Macht man sich den Spaß, den von Kusanowsky (hier) aufgenommenen Ball hinsichtlich der Reflexion der Ereignisse um das vieldiskutierte (Nicht-)Tor im Spiel Ukraine-England wiederum anzunehmen und steil auf die abschließenden Torheiten zuzuspielen, käme man wohl mit dem folgenden Gedanken in Strafraumnnähe:
Fast schon letztendlich lässt sich der Diskurs um das Geschehen reduzieren auf eine dahinter liegende Grundannahme, nämlich diejenige, ein (Schieds)Richter habe die Wahrheit herauszufinden, um ein gerechtes Spielergebnis zu ermöglichen. Die Alternativformulierung, der dieser Grundannahme wiederspricht und die an die Wurzeln der Moderne rührt, wäre: Der (Schieds)Richter hat nach bestem Wissen und Gewissen spielregelkonforme Entscheidungen zu fällen. Letzteres müsste den Verzicht auf Wahrheitsanspruch einschließen. Heißt: Das Urteil ist nicht die Wiedergabe einer Wahrheit, sondern eine abschließende Entscheidung unter den Bedingungen „nach menschlichem Ermessen“. Ersteres dagegen beansprucht ein Endurteil, das das menschliche Ermessen lediglich als Fehlerquelle und damit Quelle der Unsicherheit betrachtet. Darin schließt die scheinbar nur um Fußball kreisende Debatte durchaus nahtlos an die rechtliche Debatte um das Gerichtsurteil an. Hat der Richter die Aufgabe, im Prozess die Wahrheit zu finden? Oder hat er ein Urteil „beyond reasonable doubt“ zu fällen? Ist das Urteil der Abschluss eines Prozesses? Oder ist das Ende des Prozesses die Offenbarung bzw. Offenbarwerdung und Unverborgenheit der Wahrheit? Folgt das Urteil den Regeln der Strafprozessordnung? Oder unterliegt das Urteil dem Wahrheitsanspruch? Im ersteren Falle schlösse das Urteil die Möglichkeit des Fehlers im Prozess ein (worauf Kusanowsky im Namen der sportlichen Fairness abhebt). Das Ergebnis könnte niemals Wahrheit, sondern nur höchste Wahrscheinlichkeit oder Menschenmögliches sein. Letzteres wäre ein Urteil, dessen menschlicher Anteil so weit zu reduzieren wäre, dass eigentlich nur das Gottesurteil ein sinnvolles Verfahren wäre.
Wahrheit und Wirklichkeit
Obwohl weder Fußball, noch bürgerliche Gerichte es (vordergründig!) mit metaphysischen Wahrheiten zu tun haben, findet doch gelegentlich ein diskursive Verwechslung von Wahrheit und Wirklichkeit statt. Die Wahrheit herauszufinden heißt, wie es „wirklich“ gewesen ist. Und die Wahrheit zu sagen fordert die adaequatio verbi et rei, also eine Form sprachlicher Aussagenwahrheit, in der das, was gesagt wird, wiedergeben soll, was wirklich oder wahrhaftig gewesen ist. Die Unsicherheit, Widersprüchlichkeit und Störanfälligkeit menschlicher Zeugenaussagen (oder Linienrichter) ist dabei hinreichend oft beschrieben wurden, um sie als „Faktum“ hinzunehmen. Das Problem, das es um zumeist ephemere Ereignisse geht, die nirgends außerhalb der Erinnerung mehr wahrnehmbar sind, sorgt dafür, dass selbst die gutwilligste Erfüllung der Anforderung jederzeit mit dem Verdacht behaftet sein muss, eben doch nicht adaequat zu sein. Zudem muss ja noch unterstellt werden, dass selbst die Frage nach der „res“, die wiedergegeben werden soll, zweifelhaft bleibt, da es eine wahrgenommene res ist, die im Wahrnehmungsakt bereits einen „Fehler“ hatte. Wobei die Frage nach einem Fehler nur dann aufkommen kann, wenn Aussagen konfligieren oder sich bestimmte Umstände finden lassen, die es als wahrscheinlich scheinen lassen, dass derjenige, der seine Aussage macht, in besonderer Weise störanfällig ist. Das heißt: Der Zeuge kann entweder die res bereits „falsch“ wahrgenommen haben, oder er kann eine nicht-adäquate Aussage über seine Wahrnehmung machen, und das wiederum entweder irrtümlich oder wider „besseres Wissen“ im Wege einer Falschaussage.
Was zusätzlich noch erschwert wird durch das grundlegende diskursive Problem des Missverständnisses, das sich nur zu geringen Teilen durch weitere Kommunikation aufheben lässt, dann nämlich, wenn der „Verstehende“ selbst bemerkt oder den Verdacht hat, etwas falsch verstanden zu haben. Wobei die anschließende Klärung wiederum selbst nicht wirklich geeignet ist, das Missverständnis auszuschließen, sondern regelmäßig nur damit endet, dass der „Verstehende“ entweder den Eindruck des „richtig verstanden habens“ gewinnt (was ein Missverständnis nicht ausschließt), oder aber die Unauflöslichkeit des Missverständnisses einsieht und von weiterer Befragung Abstand nimmt. Letztlich eine Reformulierung des Gorgianischen Paradoxes der Zeichenkommunikation im Fragment „Über das Nichtseiende“.
Der Zeuge kann die „Wahrheit“ über seine Wahrnehmung (oder das, was er meint wahrgenommen zu haben) sagen, ohne doch die „wahre“ res damit wiederzugeben. Oder er kann über eine „wahr“ genommene Wirklichkeit die Unwahrheit sagen. Oder er kann sogar über eine falsche „Wahr“nehmung (Falschnehmung?) eine „Unwahrheit“ sagen. Die gerichtliche Eidesformel fordert dadurch eine Wahrheit ein, die sie natürlich selbst dann nicht garantieren kann, wenn der Zeuge sie befolgen will:
(1) Der Eid mit religiöser Beteuerung wird in der Weise geleistet, dass der Richter an den Zeugen die Worte richtet:
“Sie schwören bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden, dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben”
und der Zeuge hierauf die Worte spricht:
“Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe”.
(2) Der Eid ohne religiöse Beteuerung wird in der Weise geleistet, dass der Richter an den Zeugen die Worte richtet:
“Sie schwören, dass Sie nach bestem Wissen die reine Wahrheit gesagt und nichts verschwiegen haben”
und der Zeuge hierauf die Worte spricht:
“Ich schwöre es”. (Quelle)
Wollt man sich anmaßen, die deutsche Strafprozessordnung zu korrigieren, müsste man die Umformulierung dahingehend fordern:
Ich schwöre, dass ich versucht habe, durch sprachliche Formulierung wiederzugeben, was ich wahrgenommen zu haben glaube und woran ich mich jetzt noch meine erinnern zu können. Ob Sie es verstehen oder nicht. Auch wenn mir Gott dabei vermutlich nicht helfen kann.
Wahrheit, Wirklichkeit und Entscheidung
Dem Richter obliegt zu entscheiden, ob und in wieweit er diese Aussage in seine Entscheidung aufnehmen wird. Und daraus ein Urteil zu fällen. Dabei wird der moderne Richter sich tunlichst nicht auf Zeugenaussagen verlassen, sondern sich wo immer möglich der Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft bedienen, die aus Spuren das Vergangene archäologisch zu rekonstruieren bzw. eine bestimmte plausible Erzählung so mit Indizien oder Beweisen anzureichern suchen, dass sie in ihrer Glaubwürdigkeit anderen Erzählungen überlegen ist. Emblematisch können dafür Ballistik oder der DNA-Beweis stehen, die im Zweifelsfall die Macht haben, Zeugenaussagen zu stärken, zu schwächen oder unglaubwürdig zu machen. Da Technik keinen Irrtum und keinen Willen zur Unwahrheit kennt, sind die Ergebnisse des Tests menschlichen Zeugenaussagen überlegen. Sie finden also Wahrheiten in dem Sinne heraus, dass Aussagen über eine vergangene Wirklichkeit getroffen werden können, die bestimmte Zweifel ausschließen – allerdings wiederum bestimmten Anfälligkeiten für Phantome unterliegen, die zu neuen Verwicklungen führen können.
Am Ende jedes Prozesses wird deswegen in jedem Falle dennoch nicht die gottgestützte Wahrheitsaussage, sondern nur eine Entscheidung stehen. Und auch diese erfolgt nur, weil sie erfolgen muss. Der Prozess muss – wie das Fußballspiel – enden. Irgendwie und irgendwann. Das ist die Funktion des Urteils. Nicht die Wahrheitsfindung. Es kann in einer modernen Gesellschaft nicht um die Frage der Wahrheit bei der Beurteilung (lang oder kurz) vergangener Ereignisse gehen. Es sei denn sie bezieht sich auf eine Gottesgarantie. Es geht lediglich darum, einen Abschluss der Frageprozesses zu finden. Der Richter ist kein sokratischer Geburtshelfer der Wahrheit. Er ist derjenige, der das Verfahren mit dem Urteil beendet und damit den Bruch der Zeitenfolge in der Vergangenheit flickt. Um es mit Hamlet zu sagen:
The time is out of joint—O cursèd spite,
That ever I was born to set it right!
Gäbe es eine Wahrheit, müsste keine Entscheidung gefällt werden. Die Wahrheit kann man entweder finden oder verfehlen. Platonisch gesagt: Entweder man hat Zugang zu den eidê oder eben nicht. Entscheiden lässt sich nur da, wo sich eigentlich nicht entscheiden lässt. Das ist das Grundparadox der Entscheidung, dass ihr jederzeit der Makel des Zufälligen und Willkürlichen, des Willensfreien anhängt.
Die Gerechtigkeit und die Wahrheit
In einer Kommentarreplik kommt Kusanowsky nun über den Schlenker der Fairness zur Gerechtigkeit, ein Begriff, den es in diesem Zusammenhang durchaus zu befragen gilt. Hat doch auch die Gerechtigkeit eine Doppeldeutigkeit. Einmal nimmt Gerechtigkeit in Urteilszusammenhängen Bezug auf die Wahrheit. Dies drückt sich in der Forderung aus, ein Gerichtsverfahren möge den „wahren“ Täter überführen und verurteilen und sei damit gerecht, dass der wahre Täter eben der gerechten Strafe zugeführt werde. Das ist natürlich nicht der Gerechtigkeitsbegriff der modernen weltlichen Justiz. Dort gilt vielmehr als gerecht ein Urteil , das nach allen Regeln der Prozessordnung einwandfrei gefällt wurde. Eine Prozessgerechtigkeit im Gegensatz zur metaphysischen Gerechtigkeit.
Interessant ist das für den gegebenen sportlichen Zusammenhang, weil Diskurse über den Fußball gerne auf beide Begriffe von Gerechtigkeit rekurrieren. Der prozessuale Gerechtigkeitsbegriff findet sich im aktuellen Zusammenhang als die Frage, ob das Tor regelgerecht erzielt und nach den Regeln des Fußballs als Tor zu gelten habe. Der metaphysische Gerechtigkeitsbegriff findet sich dagegen in Formulierungen wie „gerechtes Unentschieden“, „verdienter (=gerechter) Sieg“ oder „glücklicher (=nicht gerechter) Sieg. Dabei sind die Kriterien, die an die Gerechtigkeit im Urteil angelegt werden, ziemlich schwankend. Ist ein Sieg der überwiegend im Ballbesitz befindlichen Mannschaft gerecht? Derjenigen mit mehr Torchancen? Des tapfer kämpfenden Underdogs? Dem Spiel wird in seinem Ausgang eine Aussagefunktion unterstellt, die in ihrer Beziehung auf die Wahrheit („die bessere Mannschaft“) überprüft und damit als gerecht oder ungerecht qualifiziert wird. Das lässt sich gerne in Interviews nach dem Spiel hören, in denen Spieler oder Trainer sich darüber beklagen, dass ein Sieg bzw. die eigene Niederlage nicht gerecht sei. Oder in der Einsicht, dass die Niederlage „verdient“ und damit gerecht sei, weil die andere Mannschaft besser war. Dabei muss die Regelkonformität des Ergebnisses nicht einmal angezweifelt werden. Es kann also prozessual alles mit rechten Dingen und gerecht zugegangen sein und doch die Gerechtigkeit des Ergebnisses angezweifelt werden. Anders herum gilt ein Sieg, der durch scheinbar oder offensichtlich nicht regelkonforme Ereignisse zustande gekommen ist, als „glücklich“ oder „unglücklich“. Der zu Unrecht gegebene oder verweigerte Elfmeter. Die fälschlich gepfiffene oder nicht gepfiffene Abseitsstellung usw. Und es können auch nicht regelkonforme Ereignisse vorgekommen sein, die an der Gerechtigkeit des Ergebnisses wiederum nichts ändern. Das Tor ist zwar aus dem Abseits gefallen, die profitierende Mannschaft war aber klar überlegen und brauchte daher die Hilfe des Glücks, um zum gerechten Sieg zu kommen. Die Wahrheit bedient sich der Täuschung, um ein gerechtes Urteil herbei zu führen. So dieser Diskurs.
Wahrheit und Entscheidung auf dem Fußballplatz
Die Technologie soll nunmehr ein Grundproblem ausschalten: Es soll die Richter zur Wahrheit führen oder die Wahrheit sich den Richtern unverstellt offenbaren lassen, jenseits der menschlich-anfälligen Wahrnehmung und Entscheidung. Durch Technologie soll die „Wahrnehmung“ oder „Fürwahrnehmung“ der Wirklichkeit ausgeschaltet und umgangen werden, ein Zugang zur „wahren Wirklichkeit“ eröffnet werden. Die prozessuale Form der Gerechtigkeit, die auf einer Entscheidung basiert, soll ersetzt werden durch die metaphysische Form der Wahrheit, die unter Umgehung des menschlichen Makels direkt erkannt werden soll. Nicht die Tatsache des Tores, die durch die Tatsachenentscheidung erzeugt wird, soll mehr gelten, sondern die Frage nach der Wahrheit des Tores, seiner Wirklichkeit. Der Technik wird unterstellt, die Wahrheit sagen oder anzeigen zu können.
Die Chiplösung der Torkontrolle ersetzt dabei gänzlich den Raum menschlicher Wahrnehmung und verlagert die Wahrheitsfindung einen der menschlichen Physis nicht zugänglichen Bereich, der aus Magnet- und Radiowellen besteht. Keine Meta- aber eine Paraphysis, die menschliche Erkenntnis (noêsis) wird ersetzt durch para-noêsis oder Paranoia.
Die Videoaufzeichnung hingegen macht sich anheischig, die Zeit beliebig zurückdrehen zu können, gleichzeitig vervielfältigbar mehr Wahrnehmenden verfügbar zu sein und zudem noch die Zeit dehnen oder Gesichtsfelder manipulieren zu können durch Zeitlupe und Ausschnittsvergrößerung oder gar Standbild. Damit wird sie zu einer nicht-anthropischen Form der Wiedererinnerung, einer Anamnêsis, die schon in den Urformen metaphysischer Ideenlehre herbeigeträumt wurde – die aber wohlweislich auf bildgebende Verfahren verzichtete. Dafür misstraute Platon den Malern doch gar zu sehr, auch wenn er interessanterweise im Dialog Gorgias (!) die Ideenlehre am Beispiel des Malers versinnbildlichte (Gorg. 379).
Lassen wir die Phantom-Möglichkeiten einmal außer acht (falscher Kamerawinkel, Störsender, Fehlfunktion, Wettereinflüsse usw.), dann ist der Anspruch dieser Fraktion, einen unmittelbaren Zugang zur Wahrheit zu haben. Das schließt die Bereitschaft ein, eine technische Fehlfunktion entweder aktiv zu ignorieren oder bewusst in Kauf zu nehmen und sie menschlicher Fehlentscheidung gegenüber zu bevorzugen. Die technisch erzeugte (in ein elektronisches Signal verwandelte oder als Filmbild aufgezeichnete) „neue“ Wirklichkeit wird derjenigen Wirklichkeit überlagert oder ersetzt sie, die sie wiederzugeben behauptet. Der Richter sitzt also vor dem Bildschirm statt an der Torlinie. Und er urteilt darüber, ob das elektronische Gerät ein Signal gegeben hat oder ob auf Videobildern etwas zu sehen ist, das als „Tor“ zu beurteilen ist. Der Technik wird Wahrheitsfähigkeit zugestanden, jenseits der menschlichen Urteilsfähigkeit. Sie vertritt die Stelle des Gottesbeweises.
Wahrheit, Gerechtigkeit und Fußball
Damit wäre das Fußballspiel an seinem Ende angelangt. Denn der Weg wäre beschritten, das Fußballspiel zu einer Wahrheitsprobe darauf zu machen, wer das bessere Team ist. Bei Kusanowsky findet sich in der besagten Kommentarreplik folgende Formulierung:
Vermutlich wird in sportlichen Angelegenheiten die Sache so brisant nicht, weil Sport Gerechtigkeit, also Fairness, kommuniziert. Fairness bedeutet ja, dass der Irrtumsvorbehalt immer schon berücksichtigt ist, dass also der Unterschied von wahr und falsch nur darum treffsicher anschlussfähig ist, weil die Beteiligten von einander wissen, dass keine Notwendigkeit dafür gegeben ist das Spiel fortzusetzen. Es handelt sich um ein Spiel, das gerade, weil es nicht geschehen muss, die Begeisterung umso mehr steigert, je größer die Freiheit aller Beteiligten ist, das Spiel nicht fortzusetzen. Darum Fairness. Fairness stellt gleichsam sicher, dass das Spiel trotz aller Freiheiten des Unterlassens dennoch weiter geht. Der Grund dafür ergibt sich, wenn die Fairness sabotiert wird, z.B. durch Doping, Korruption oder durch andere Maßnahmen. Dann heißt es: so geht es nicht. Fairness ist nichts anderes als Gerechtigkeit, durch die die Irrtumsfähigkeit der anderen im Voraus in Rechnung gestellt wird. Die Regeln der Fairness funktionieren gleichsam als eine antezipierende Verrechnungsregelung des gegenseitig erwartbaren Scheiterns. Fairness heißt, dass jeder dem anderen etwas gönnt, was deshalb geht, weil das niemand muss. Durch Fairness werden die Motivationsgründe zum Weitermachen geliefert. (hervorh. Von mir)
Diesen Text sollte vielleicht in die Präambeln zukünftiger Sportereignisse und Turniere aufgenommen werden. Denn er weist den Weg hinaus aus der metaphysischen Verkniffenheit der Wahrheit, der metaphysischen Gerechtigkeit, der Videobeweise und Chipimplantate und eröffnet den Spielraum des Spiels, dessen Ziel eben nicht das Schulzeugnis ist, das die Wahrheit über die Leistung des Bezeugten auszusagen vorgibt. Sondern es ermöglicht sowohl die Fortsetzung wie auch das Ende des Spiels. Warum endet es sonst nach etwa 90 Minuten? Warum nicht, wenn der letzte Mann spielunfähig am Boden liegt? Warum wird es durch Schiedsrichterpfiff beendet und nicht zu dem Zeitpunkt, da „die Wahrheit“ offenbar ist? Und warum ist es überhaupt möglich, länger als bis zum ersten Tor zu spielen? Weil es eben ein Spiel ist, das überhaupt erst unter den Regeln der Fairness, nicht aber der Gerechtigkeit begonnen werden kann. Und das nur nach Regeln der Fairness geführt oder beendet werden kann. Ein Spiel, zu dem eine bestimmte Schiedsrichterentscheidung ebenso gehört, wie ein geglückter oder misslungener Pass (müsste bei Einführung der Beweistechnologie nicht auch technologisch dafür gesorgt werden, dass es keine Fehlpässe mehr gibt? Keine Fehlschüsse? Fehlgriffe? Fouls? – die alle die Gerechtigkeit und Wahrheit des Ausgangs manipulieren können; warum werden Eigentore gewertet, die doch nicht für die Leistungd er Mannschaft sprechen, für die das Tor zählt?).
Anders gesagt: Müsste man sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ein Fußballspiel nicht von der besseren Mannschaft gewonnen wird, sondern von derjenigen, die mehr Tore schießt? Dem Roulettespieler gleich, der öfter auf die richtige, statt auf die falsche Farbe gesetzt hat? Und heißt das nicht, auf die Frage nach der Wahrheit eines Tores (oder der Farbe rot) zu verzichten? Vorausgesetzt, man wollte weiter spielen. Die Folge all dessen kann nur sein, die metaphysische Aufladung der Fußballspiele sein zu lassen, sich dem Spiel zu überlassen inklusive aller Fehlpässe, Fehlschüsse und Fehlentscheidungen. Und das heißt: Torkameras weg. Chips weg. Torrichter weg. Wem das nicht gefällt, der möge sich an die Playstation setzen und dort „Fußball“ spielen.
Den möchte ich sehen, der nach so viel gezeigter und auch plausibel gemachter Klugheit und Vernunft, Analysefähigkeit und Schlussregelbeherrschung nicht lange zögert, dem bereits Gesagten noch die geringste Ergänzung hinzufügen sich zu getrauen. Dennoch sei es gewagt:
Nur muss man mir dann auch gestatten, ganz anders vorzugehen. Ich will dabei auch vollkommen beim Fussballspiel bleiben und mir dazu ein pragmatisches Entscheidungsmodell machen. Meine Überlegungen hierzu vollziehen sich in drei Schritten. Das soll so gehen:
(1) Dem Fussballspiel liegen einsehbare und gedruckte und auch veröffentlichte Regeln zu Grunde. Diese Regeln kennt also jeder und kann auch jeder kennen und erkennen: die Spieler beider Mannschaften, die Schiedsrichtercrew und das Publikum.
(2) Jeder am Spiel Interessierte geht davon aus, das es Streitfälle geben wird. Deshalb schickt man ja fachlich geschulte und entsprechend zertifizierte Schiedsrichter als ein zusammenarbeitendes Team auf das Spielfeld. Jedermann weiss, dass dieses Schiedsrichterteam alsbald wird etwas entscheiden müssen: Foul, Freistoss oder Strafstoss (Elfmeter). Deshalb gibt es ebenfalls kanonisierte, gedruckte und allgemein bekannte Auslegungsregeln FÜR den Schiedsrichter. Dies nenne ich die GEREGELTEN Regeln.
(3) Im dritten Schritt wird Folgendes voraus gesetzt und allgemein anerkannt: Wenn eine zur Entscheidung anstehende Situation der drei genannten Arten oder Möglichkeiten ansteht, soll gelten: Keine technischen Hilfsmittel, nur die absolute Einsicht, dass man allemal immer nur das entscheiden kann, was man (eigentlich, ganz philosophisch und erkenntnistheoretisch) NICHT entscheiden kann. Diese Last wird jetzt dem eigentlichen Hauptschiedsrichter, dem Mann mit der Pfeife übertragen und aufgebürdet, und zwar im Wissen des bereits genannten Paradoxes und mit der zusätzlichen Einsicht und Erkenntnis: Wie immer entschieden wird, die Welt wird nach der Entscheidung niemals wieder dieselbe sein wie genau jetzt im Augenblick der nötigen, der erforderliche und der dann auch fallenden Entscheidung. Alles blickt jetzt auf den Mann mit der Pfeife. Er hat auch keine weitere Zeit, er MUSS handeln. Und weil ALLE wissen, man kann gar nicht entscheiden, WIRD dieser Mann nun entscheiden, und zwar, wie der Volksmund zu sagen pflegt: “aus dem Bauch heraus” ! Deshalb muss der Schiedsrichter ein erfahrener Mann und ein alter Kämpe sein. Und alle müssen das wissen, bekennen und auch für immer einsehen. Und genau diese Situation, diesen dritten Schritt im Regelsystem, nenne ich die UNGEREREGELT geregelten Regeln. Kommt der Pfiff und wurde entschieden, ist das Paradox vorbei, gelöst und pragmatisch entfaltet. Anders geht es nicht und kann es auch nicht gehen. Es tritt sofort ein allgemeiner Feldfriede ein. Keiner hat zu murren, die Entscheidung, getroffen nach ungeregelt geregelten Regeln, sie GILT: Basta !