Von der dokumentarischen Erzählung zur Spekulation: Börsencrashs, Medienhypes, Ende des Dramas

August 14th, 2011 § 2 comments

Von dem weiss­gar­nix-Mit­blog­ger Frank Lüb­ber­ding ist in der FAZ hier  ein Arti­kel zu lesen, in dem er mit gewis­ser Wut Medi­en Mit­schuld gibt an den Ver­wer­fun­gen an der Bör­se. Dabei scheint er die­se Behaup­tung ansatz­wei­se für unge­heu­er­lich oder skan­da­lo­gen zu hal­ten. Mit einer For­mu­lie­rung, die hier aus dem Blog stam­men könn­te, schreibt er:

Die Finanz­märk­te wer­den aber als ein […] Dra­ma insze­niert. […]Die Medi­en lau­schen jedem State­ment und posau­nen es in die Welt. Um die inhalt­li­che Rele­vanz sol­cher Stel­lung­nah­men geht es nicht. Die größ­te Posau­ne in die­sem Orches­ter ist der Online-Ticker. […]  Jedes Kata­stro­phen-Sze­na­rio bekommt sei­ne Plau­si­bi­li­tät, weil es mit den Erwar­tun­gen des Publi­kums über­ein­stimmt. Es ist süch­tig gewor­den nach Neu­ig­kei­ten. So machen die Medi­en aus der Vola­ti­li­tät eines Han­dels­ta­ges ein Dra­ma, das sich bes­tens ver­mark­ten lässt

Und als eine Art Quint­essenz lässt sich lesen:

Medi­en und Märk­te leben in einer sym­bio­ti­schen Beziehung.

Das klingt nach einer klu­gen Ein­sicht – aber das Rab­bit Hole geht tie­fer, als Lüb­ber­ding zumin­dest an die­ser Stel­le andeu­tet. Es ist kein Zufall, dass der Begriff der Spe­ku­la­ti­on sowohl in der  Finanz­welt wie in der Medi­en­welt gera­de als Gesamt­zu­stands­be­schrei­bung die­nen kann. Sowohl die media­le als auch die finanz­markt­li­che Spe­ku­la­ti­on lässt sich von unsor­tier­ten Neu­ig­kei­ten (Lüb­ber­dings Live-Ticker) und Gerüch­ten zum Han­deln ver­lei­ten. Der Bör­sia­ner kauft oder ver­kauft, der Jour­na­list haut eine ver­kauf­ba­re oder nicht-ver­kauf­ba­re Mel­dung raus.

Märk­te und Medi­en – und Politik

Das selt­sa­me sin­gu­la­re tan­tum „die Märk­te“ lebt mit dem ande­ren sin­gu­la­re tan­tum „die Medi­en“ nicht nur in einer sym­bio­ti­schen Bezie­hung. Viel­mehr sind media­le und märkt­li­che Spe­ku­la­ti­on letz­ten Endes das­sel­be. „Die Märk­te“ reagie­ren auf Mel­dun­gen der Medi­en. Es gibt kei­nen Trad­ersaal ohne Ticker und Lauf­bän­der, die aus Medi­en­in­hal­ten gespeist wer­den. Ähn­lich den ein­ge­blen­de­ten Akti­en­kur­sen fun­gie­ren die durch­lau­fen­den Mel­dun­gen aus den unter­schied­li­chen Quel­len und Ecken der Welt als Hand­lungs­grund­la­ge für Trader. „Die Märk­te“ hän­gen ab von „den Medi­en“. Zugleich lie­fern sie wie­der­um Mel­dun­gen für „die Medi­en“. Gera­de in schein­bar kri­sen­haf­ten  Situa­tio­nen wie in den letz­ten Wochen kon­zen­trie­ren sich „die Medi­en“ auf die Han­dels­ver­läu­fe an der Bör­se. „Der DAX“ wird mit sei­nen Bewe­gun­gen zum Haupt­ge­gen­stand der Live-Ticke­rei. Dabei ist der DAX sel­ber nichts als ein kom­mu­ni­ka­ti­ons­er­mög­li­chen­des Kon­strukt. Wie ande­re Indi­ces auch, bil­det er eine mehr oder min­der zufäl­li­ge Aus­wahl von Unter­neh­mens-Akti­en­wer­ten ab und gene­riert damit einen zeit­lich dar­stell­ba­ren Ver­lauf. Er hat kei­ne Aus­sa­ge – es sei denn, er wird in eine Erzäh­lung inte­griert. Die Erzäh­lung der gesamt­wirt­schaft­li­chen Situa­ti­on und Ent­wick­lung etwa. Die­se Erzäh­lung erzäh­len „die Medi­en“. Und sie erzäh­len sie im poli­ti­schen Umfeld und lei­ten dar­aus Hand­lungs­auf­for­de­run­gen an „die Poli­tik“ ab. Etwa die­je­ni­ge, die Staats­ver­schul­dung zu korrigieren.

Die “Ent­kopp­lung von der Realwirtschaft”

Gele­gent­lich lässt sich in Kom­men­ta­ren die Dia­gno­se oder die Kri­tik lesen und hören, dass „die Märk­te“ sich von der Real­wirt­schaft abge­kop­pelt hät­ten. Dar­in schwingt die Erwar­tung mit, dass der Akti­en­wert eines Unter­neh­mens gefäl­ligst sei­ne wirt­schaft­li­che Situa­ti­on wie­der zu spie­geln habe. Als wäre der Akti­en­wert eine Art Wirt­schafts­ther­mo­me­ter, das in einer quan­ti­fi­zier­ten Anga­be unum­stöß­lich zeigt, wel­chen Wert ein Unter­neh­men hat. So naiv das schon immer gewe­sen sein mag – die­se Kop­pe­lung ist nur eine der mög­li­chen Kop­pe­lun­gen. Not­wen­dig war und ist sie nicht. Denn der Wert einer Aktie wird nicht von einer Rating­kom­mi­si­on bestimmt, son­dern von Han­deln­den Akteu­ren, die den Preis der Aktie unter sich aus­ma­chen. Die gele­gent­li­che auf­ge­reg­te Ver­blüf­fung, dass Kur­se „fun­da­men­tal gesun­der“ oder „grund­so­li­der Unter­neh­men“, die viel­leicht sogar kon­stan­ten Gewinn abwer­fen, sinkt, wäh­rend Phan­ta­sie­un­ter­neh­men wie die­je­ni­gen der High­tech-Bubble vor der Jahr­tau­send­wen­de, ins Uner­mess­li­che stei­gen, zeigt die noch vor­han­de­ne Nai­vi­tät bei eini­gen Beob­ach­tern. Sie sind den alten Erzähl­for­men noch ver­haf­tet. Sie glau­ben noch an das Drama.

Die Macht der Erzählung

In der Hoch­zei­ten der Doku­ment­ge­sell­schaft war es Auf­ga­be der Mas­sen­me­di­en, nicht nur die als Nach­rich­ten zu prä­sen­tie­ren­den Gescheh­nis­se aus­zu­wäh­len, son­dern ins­be­son­de­re auch, eine Geschich­te dar­aus zu gene­rie­ren, die sich von „Aus­ga­be zu Aus­ga­be“ (der Zei­tung, der Radio- oder Fern­seh­nach­rich­ten­sen­dung) wei­ter erzäh­len ließ. Die­se Geschich­te setz­te aus Gescheh­nis­sen an und lei­te­te dar­aus Vor­bli­cke auf mög­li­cher­wei­se Gesche­hen­des bzw. For­de­run­gen an die Akteu­re ab, wie denn zu han­deln sei. Im Cha­os des All­tags sorgt das Medi­um für Ori­en­tie­rung. Aus den Hand­lungs­for­de­run­gen wird Druck auf ver­ant­wort­li­che poli­ti­sche Akteu­re gene­riert, indem man sich der will­fäh­ri­gen Oppo­si­ti­on bedient. Irgend­ei­ner von denen wird schon etwas for­dern, das in die media­le Sto­ry passt.

Die­se Erzähl­kunst war auch im Bereich der Bör­se gefragt. Die Kurs­be­we­gun­gen soll­ten von Zei­chen­deu­tern – den Augu­ren der römi­schen Anti­ke durch­aus ver­gleich­bar – auf­ge­nom­men und in eine Erzäh­lung ein­ge­fügt wer­den. Es sind die Erzäh­lun­gen, die jeden Abend in den Bör­sen­be­richt­erstat­tun­gen der Fern­seh­ka­nä­le statt­fin­den, eben­so die Erzäh­lun­gen in den Wirt­schafts­tei­len von Zei­tun­gen. Erzäh­lun­gen aus die­sen Bewe­gun­gen machen zu kön­nen, ist eines der wesent­li­chen Seins­kri­te­ri­en von Mas­sen­me­di­en. Sie sind dem Wet­ter­be­richt durch­aus ver­gleich­bar. War­um geben Fern­seh­sen­der viel Geld aus, um etwas so bana­les prä­sen­tie­ren zu kön­nen, wie das Wet­ter der nächs­ten Tage? Für wen ist das rele­vant? Für Bau­ern und Win­zer viel­leicht. Für Gril­ler und Boots­aus­flüg­ler. Das aber erklärt noch nicht den Sta­tus der Unver­zicht­bar­keit, den der Wet­ter­be­richt für alle audio­vi­su­el­len Medi­en hat.

Die Ant­wort ist so ein­fach wie ver­blüf­fend: Aus der pro­phe­ti­schen Fähig­keit lei­tet sich die media­le Macht ab. Irgend­et­was über Gescheh­nis­se erzäh­len könn­te jeder. Aber vor­her­sa­gen, was gesche­hen wird – das kön­nen nur Pro­phe­ten und ähn­lich außer­ge­wöhn­li­che „Medi­en“ (der Anklang des spi­ri­tis­ti­schen Medi­en­be­griffs ist durch­aus nicht zufäl­lig).  Hier fin­det sich die alte Legen­de der von Tha­les vor­her­ge­sag­ten Son­nen­fins­ter­nis wie­der, di als Geburts­stun­de der Cre­di­bi­li­tät der mathe­ma­ti­schen Natur­wis­sen­schaft gel­ten kann. Eine Theo­rie oder eine indi­vi­du­el­le Fähig­keit, die in der Lage ist, etwas vor­her­zu­sa­gen, weil sie es aus ihren eige­nen Annah­men abge­lei­tet hat, hat damit die Vali­di­tät der Theo­rie oder der behaup­te­ten Fähig­keit bewie­sen. Thor, Zeus und Jupi­ter waren (Un-)Wettergötter – ihr Agie­ren vor­her­zu­sa­gen über­trägt die frei schal­ten­de und wal­ten­de Macht der Göt­ter auf die pro­phe­ti­schen Erzähler.

Dass Print­me­di­en dem Wet­ter einen erheb­lich gerin­ge­ren Stel­len­wert ein­ge­räumt haben, liegt in der Zeit begrün­det, die für ihre Pro­duk­ti­on not­wen­dig ist: Es lässt sich mor­gens am Früh­stücks­tisch all­zu ein­fach über­prü­fen, ob die Vor­her­sa­ge von ges­tern (die heu­te eben kei­ne Vor­her­sa­ge mehr ist), ein­ge­trof­fen ist oder nicht. Wo audio­vi­su­el­le Live-Medi­en den Vor­teil haben, in die Zukunft bli­cken zu kön­nen und dar­auf zu spe­ku­lie­ren, dass zum Zeit­punkt des Ein­tritts des vor­her­ge­sag­ten Ereig­nis­ses (bzw. beson­ders zum zeit­punkt des Nicht­ein­tritts) der genaue Inhalt der Vor­her­sa­ge schon wie­der ver­ges­sen ist, müs­sen Print­me­di­en ein­ge­ste­hen, dass die Vor­her­sa­ge zum Her­stel­lungs­be­ginn im Zeit­punkt der Aus­lie­fe­rung eine Gegen­warts­be­schrei­bung ist, die sich durch den Blick aus dem Fens­ter sehr ein­fach vali­die­ren oder fal­si­fi­zie­ren lässt.

Die Kri­se der Erzählung

Anders als beim Wet­ter hat die Bör­sen­er­zäh­lung immer auch die Auf­ga­be der „selfull­fil­ling pro­phe­cy“ über­nom­men. Situa­ti­ons­be­schrei­bun­gen und Ana­ly­sen hat­ten die Auf­ga­be, das wei­te­re Han­deln zu prä­fi­gu­rie­ren. Aus der in eine Erzäh­lung über­führ­ten Beschrei­bung der Ereig­nis­se soll­te ein Kaufen/Verkaufen Emp­feh­lungs­ras­ter ent­ste­hen. Akteu­re an der Bör­se soll­ten die Erzäh­lung über­neh­men und danach han­deln. Und so lan­ge sie es taten, so lan­ge tra­fen die Pro­phe­zei­un­gen auch ein. Aller­dings führ­te das immer nur zu mäßi­gen Gewinn­aus­sich­ten. „Pro­fis“ such­ten des­we­gen immer schon nach Infor­ma­ti­ons­quel­len jen­seits des Main­streams – und Bör­sen­auf­sich­ten ver­bo­ten „Insider“-Geschäfte. Nur die allen Markt­teil­neh­mern öffent­lich zugäng­li­chen (und damit mas­sen­me­di­al ver­füg­ba­ren) Infor­ma­tio­nen waren für das Bör­sen­han­deln zuläs­sig. Der Infor­ma­ti­ons­vor­sprung war also begrenzt. Ers­te Reak­ti­on: Gegen den Trend han­deln. Zwei­te Reak­ti­on: Trends ante­zi­pie­ren bevor sie als Trends aus­ge­ru­fen wer­den. Drit­te Reak­ti­on: Bereits im Ent­ste­hen eines Trends auf­sprin­gen – schnel­ler sein. Das alles weist dar­auf hin, dass nicht die fun­da­men­ta­len Wer­te von Unter­neh­men das Bör­sen­ge­sche­hen mehr lei­ten, son­dern der geziel­te und schnel­le Umgang mit mas­sen­me­dia­ler Information.

Die Erzäh­lung selbst wird nicht mehr zur Prä­fi­gu­ra­ti­on von Han­dels­ge­sche­hen, son­dern zum Gegen­stand der Spe­ku­la­ti­on. Nicht „die Wirt­schaft“ bestimmt die Akti­en­wer­te und den Ver­lauf des DAX, son­dern „die Medi­en“. Und zugleich ver­su­chen „die Medi­en“ aus die­sem Gesche­hen wie­der­um Erzäh­lun­gen zu gene­rie­ren, die aller­dings ungleich kom­ple­xer sind. Dass der Bör­sen­wert von Unter­neh­men, die sehr posi­ti­ve Quar­tals­zah­len ver­öf­fent­li­chen, fällt, wird nun zum Teil der Erzäh­lung von „eige­preis­ten Erwar­tun­gen“. Medi­en­er­zäh­lun­gen gelingt es, das genaue Gegen­teil des aus ihren eige­nen Erzäh­lun­gen Erwart­ba­ren noch zum Teil einer neu­en Erzäh­lung zu machen. „Die Medi­en“ wer­den mit sich selbst kon­fron­tiert: Ver­kün­den sie, dass es einem Unter­neh­men präch­tig geht und dass des­we­gen die Kur­se ver­mut­lich stei­gen, erle­ben sie, dass die Kur­se fallen.

Die Teil­neh­mer an Bör­sen­spe­ku­la­tio­nen spe­ku­lie­ren zwar wei­ter­hin mit gewis­sen Erzäh­lun­gen, aller­dings über­la­gern sich Erzäh­lun­gen zu einem Gewe­be, das die schein­ba­re Ratio­na­li­tät der Fol­gen wie­der durch­ein­an­der bringt. Denn bedeu­ten­den Bör­sen­ge­winn kann nur rea­li­sie­ren, wer anders han­delt, als alle ande­ren. Das heißt: Die Kennt­nis um die ver­brei­tets­ten Erzäh­lun­gen wird sich erst dann in exzep­tio­nel­len Gewin­nen rea­li­sie­ren, wenn der ein­zel­ne Han­deln­de anders han­delt als die ande­ren. Der Run auf Insi­der­nach­rich­ten, auf Exklu­siv­in­sights, dar­um, der ers­te zu sein, der eine Ad Hoc Mel­dung hat und dar­aus Schlüs­se auf die Zukunft ablei­ten kann, ist der­je­ni­ge, der poten­zi­ell den größ­ten Gewinn macht. Hier mischen sich tra­di­tio­nel­le, hoch­ra­tio­na­le Erzäh­lun­gen mit bewuss­ten Durch­bre­chun­gen der ratio­na­len Erzäh­lung, fast schon magi­schen Erzäh­lun­gen gleich. Bör­sen­be­richt­erstat­tung wird dadurch kom­ple­xer, Bör­sen­er­zäh­lung viel­schich­ti­ger – Erwar­tun­gen wer­den ein­ge­preist und füh­ren bei ihrem Ein­tre­ten zu schein­bar para­do­xen Resul­ta­ten. Die Erzähl­kunst ist her­aus­ge­for­dert. Sie macht ihre Arbeit – bis zu ihrem Zusammenbruch.

Der DAX als Erzählgegenstand

Der DAX war lan­ge Zeit kein wirk­lich wich­ti­ger oder pro­mi­nen­ter Gegen­stand media­ler Bericht­erstat­tung für das Mas­sen­pu­bli­kum. Erst mit Ent­ste­hen der Inter­net­bla­se (!) Ende der 90er fräs­te er sich vor und in die Haupt­nach­rich­ten­sen­dun­gen. Und die mas­sen­me­dia­le Wet­te lau­te­te: Wir Mas­sen­me­di­en schaf­fen es in der Poli­tik ver­gleich­ba­rer Form eine Ord­nungs­er­zäh­lung über die Schwan­kun­gen des DAX zu legen. Was sich dem unge­üb­ten Betrach­ter als eini­ger­ma­ßen sinn- und plan­lo­se Kurs­schwan­kun­gen dar­stellt, her­ben wir in eine Metaer­zäh­lung auf – die aber zugleich mit der poli­ti­schen Erzäh­lung ver­wo­ben ist. Die Reak­ti­on des DAX auf poli­ti­sches Han­deln gehört zu den Kern­be­stän­den der Börsenberichterstattungserzählungen.

Mit dem Plat­zen der Bubble erleb­te nicht nur die ers­te Inter­net­eu­pho­rie einen Knacks – son­dern para­do­xer­wei­se auch die Mas­sen­me­di­en, die fest­stell­ten, dass ihre Metaer­zäh­lun­gen mas­siv ver­sag­ten. Die Pro­phe­ten sahen ihre Pro­he­zei­un­gen des­avoui­ret und konn­ten nur noch ver­blüfft die Kurs­be­we­gun­gen nach­plap­pern. Das führ­te dazu, dass die Mas­sen­me­di­en sich auf die Eil­mel­dungs-Sys­te­ma­tik ver­leg­ten, statt die gro­ße Erzäh­lung wei­ter zu erzäh­len, den Skan­dal, das Ereig­nis, die „brea­king news“ in den Vor­der­grund zu rücken. Aus inte­gra­ti­ven Nach­rich­ten­sen­dun­gen wer­den dis­rup­ti­ve. Der dumm abge­film­te Ein­schlag von Flug­zeu­gen in Hoch­häu­ser wird zu einer Art Stern­stun­de die­ses neu­en Jour­na­lis­mus. Auf­ga­be der Mas­sen­me­di­en ist es, die Web­cam als ers­ter vor Ort zu haben. Nicht aber, das Gescheh­nis in eine Erzäh­lung aufzuheben.

Mit die­sen Skan­da­li­sie­run­gen lässt sich übri­gens natür­lich auch mehr Auf­la­ge machen – zunächst. Denn die „Skandal“-Schlagzeile lockt mehr Leser an, als die erklä­rungs­be­dürf­ti­ge Erzäh­lung. Dass dabei die Mas­sen­me­di­en mit­tel­fris­tig nur ver­lie­ren kön­nen gegen das Inter­net – man weiß es und igno­riert es. Zugleich ver­su­chen – die Spon-Mel­dun­gen der letz­ten Tage bele­gen (hier die „Minu­ten­pro­to­kol­le“) das sehr plas­tisch – ver­su­chen die Mas­sen­me­di­en durch immer schnel­le­re Erzähl­bruch­stü­cke dem Gesche­hen nach­zu­ei­len. Bricht die Welt­wirt­schaft zusam­men? Erholt sich der DAX? Welt­un­ter­gang und Pro­fit­träu­me­rei­en wech­seln sich im Stun­den­takt ab. Und das heißt: Fun­da­men­tal untr­schie­li­che Erzäh­lun­gen wech­seln sich ab, ver­su­chen nur noch die eige­ne pro­phe­ti­sche Macht krampf­haft zu ret­ten. Und kön­nen es doch nicht mehr. Spon ging dazu über, per Live-Web­cam den DAX-Ver­lauf abzu­bil­den – den in den Twin-Towers ein­schla­gen­den Flug­zeu­gen ver­gleich­bar. Das kata­stro­phisch-skan­da­lis­ti­sche Live-Ereig­nis setzt sich an die Stel­le der Erzählung.

Der Zusam­men­bruch der Erzäh­lung in der Netzgesellschaft

Die Erzäh­lung gehör­te zur Doku­ment­ge­sell­schaft. Der Pro­phet ist der Autor, der die gül­ti­ge Situa­ti­ons­be­schrei­bung gab und dar­aus die zu erwar­ten­den Fol­gen oder die kon­se­quen­ten Hand­lungs­emp­feh­lun­gen abgab. Wis­sen um die rich­ti­ge, ver­brei­tets­te Erzäh­lung, spe­ku­la­ti­ver Umgang mit den Erzäh­lun­gen ver­sprach Gewinn. Indem Augen­blick aber, wo die Mas­se an ver­füg­ba­rer (und ten­den­zi­ell wider­sprüch­li­cher) Infor­ma­ti­on und zugleich die Mas­se kon­kur­rie­ren­der Erzäh­lun­gen zunimmt, lässt sich kei­ne Lei­ter­zäh­lung, kein Set von Lei­ter­zäh­lun­gen mehr aus­ma­chen. Die öko­no­misch-bör­sia­ni­sche Mark­ro­öf­fent­lich­keit zer­fällt in zahh­lo­se Mikro­öf­fent­lich­kei­ten, die sich ein begrenz­tes Set an Infor­ma­tio­nen beschaf­fen und ihren eige­nen Erzäh­lun­gen fol­gen. Sek­tie­re­ri­schen Split­ter­grup­pen gleich, die in der Kon­se­quenz nicht mehr zu erwart­ba­ren Fol­gen und „ratio­na­len“ oder spe­ku­la­ti­ven Hand­lun­gen befä­hi­gen. Schwär­me set­zen sich an die Stel­le von Erzäh­lungs­ge­mein­schaf­ten.  Mikro-Schwär­me, die jeder in eige­ne Rich­tung unter­wegs sind, sich aber zeit­wei­se zu gro­ßen Schwär­men ergän­zen, ohne dass sie dabei einer gemein­sa­men Erzäh­lung fol­gen wür­den. Im Gegen­teil: Sie han­deln unter bewuss­ter Ver­nach­läs­si­gung von Erzäh­lun­gen und haben damit die größ­ten Erfolge.

Inzwi­schen haben Com­pu­ter­sys­te­me und High Fre­quen­cy Tra­ding den Han­del über­nom­men, füh­ren zahl­lo­se Trades inner­halb einer Sekun­de aus (und ich habe davon zuge­ge­n­er­ma­ßen enorm wenig Ahnung – any comm­ents wel­co­me). Die­se Sys­tem igno­rie­ren die Erzäh­lun­gen, sind ledig­lich auf bestimm­te Algo­rith­men pro­gram­miert, die bestimm­te Kurs­be­we­gun­gen als rele­vant erken­nen, selbst­tä­tig ins Gesche­hen ein­grei­fen und Mikro­ge­win­ne ver­bu­chen, die sich ins­ge­samt wie­der­um zu grö­ße­ren Gewin­nen (oder Ver­lus­ten) auf­sum­mie­ren. Der Com­pu­ter simu­liert selbst Schwarm­teil­nah­me. Der Com­pu­ter muss weder Unter­neh­men noch ihre wirt­schaft­li­che Situa­ti­on ken­nen (auch wenn man die­se Infor­ma­tio­nen natür­lich bereit­stel­len kann – wenn man noch an sol­che Erzäh­lun­gen glau­ben will), er reagiert als simp­les „wenn-dann“ Gerät, in sei­ner Sim­pli­zi­tät unge­fähr auf dem Niveau eines Ein­zellers. Die Rech­ner fol­gen dar­in der Logik des „Mob“. Dar­in sind sie Twit­ter ähn­li­cher als den tra­di­tio­nel­len Mas­sen­me­di­en. Ein­zel­ne Tweets gehen in einem kon­stan­ten Informations(über)fluss unter – bis sich Ret­weet-Mobs spon­tan und chao­tisch bil­den. Sie ähneln den Lon­don-Rios, in denen ran­da­lie­ren­de Mobs sich spon­tan bil­den, die kei­nem erzäh­le­ri­schem „Inhalt“ oder Anlie­gen fol­gen – außer dem schnel­len öko­no­mi­schen Vor­teil durch kos­ten­lo­sen Erwerb von Plas­ma­bild­schir­men viel­leicht. Und sie ähneln der post-mas­sen­me­dia­len Live-Ticker-Logik, die die Infor­ma­ti­ons­men­gen mög­lichst unge­fil­tert in ihrer Mas­se hin­aus­blökt, in der Hoff­nung, die eine oder ande­re Mel­dung möge schon ihren Mob bilden.

Der gedächt­nis­lo­se Com­pu­ter ist die Reak­ti­on auf das Ende der Erzäh­lun­gen – zugleich simu­liert er den Bör­sen­lai­en, der infor­ma­ti­ons­los vor dem Rech­ner hockt und aus nicht ratio­nal nach­voll­zieh­ba­ren Ent­schei­dun­gen her­aus ein Kauf oder Ver­kauf tätigt. Und er ist die logi­sche Fol­ge einer Bewe­gung, in der die Mas­se unter­schied­li­cher Erzäh­lun­gen dazu geführt hat, dass sich das Ver­hal­ten im Gesamt­über­blick nur noch als chao­tisch dar­stel­len lässt. Ob viel Infor­ma­ti­on vor­liegt oder gar kei­ne, ob die­ser oder jener Erzäh­lung gefolgt wird oder gar kei­ner –lässt sich in der Gesamt­ent­wick­lung nicht mehr able­sen. Die Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on, die einst durch Erzäh­lun­gen und ihre „sinn“volle Ein­ord­nung de Gesche­hens in einer Erzäh­lung geleis­tet wer­den soll­te, fällt in neue Kom­ple­xi­tät durch das Vor­lie­gen von zu viel Infor­ma­ti­on und zu vie­len unver­ein­ba­ren Erzählungen.

Zugleich zeigt etwa der Flash Crash vom 6.5.2010, dass das Vor­lie­gen einer all­ge­mein­ver­bind­li­chen „Erzäh­lung“, das heißt: nur eines ein­zi­gen Han­del­s­al­go­rith­mus, der dazu führt, dass bei iden­ti­schen Aus­gangs­be­din­gun­gen alle Sys­te­me gleich reagie­ren, zu einem gewal­ti­gen Crash füh­ren kön­nen. Ist nicht sicher­ge­stellt, dass die Schwär­me der auto­ma­ti­sier­ten Han­dels­sys­te­me sich hin­rei­chend untr­schei­den, nei­gen die Lem­min­ge dazu, sich gemein­sam die Klip­pe hin­un­ter zu stür­zen. Die Algo Trade Sys­te­me repro­du­zie­ren damit die Grund­be­din­gung des Han­delns in der Netzgesellschaft.

In Sum­ma

Lüb­ber­dings Dia­gno­se, Medi­en und Märkt sei­en sym­bio­tisch mit­ein­an­der ver­bun­den, erweist sich bei genaue­rem Hin­schau­en zwar als nicht weit­rei­chend genug – aber als Wink in die rich­ti­ge Rich­tung. Und ver­folgt man die­sen Wink, lässt sich auch am aktu­el­len Ver­hal­ten von Medi­en und Märk­ten die gewal­ti­ge Ver­än­de­rung fest­stel­len, die der Über­gang von der erzäh­lungs­ba­sier­ten Doku­ment­ge­sell­schaft hin zur schwarm- oder mob­ba­sier­ten Netz­werk­ge­sell­schaft aus­zeich­net. Für Medi­en. Für Märk­te. Für Poli­tik. Auch hier zeich­nen sich „Wäh­ler­wan­de­run­gen“ ab, die den chao­ti­schen Ver­hält­nis­sen bei der DAX-Ent­wick­lung enorm ähn­lich sind. Und eben nicht mehr dra­ma­tisch son­dern post-dramatisch.

Das war jetzt übri­gens eine Erzäh­lung. Des­we­gen mag es am Ende so klin­gen, dass das Ende der Erzäh­lun­gen einen Ver­fall, einen Schwund, eine Ler­stel­le, viel­leicht gar einen Welt­un­ter­gang andeu­tet. Das tut sie natür­lich nicht – es kann ledig­lich als Erzäh­lung nicht mehr „ver­stan­den“ wer­den, was sich eben dem Erzäh­len entzieht.

 

§ 2 Responses to Von der dokumentarischen Erzählung zur Spekulation: Börsencrashs, Medienhypes, Ende des Dramas"

  • ernstl Sieben sagt:

    Erst mal Lob und Aner­ken­nung für Stil & Inhalt der nara­ti­ven Erzähl­kunst des Arti­kels — Wie syn­chron die Din­ge manch­mal lau­fen zeigt die­se Sen­dung, wel­chen ich kurz vor dem Genuss die­ses Tex­tes zufäl­lig gese­hen hat­te und sich, wie ich fin­de, in beein­dru­cken­der Wei­se in eini­gen Aspek­ten, mit Ihren Inhal­ten decken, aber sehen Sie viel­leicht selbst: Das phi­lo­so­phi­sche Qua­tett: Irra­tio­na­le Finanz­welt — “Das Gespenst des Kapi­tals” > http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1365504/Irrationale-Finanzwelt#/beitrag/video/1365504/Irrationale-Finanzwelt < Grüezi

  • BenZol sagt:

    “Das selt­sa­me sin­gu­la­re tan­tum „die Märk­te“ lebt mit dem ande­ren sin­gu­la­re tan­tum „die Medi­en“ nicht nur in einer sym­bio­ti­schen Bezie­hung.” Soll­te es nicht “plu­ra­le tan­tum” hei­ßen? Bes­ser noch mal nachschauen.

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