene zu. Die Kritik entschied, ob der vom vorab lesenden Kritiker entborgene Eigensinn des Stücks sich auch nach der Sinnwanderung auf die Szene noch wiederfindet und ob die sinnliche Oberflächengestalt ihre Aufgabe erfüllt hat, einen fesselnden Abend zu bieten. Beides stellt die Kritik in der geschrieben Kritik aus und dar, gibt ein Kondensat des Sinns des Abends, sowie eine Reihe von Hinweisen auf die mehr oder minder fesselnde Ausgestaltung des Abends wieder.
Zwischen De- und Rekonstruktion
Natürlich gibt es diesen Prozess in dieser stalinistischen Simplizitaet spätestens seit dem Zeitpunkkt nicht mehr, da auch Regisseure sich selbst als schöpferische Künstler und nicht mehr nur als Fremdsinntransportarbeiter verstanden. Je mehr sich die Überzeugung durchsetzte, dass der Eigensinn alles andere als ein-deutig ist, dass anstelle eines ewigen Sinns zeit_, orts- uns persönliche Konstitutionen und Erfahrungen des Lesers von wesentlichem Einfluss darauf waren, was als Sinn eines Textes zu gelten hat, desto heikler und offener war die Sinngebung des szenischen Geschehens im Rückbezug auf die Vielsinnigkeit des Stücks. Die Inszenierung begann unauflöslich zu schwanken zwischen Rekonstruktionsversuchen des textlichen Eigensinns im neuen szenischen Körper (als Werktreue), der Neuinterpretation eines vermeintlich fest liegenden Sinnes und der direkten Dekonstruktion eines durch Gewohnheit als fest und gegeben angenommenen Eigensinnes. Zugleich wuchs damit der Kritik die Funktion zu, die Beziehung zwischen textlichem und szenischem Eigensinn zu bemerken, zu bedenken, zu beschreiben und zu beurteilen. Statt nurmehr zu urteilen, ob der textliche Eigensinn auf der Bühne buchstabentreu wiederverkörpert wurde, hatte die Kritik nun neue Lesarten, Sinndimensionen, Interpretationen zu dokumentieren und mit Blick auf den Text einzuordnen.
Die Aufgabe des Begriffs der Inszenierung stellt auch die Kritik vor eine neue Aufgabe – es sei denn, sie begnügt sich mit der bloßen „Like“-Funktion, d.h. als primus inter pares erster Produktbewerter auf einer amazonartigen Theaterplattform zu sein und den orientierungslosen Großstadtbewohnern Hilfestellung bei der möglichst effizienten und genussoptimierten Abendgestaltung zu geben. Die Beantwortung der Frage: Soll ich oder nicht heute ins Theater gehen? Soll ich oder nicht diese „Inszenierung“ anschauen kann allerdings nicht die letzte Schrumpfform der Kritik sein und bleiben. Das bloße Geschmacksrichtertum würde durch das Angebot einer Besucherbewertung letztlich ausgehebelt und überflüssig gemacht – wie der Expertentest in einem Automagazin durch motor-talk.de, wo über 1 Million Mitglieder ungefilterte, erfahrungsbasierte Meinungen zu allen möglichen Autos abgeben. Als Stiftung Theatertest wird Kritik ebenso wenig eine Zukunft haben, wie als bloße Werbemaßnahme für Theater.
Kritik nach der Inszenierung
Wenn sich die hierarchische Unterordnung der Bühne unter den Eigensinn des Textes verschiebt zu einer eigensinnigen, vielleicht nicht einmal mehr auf einer begrenzten Bühne, mit einem nicht einmal mehr festgesetzten Publikum, zu einer Form für die der Name noch fehlt, in der Text mehr wird als das Material im postdramatischen Theater (d.h. sich das Theaterschreiben auch nicht mehr ängstlich zurückzieht auf ein „Ich liefere nur Material“ Positiönchen, das letztlich aus dem einen Extrem der Beherrschung der Szenerie durch Schrift in das andere, das Mauseloch-Extrem des „Ich schlag ja nur Wörter vor“), ohne in „Das Drama“ zurückzufallen, dass nach „Inszenierung“ ruft, wenn sich Unterordnung also in Beiordnung verändert – dann kann auch Kritik nach der Ablösung des gesetzesartigen Primats der Schrift nicht anders, als den Richterthron zu verlassen und sich selbst beizuordnen. Wenn der Text als Stück in seiner Faktur zu einer maximalen Fertigkeit vorangetrieben, sich doch dabei der eigenen Stückhaftigkeit und Beta-Version bewusst bleibend, auf der Szenerie befindet, die sich ebenso – trotz aller Verfertigung – der Nichtfertigheit bewusst bleibt, die immer schon darin bestand, das Theater (wie die Skulptur des Marmorblocks) erst im Betrachter zum Theater wurde, dann kann die Kritik, ohne sich selbst ein abschließendes Urteil anmaßen zu wollen, nicht anders als selbst zum Teil dessen zu werden, was geschehen ist. Nicht etwa im Sinne der Forderung nach einer „konstruktiven Kritik“, die schon immer Blödsinn war. Sondern im Sinne einer „eingreifenden Kritik“. Von der Kritik ist zu fordern, dass sie das Theater fordert. Herausfordert.
Von der Kritik der Inszenierung zur Theaterkritik
Wenn die Kritik weder beschreiben muss, was zu erleben war, noch den Sinn wiedergeben oder beurteilen, ob der Sinn den Sinn getroffen hat, noch auch sich in der Like-Funktion erschöpfen will, kann Kritik sich nur auseinandersetzen, womit Theater sich auseinandersetzt – anstatt sich mit dem gesehenen Theater auseinanderzusetzen. Anstatt das Theater zu beurteilen, muss Kritik zu demjenigen Teil von Theater werden, der sie schon immer war.
Was „ist“ Kritik?
Überhaupt – die Kritik ist was eigentlich (oder Uneigentlich?). Wenn Kunst sich mit Dingen auseinandersetzt und sie zu gemachten Dingen macht, die keinen Zweck haben außer dem, gemachte Dinge zu sein, was ist dann der „Sinn“ der Kritik, um ein großes Wort zu bemühen? Wenn Kunst Beobachter erschafft, die ein Ding als Kunstwerk sehen und damit einen anderen Blick auf ein Ding werfen, auf eine Kunsttanne zwischen 1000 Naturtannen, dann ist Kritik die Institution, die einsetzt, wenn der Beobachter danach fragt, was der Unterschied ist oder warum es ihn gibt. Der Unterschied zwischen der Kunsttanne und der Naturtanne. Der Unterschied zwischen Bühne und Nichtbühne. Der Unterschied also zwischen Geschehnissen und Sinn. Wobei „Sinn“ ziemlich gut den mythos von Aristoteles übersetzt: Es ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Anders als die Geschehnisse außerhalb der Bühne, die geschehen, sind die Geschehnisse hier zusammengesetzt. Und die Kritik nimmt diese Zusammengesetztheit als Zusammengesetztheit in den Blick. Gleich dem Pantheisten, der überall, wo Wanderer nur zufällige Natur wahrnehmen, das Wirken Gottes beobachtet und als den Sinn der Welt versteht, erblickt der Kritiker die Zusammengesetztheit der Geschehnisse als Gemachte. Zunächst als von einem Künstler/Gott gemachte – in einer Netzwerkgesellschaft aber …? Die Autorschaft, das einfache Subjekt des bereits zitierten logischen Satzes
Regisseur X inszeniert Stück Y von Dramatiker Z am Theater A in Stadt B.
schwindet. Die Autorität, Autorschaft, Führerschaft. Das macht Unruhe, Angst.
Der Sinn der Kritik
Sinn entsteht im Zusammenspiel mit der Frage nach dem “Warum”, und wenn dieses “Warum” nicht im Sinne einer individualpsychologischen Motivationsmatrix beantwortet werden soll, sondern im Sinne eines Zusammenhangs mit dem Zusammenhang, in dem es sich befindet oder nicht befindet, dann kann letztlich die Warum-Frage der Kritik nur die Sinnfrage sein. Diese Sinnfrage entsteht nicht von sich aus. Dieses, jenes oder das zu tun kann lebensweltlich ohne die Sinnfrage dessen ablaufen, der tut ohne zumindest ohne dass er reflektiert bzw. beobachtet, was er tut, und wie es einen Zusammenhang mit den Zusammenhang bildet, in dem er sich befindet. Unausweichlich wird die Frage erst im Appell, der zugleich Appell an die Verantwortung ist, sofern Sinn eine (vielleicht sogar: die) mögliche Verantwortungsdimension liefert. Dabei ist Sinn nicht die einfache Antwort im Sinne eines simpel kausalen “dieses bewirken”, dieses auslösen”, dieses “anschalten”, also eine einfache Relation aus einem Tun und etwa, das oder an dem getan wird. Sondern dieser simple mechanistische Kausalzusammenhang stellt sich selbst erst in einen Sinn/Zusammenhang, wenn es im Zusammenhang mit dem beobachtet oder reflektiert wird, womit es zusammen hängt. Die Frage: Warum hast du den Schalter betätigt? bekommt als kausalmechanische Antwort “Um Licht zu machen“. Der Sinnzusammenhang aber begreift den gesamten Zusammenhang ein, in dem nicht nur der Schalter, sondern auch das Licht, der Raum und alles Zusammenhänge, die damit zusammen hängen stehen. Die individualpsychologische Antwort “Ich mag’s gern hell” vermag zwar für denjenigen, der das Licht angeschaltet hat, einen individuellen Sinnzusammenhang herstellen — im Bereich der Kunst ist seine Antwort aber nicht letztendlich, es sie denn, sie schlösse an einen Sinnzusammenhang an, der die individuelle Perspektive in einen weiteren Sinnzusammenhang einbaut. Einen Sinnzusammenhang etwa, der den Künstler als Inbegriff der Kunstwelt sieht und mit diesem spontan und autonom aus sich schöpfenden Genie, das es gerne hell mag, bereits eine hinreichende Einordnung in einen Sinnzusammenhang bringt, auf die der Betrachter des Kunststücks da mit demselben “Recht” antworten kann: Ich nicht. Und sich damit als Kunstrichter dem selben Sinnzusammenhang verpflichtet fühlt, der allerdings weitere Kommunikation ausschließt, da sich über diese Form der Geschmäcklerei nicht nur nicht streiten, sondern eigentlich auch nichts sagen lässt. Ob aber ein Sinn entstehen kann, etwa angesichts einer Singularität, die sich in einen vor-handenen Sinnzusammenhang nicht einfach integrieren oder an ihn anschließen lässt, die also zunächst als sinn-los erscheint, ist eine Frage, die erst beantwortet werden kann, wenn sie gefragt wird. Ob der Künstler darauf eine Antwort gibt oder nicht, ist dabei nicht von Belang — hier lässt sich an Luhmann insofern anschließen, als bei ihm der Künstler auch nur ein Beobachter ist, der an das, was er tut, die Frage nach dem Sinn nur aus seiner, gegenüber anderen Beobachtern nicht grundsätzlich verschiedenen Beobachterposition stellen kann. Allerdings hat der Künstler vor dem Vermerk “fertig” die exklusive Chance, das Werk, das er beobachtet aufgrund seiner Beobachtungen noch zu verändern. Wenn das Vermerk “fertig” aber darauf prangt, wenn als Premiere ist, das signierte Bild in der Galerie hängt, das Buch gedruckt ist, die Musik gespielt wird, ist auch er nur Beobachter. Und andere Beobachter mögen hinsichtlich des Sinnzusammenhanges zu anderen Aussagen kommen, als er selbst. Er ist dann eine Stimme unter anderen. Was sich — lebensweltlich gesagt — beschissen genug anfühlt. Der Sinn der Kritik nun ist, zunächst die Sinnfrage in Anschlag zu bringen in der Begegnung mit dem Kunststück. Und zudem die beobachteten Sinnkonkretisationen dann in einem — selbst wieder nicht selbstverständlichen, sondern verständnisbedürftigen Artefakt (Text, Video) anderen Beobachtern zugänglich zu machen, die zumeist erst durch diesen Akt der Zugänglichmachung die Chance haben, aus dem Stand der Gaffer und wahrnehmenden Zuschauer in eine Beobachtung oder Reflexion einzutreten. Der Sinn der Kritik ist also, in der Kritik die Frage nach dem Sinn zu stellen, zu artikulieren und einen Antwortentwurf vorzugeben. Ob dieser Sinn den Sinn trifft, den der Leser der Kritik in der oder nach der Betrachtung des “selben” Kunstwerks konstruiert oder konzediert, ist damit nicht gesagt. So wenig zwei Regisseure das “selbe” Stück identisch inszenieren, so wenig wahrscheinlich ist es, dass die Leser einer Kritik den selben Sinn verstehen oder notwendigerweise den im Kritiktext wiedergegebenen Sinn des Kunstwerks teilen würden. Da der Zusammenhang, in den das Werk eingebaut oder an den es angeschlossen werden muss, ein individuell Verschiedener ist, kann, wird oder muss auch der Sinnzusammenhang, der daraus verstanden wird, ein unterschiedlicher sein. Es sei denn — und hier kommen wir zur gemeinschaftsbildenden Dimension von Kunst — es handelt sich um ein Werk, das seine Sinn-Entschlussfähigkeit vor allem durch Zusammenhäng bildet oder zu bilden versucht, die eine gewisse Gruppe von Individuen teilen. Dann wird die Gruppenbildung dieser Gruppe gerade dadurch urgiert, dass sie einen gemeinsamen Sinnzusammenhang aus diesem Werk ableiten können. Man nennt so etwas etwa „Nationalkunst“.
Der Widerspruch der Kritik
Nicht einmal in ihren plattesten Daumenhoch-Ausprägungen versteht Kritik sich als widerspruchsloses Hinnehmen. Noch in der einfachen Abendevent-Bestenliste findet sich ansatzweise die Frage nach „Warum sollte ich hingehen?“, in der sich verklausuliert die Frage nach dem Sinn wiederfindet. Als Antwort mit dem Unterhaltungsfaktor ist bereits die Grundannahme verbunden, dass der Sinn des Abends darin bestehe, unterhaltend, kurzweilig, lustig zu sein.
Kritik benötigt – sie mag es einräumen oder brüsk mit Ideologieverdacht von sich weisen – Kriterien, die sie an das zu Beurteilende oder zu Kritisierende anlegt. Erst darin kann sie sich selbst so weit aus der Wahrnehmung herauslösen, dass überhaupt die Beobachtung dessen, was geschehen ist, möglich wird. Und zugleich wird Kritik, wo sie über sich selbst aufgeklärt ist, sich ihrer Kriterien bewusst sein und wird bereit sein, sie wiederum den Widerspruch der Leser auszusetzen. Oder der Macher, die sich vom Kritiker missverstanden fühlen dürfen, wie einst Tschechow von Stanislawski. Tschechow warf Stanislawski vor, er läse seine Texte als Tragödie statt als Farce. Nun – Stanislawski hätte ihm entgegnen können, dass Tschechow seine Texte falsch liest. Er hätte ihm aber auch mit Kriterien antworten können, mit Beobachtungsweisen des Textes. Und ebenso könnte der Kritiker dem Regisseur oder den Spielern antworten, dass er eben mit anderen Kriterien urteilt oder mit anderen Kontexten beobachtet.
Die kritische Frage an das zu Kritisierende lautet: Warum machst du das? Warum soll ich mir das ansehen? Das hat die Kritik herauszufinden – um sich danach dazu zu verhalten. Wenn Theater sich verstehen lässt als eine Form der Kommunikation (die es schon immer war) und nicht der massenmedialen Information – ist von der Kritik der Eintritt in die Kommunikation zu verlangen. Ich wünschte, Kritiken zu lesen, die Aufführungen widersprechen, anstatt sie lediglich zu be-sprechen. Und Kritiken, die sich die Mühe machen, den Spruch zu finden, der Widerspruch oder Zuspruch finden könnte. Art is communication. Theatre is communication. Gleichzeitig Naturding zu sein und kommunikativer Akt, gleichzeitig kommunikativer Akt und Naturding zu sein – ist die Reformulierung der traditionellen Ansicht, Kunst sei ein nutzloses Ding mit Sinn. Kunst ist ein sinnloses Ding im kommunikativen Zusammenhang. Was will uns der Künstler damit sagen/zeigen? – ist ein geflügeltes Wort. Die zweite Frage lautet nun: Was ist ihm darauf zu entgegnen? Und über allem die Frage: Warum erzählst oder zeigst du mir das? – die sich sowohl an den Textschreiber vom Theater, an den Theatermacher vom Kritiker an den Kritiker vom Kritikleser gestellt findet. Warum schreibst du dieses Stück? Warum machst du dieses Theater? Warum schreibst du darüber? Warum liest du die Kritik? Warum schreibst du für das Theater? Warum machst du Theater? Warum schreibst du über Theater? Und die Antwort auf die Frage ist keine dem beobachteten Gegenstand Äußerliche – sondern das jeweilige Beta-Werk trägt sie entweder in sich. Oder sie ist unsinnig.Ein Text, eine Aufführung, eine Kritik, mit der nicht streiten oder über die nicht reden lässt, ist schlecht. Er/sie mag so „gut gemacht“ sein wie sie will. Die kunsthandwerkliche Dimension ist irrelevant bzw. lediglich eine Randbedingung, der Weichheit der Sitzplätze und der Kälte des Pausenbiers vergleichbar. Wer sich einmal daran gewöhnt hat, nicht nur die nachtkritiken zu lesen, sondern auch die Kommentare und Diskussionen darunter, versteht die Unumkehrbarkeit dieses gesellschaftlichen Wandels, der von der Erhabenheit des Kunstrichterstuhls, der sich nicht einmal den Notizblock aus der Hand nehmen lassen will, zu einer Austauschsituation führt, in der der Kritiker sich mit seiner Kritik der Kritik stellen muss – sei es der Leser, der Stückschreiber, der Regisseure, Dramaturgen, Hospitanten oder auch nur der anderen Zuschauer, die neben ihm saßen.
Alles weitere dann dann. Jetzt erst mal Luhmanns „Kunst der Gesellschaft“ fertig lesen – unter der Maßgabe des Einspruchs gegen die Behauptung, aus der künstlerischen Kommunikation könne die „materielle Komponente“ ausgeschlossen werden. In der Kunst liegt nicht nur strukturelle Kopplung vor zwischen System und Material. Vielleicht sollte das die Systemtheorie irritieren …?