Wahrheit, Wirklichkeit, Gerechtigkeit und Entscheidung im Fußball — ein Versuch @kusanowsky

Juni 23rd, 2012 § 1 comment

Macht man sich den Spaß, den von Kus­anow­sky (hier) auf­ge­nom­me­nen Ball hin­sicht­lich der Refle­xi­on der Ereig­nis­se um das viel­dis­ku­tier­te (Nicht-)Tor im Spiel Ukrai­ne-Eng­land wie­der­um anzu­neh­men und steil auf die abschlie­ßen­den Tor­hei­ten zuzu­spie­len, käme man wohl mit dem fol­gen­den Gedan­ken in Strafraumnnähe:

Fast schon letzt­end­lich lässt sich der Dis­kurs um das Gesche­hen redu­zie­ren auf eine dahin­ter lie­gen­de Grund­an­nah­me, näm­lich die­je­ni­ge, ein (Schieds)Richter habe die Wahr­heit her­aus­zu­fin­den, um ein gerech­tes Spiel­ergeb­nis zu ermög­li­chen. Die Alter­na­tiv­for­mu­lie­rung, der die­ser Grund­an­nah­me wie­der­spricht und die an die Wur­zeln der Moder­ne rührt, wäre: Der (Schieds)Richter hat nach bes­tem Wis­sen und Gewis­sen spiel­re­gel­kon­for­me Ent­schei­dun­gen zu fäl­len. Letz­te­res müss­te den Ver­zicht auf Wahr­heits­an­spruch ein­schlie­ßen. Heißt: Das Urteil ist nicht die Wie­der­ga­be einer Wahr­heit, son­dern eine abschlie­ßen­de Ent­schei­dung unter den Bedin­gun­gen „nach mensch­li­chem Ermes­sen“. Ers­te­res dage­gen bean­sprucht ein End­ur­teil, das das mensch­li­che Ermes­sen ledig­lich als Feh­ler­quel­le und damit Quel­le der Unsi­cher­heit betrach­tet. Dar­in schließt die schein­bar nur um Fuß­ball krei­sen­de Debat­te durch­aus naht­los an die recht­li­che Debat­te um das Gerichts­ur­teil an. Hat der Rich­ter die Auf­ga­be, im Pro­zess die Wahr­heit zu fin­den? Oder hat er ein Urteil „bey­ond reasonable doubt“ zu fäl­len? Ist das Urteil der Abschluss eines Pro­zes­ses? Oder ist das Ende des Pro­zes­ses die Offen­ba­rung bzw. Offen­bar­wer­dung und Unver­bor­gen­heit der Wahr­heit? Folgt das Urteil den Regeln der Straf­pro­zess­ord­nung? Oder unter­liegt das Urteil dem Wahr­heits­an­spruch? Im ers­te­ren Fal­le schlös­se das Urteil die Mög­lich­keit des Feh­lers im Pro­zess ein (wor­auf Kus­anow­sky im Namen der sport­li­chen Fair­ness abhebt). Das Ergeb­nis könn­te nie­mals Wahr­heit, son­dern nur höchs­te Wahr­schein­lich­keit oder Men­schen­mög­li­ches sein. Letz­te­res wäre ein Urteil, des­sen mensch­li­cher Anteil so weit zu redu­zie­ren wäre, dass eigent­lich nur das Got­tes­ur­teil ein sinn­vol­les Ver­fah­ren wäre.

Wahr­heit und Wirklichkeit

Obwohl weder Fuß­ball, noch bür­ger­li­che Gerich­te es (vor­der­grün­dig!) mit meta­phy­si­schen Wahr­hei­ten zu tun haben, fin­det doch gele­gent­lich ein dis­kur­si­ve Ver­wechs­lung von Wahr­heit und Wirk­lich­keit statt. Die Wahr­heit her­aus­zu­fin­den heißt, wie es „wirk­lich“ gewe­sen ist. Und die Wahr­heit zu sagen for­dert die adaequa­tio ver­bi et rei, also eine Form sprach­li­cher Aus­sa­gen­wahr­heit, in der das, was gesagt wird,  wie­der­ge­ben soll, was wirk­lich oder wahr­haf­tig gewe­sen ist. Die Unsi­cher­heit, Wider­sprüch­lich­keit und Stör­an­fäl­lig­keit mensch­li­cher Zeu­gen­aus­sa­gen (oder Lini­en­rich­ter) ist dabei hin­rei­chend oft beschrie­ben wur­den, um sie als „Fak­tum“ hin­zu­neh­men. Das Pro­blem, das es um zumeist eph­eme­re Ereig­nis­se geht, die nir­gends außer­halb der Erin­ne­rung mehr wahr­nehm­bar sind, sorgt dafür, dass selbst die gut­wil­ligs­te Erfül­lung der Anfor­de­rung jeder­zeit mit dem Ver­dacht behaf­tet sein muss, eben doch nicht adaequat zu sein. Zudem muss ja noch unter­stellt wer­den, dass selbst die Fra­ge nach der „res“, die wie­der­ge­ge­ben wer­den soll, zwei­fel­haft bleibt, da es eine wahr­ge­nom­me­ne res ist, die im Wahr­neh­mungs­akt bereits einen „Feh­ler“ hat­te. Wobei die Fra­ge nach einem Feh­ler nur dann auf­kom­men kann, wenn Aus­sa­gen kon­f­li­gie­ren oder sich bestimm­te Umstän­de fin­den las­sen, die es als wahr­schein­lich schei­nen las­sen, dass der­je­ni­ge, der sei­ne Aus­sa­ge macht, in beson­de­rer Wei­se stör­an­fäl­lig ist. Das heißt: Der Zeu­ge kann ent­we­der die res bereits „falsch“ wahr­ge­nom­men haben, oder er kann eine nicht-adäqua­te Aus­sa­ge über sei­ne Wahr­neh­mung machen, und das wie­der­um ent­we­der irr­tüm­lich oder wider „bes­se­res Wis­sen“ im Wege einer Falschaussage.

Was zusätz­lich noch erschwert wird durch das grund­le­gen­de dis­kur­si­ve Pro­blem des Miss­ver­ständ­nis­ses, das sich nur zu gerin­gen Tei­len durch wei­te­re Kom­mu­ni­ka­ti­on auf­he­ben lässt, dann näm­lich, wenn der „Ver­ste­hen­de“ selbst bemerkt oder den Ver­dacht hat, etwas falsch ver­stan­den zu haben. Wobei die anschlie­ßen­de Klä­rung wie­der­um selbst nicht wirk­lich geeig­net ist, das Miss­ver­ständ­nis aus­zu­schlie­ßen, son­dern regel­mä­ßig nur damit endet, dass der „Ver­ste­hen­de“ ent­we­der den Ein­druck des „rich­tig ver­stan­den habens“ gewinnt (was ein Miss­ver­ständ­nis nicht aus­schließt), oder aber die Unauf­lös­lich­keit des Miss­ver­ständ­nis­ses ein­sieht und von wei­te­rer Befra­gung Abstand nimmt.  Letzt­lich eine Refor­mu­lie­rung des Gor­gia­ni­schen Para­do­xes der Zei­chen­kom­mu­ni­ka­ti­on im Frag­ment „Über das Nichtseiende“.

Der Zeu­ge kann die „Wahr­heit“ über sei­ne Wahr­neh­mung (oder das, was er meint wahr­ge­nom­men zu haben) sagen, ohne doch die „wah­re“ res damit wie­der­zu­ge­ben. Oder er kann über eine „wahr“ genom­me­ne Wirk­lich­keit die Unwahr­heit sagen. Oder er kann sogar über eine fal­sche „Wahr“nehmung (Fal­sch­neh­mung?) eine „Unwahr­heit“ sagen. Die gericht­li­che Eides­for­mel for­dert dadurch eine Wahr­heit ein, die sie natür­lich selbst dann nicht garan­tie­ren kann, wenn der Zeu­ge sie befol­gen will:

(1) Der Eid mit reli­giö­ser Beteue­rung wird in der Wei­se geleis­tet, dass der Rich­ter an den Zeu­gen die Wor­te richtet:

“Sie schwö­ren bei Gott dem All­mäch­ti­gen und All­wis­sen­den, dass Sie nach bes­tem Wis­sen die rei­ne Wahr­heit gesagt und nichts ver­schwie­gen haben”

und der Zeu­ge hier­auf die Wor­te spricht:

“Ich schwö­re es, so wahr mir Gott helfe”.

(2) Der Eid ohne reli­giö­se Beteue­rung wird in der Wei­se geleis­tet, dass der Rich­ter an den Zeu­gen die Wor­te richtet:

“Sie schwö­ren, dass Sie nach bes­tem Wis­sen die rei­ne Wahr­heit gesagt und nichts ver­schwie­gen haben”

und der Zeu­ge hier­auf die Wor­te spricht:

“Ich schwö­re es”. (Quel­le)

Wollt man sich anma­ßen, die deut­sche Straf­pro­zess­ord­nung zu kor­ri­gie­ren, müss­te man die Umfor­mu­lie­rung dahin­ge­hend fordern:

Ich schwö­re, dass ich ver­sucht habe, durch sprach­li­che For­mu­lie­rung wie­der­zu­ge­ben, was ich wahr­ge­nom­men zu haben glau­be und wor­an ich mich jetzt noch mei­ne erin­nern zu kön­nen. Ob Sie es ver­ste­hen oder nicht. Auch wenn mir Gott dabei ver­mut­lich nicht hel­fen kann.

Wahr­heit, Wirk­lich­keit und Entscheidung

Dem Rich­ter obliegt zu ent­schei­den, ob und in wie­weit er die­se Aus­sa­ge in sei­ne Ent­schei­dung auf­neh­men wird. Und dar­aus ein Urteil zu fäl­len. Dabei wird der moder­ne Rich­ter sich tun­lichst nicht auf Zeu­gen­aus­sa­gen ver­las­sen, son­dern sich wo immer mög­lich der Errun­gen­schaf­ten der moder­nen Natur­wis­sen­schaft bedie­nen, die aus Spu­ren das Ver­gan­ge­ne archäo­lo­gisch zu rekon­stru­ie­ren bzw. eine bestimm­te plau­si­ble Erzäh­lung so mit Indi­zi­en oder Bewei­sen anzu­rei­chern suchen, dass sie in ihrer Glaub­wür­dig­keit ande­ren Erzäh­lun­gen über­le­gen ist. Emble­ma­tisch kön­nen dafür Bal­lis­tik oder der DNA-Beweis ste­hen, die im Zwei­fels­fall die Macht haben, Zeu­gen­aus­sa­gen zu stär­ken, zu schwä­chen oder unglaub­wür­dig zu machen. Da Tech­nik kei­nen Irr­tum und kei­nen Wil­len zur Unwahr­heit kennt, sind die Ergeb­nis­se des Tests mensch­li­chen Zeu­gen­aus­sa­gen über­le­gen. Sie fin­den also Wahr­hei­ten in dem Sin­ne her­aus, dass Aus­sa­gen über eine ver­gan­ge­ne Wirk­lich­keit getrof­fen wer­den kön­nen, die bestimm­te Zwei­fel aus­schlie­ßen – aller­dings wie­der­um bestimm­ten Anfäl­lig­kei­ten für Phan­to­me unter­lie­gen, die zu neu­en Ver­wick­lun­gen füh­ren können.

Am Ende jedes Pro­zes­ses wird des­we­gen in jedem Fal­le den­noch nicht die gott­ge­stütz­te Wahr­heits­aus­sa­ge, son­dern nur eine Ent­schei­dung ste­hen. Und auch die­se erfolgt nur, weil sie erfol­gen muss. Der Pro­zess muss – wie das Fuß­ball­spiel – enden. Irgend­wie und irgend­wann.  Das ist die Funk­ti­on des Urteils. Nicht die Wahr­heits­fin­dung. Es kann in einer moder­nen Gesell­schaft nicht um die Fra­ge der Wahr­heit bei der Beur­tei­lung (lang oder kurz) ver­gan­ge­ner Ereig­nis­se gehen. Es sei denn sie bezieht sich auf eine Got­tes­ga­ran­tie. Es geht ledig­lich dar­um, einen Abschluss der Fra­ge­pro­zes­ses zu fin­den. Der Rich­ter ist kein sokra­ti­scher Geburts­hel­fer der Wahr­heit. Er ist der­je­ni­ge, der das Ver­fah­ren mit dem Urteil been­det und damit den Bruch der Zei­ten­fol­ge in der Ver­gan­gen­heit flickt. Um es mit Ham­let zu sagen:

The time is out of joint—O cur­sèd spite,
That ever I was born to set it right!

Gäbe es eine Wahr­heit, müss­te kei­ne Ent­schei­dung gefällt wer­den. Die Wahr­heit kann man ent­we­der fin­den oder ver­feh­len. Pla­to­nisch gesagt: Ent­we­der man hat Zugang zu den eidê oder eben nicht. Ent­schei­den lässt sich nur da, wo sich eigent­lich nicht ent­schei­den lässt. Das ist das Grund­pa­ra­dox der Ent­schei­dung, dass ihr jeder­zeit der Makel des Zufäl­li­gen und Will­kür­li­chen, des Wil­lens­frei­en anhängt.

Die Gerech­tig­keit und die Wahrheit

In einer Kom­men­tar­re­plik kommt Kus­anow­sky nun über den Schlen­ker der Fair­ness zur Gerech­tig­keit, ein Begriff, den es in die­sem Zusam­men­hang durch­aus zu befra­gen gilt. Hat doch auch die Gerech­tig­keit eine Dop­pel­deu­tig­keit. Ein­mal nimmt Gerech­tig­keit in Urteils­zu­sam­men­hän­gen Bezug auf die Wahr­heit. Dies drückt sich in der For­de­rung aus, ein Gerichts­ver­fah­ren möge den „wah­ren“ Täter über­füh­ren und ver­ur­tei­len und sei damit gerecht, dass der wah­re Täter eben der gerech­ten Stra­fe zuge­führt wer­de. Das ist natür­lich nicht der Gerech­tig­keits­be­griff der moder­nen welt­li­chen Jus­tiz. Dort gilt viel­mehr als gerecht ein Urteil , das nach allen Regeln der Pro­zess­ord­nung ein­wand­frei gefällt wur­de. Eine Pro­zess­ge­rech­tig­keit im Gegen­satz zur meta­phy­si­schen Gerechtigkeit.

Inter­es­sant ist das für den gege­be­nen sport­li­chen Zusam­men­hang, weil Dis­kur­se über den Fuß­ball ger­ne auf bei­de Begrif­fe von Gerech­tig­keit rekur­rie­ren. Der pro­zes­sua­le Gerech­tig­keits­be­griff fin­det sich im aktu­el­len Zusam­men­hang als die Fra­ge, ob das Tor regel­ge­recht erzielt und nach den Regeln des Fuß­balls als Tor zu gel­ten habe. Der meta­phy­si­sche Gerech­tig­keits­be­griff fin­det sich dage­gen in For­mu­lie­run­gen wie „gerech­tes Unent­schie­den“, „ver­dien­ter (=gerech­ter) Sieg“ oder „glück­li­cher (=nicht gerech­ter) Sieg. Dabei sind die Kri­te­ri­en, die an die Gerech­tig­keit im Urteil ange­legt wer­den, ziem­lich schwan­kend. Ist ein Sieg der über­wie­gend im Ball­be­sitz befind­li­chen Mann­schaft gerecht? Der­je­ni­gen mit mehr Tor­chan­cen? Des tap­fer kämp­fen­den Under­dogs? Dem Spiel wird in sei­nem Aus­gang eine Aus­sa­ge­funk­ti­on unter­stellt, die in ihrer Bezie­hung auf die Wahr­heit („die bes­se­re Mann­schaft“) über­prüft und damit als gerecht oder unge­recht qua­li­fi­ziert wird. Das lässt sich ger­ne in Inter­views nach dem Spiel hören, in denen Spie­ler oder Trai­ner sich dar­über bekla­gen, dass ein Sieg bzw. die eige­ne Nie­der­la­ge nicht gerecht sei. Oder in der Ein­sicht, dass die Nie­der­la­ge „ver­dient“ und damit gerecht sei, weil die ande­re Mann­schaft bes­ser war. Dabei muss die Regel­kon­for­mi­tät des Ergeb­nis­ses nicht ein­mal ange­zwei­felt wer­den. Es kann also pro­zes­su­al alles mit rech­ten Din­gen und gerecht zuge­gan­gen sein und doch die Gerech­tig­keit des Ergeb­nis­ses ange­zwei­felt wer­den. Anders her­um gilt ein Sieg, der durch schein­bar oder offen­sicht­lich nicht regel­kon­for­me Ereig­nis­se zustan­de gekom­men ist, als „glück­lich“ oder „unglück­lich“. Der zu Unrecht gege­be­ne oder ver­wei­ger­te Elf­me­ter. Die fälsch­lich gepfif­fe­ne oder nicht gepfif­fe­ne Abseits­stel­lung usw. Und es kön­nen auch nicht regel­kon­for­me Ereig­nis­se vor­ge­kom­men sein, die an der Gerech­tig­keit des Ergeb­nis­ses wie­der­um nichts ändern. Das Tor ist zwar aus dem Abseits gefal­len, die pro­fi­tie­ren­de Mann­schaft war aber klar über­le­gen und brauch­te daher die Hil­fe des Glücks, um zum gerech­ten Sieg zu kom­men. Die Wahr­heit bedient sich der Täu­schung, um ein gerech­tes Urteil her­bei zu füh­ren. So die­ser Diskurs.

Wahr­heit und Ent­schei­dung auf dem Fußballplatz

Die Tech­no­lo­gie soll nun­mehr ein Grund­pro­blem aus­schal­ten: Es soll die Rich­ter zur Wahr­heit füh­ren oder die Wahr­heit sich den Rich­tern unver­stellt offen­ba­ren las­sen, jen­seits der mensch­lich-anfäl­li­gen Wahr­neh­mung und Ent­schei­dung. Durch Tech­no­lo­gie soll die „Wahr­neh­mung“ oder „Für­wahr­neh­mung“ der Wirk­lich­keit aus­ge­schal­tet und umgan­gen wer­den, ein Zugang zur „wah­ren Wirk­lich­keit“ eröff­net wer­den. Die pro­zes­sua­le Form der Gerech­tig­keit, die auf einer Ent­schei­dung basiert, soll ersetzt wer­den durch die meta­phy­si­sche Form der Wahr­heit, die unter Umge­hung des mensch­li­chen Makels direkt erkannt wer­den soll. Nicht die Tat­sa­che des Tores, die durch die Tat­sa­chen­ent­schei­dung erzeugt wird, soll mehr gel­ten, son­dern die Fra­ge nach der Wahr­heit des Tores, sei­ner Wirk­lich­keit. Der Tech­nik wird unter­stellt, die Wahr­heit sagen oder anzei­gen zu können.

Die Chip­lö­sung der Tor­kon­trol­le ersetzt dabei gänz­lich den Raum mensch­li­cher Wahr­neh­mung und ver­la­gert die Wahr­heits­fin­dung einen der mensch­li­chen Phy­sis nicht zugäng­li­chen Bereich, der aus Magnet- und Radio­wel­len besteht. Kei­ne Meta- aber eine Para­phy­sis, die mensch­li­che Erkennt­nis (noê­sis) wird ersetzt durch para-noê­sis oder Paranoia.

Die Video­auf­zeich­nung hin­ge­gen macht sich anhei­schig, die Zeit belie­big zurück­dre­hen zu kön­nen, gleich­zei­tig ver­viel­fäl­tig­bar mehr Wahr­neh­men­den ver­füg­bar zu sein und zudem noch die Zeit deh­nen oder Gesichts­fel­der mani­pu­lie­ren zu kön­nen durch Zeit­lu­pe und Aus­schnitts­ver­grö­ße­rung oder gar Stand­bild. Damit wird sie zu einer nicht-anthro­pi­schen Form der Wie­der­erin­ne­rung, einer Ana­mnê­sis, die schon in den Urfor­men meta­phy­si­scher Ideen­leh­re her­bei­ge­träumt wur­de – die aber wohl­weis­lich auf bild­ge­ben­de Ver­fah­ren ver­zich­te­te. Dafür miss­trau­te Pla­ton den Malern doch gar zu sehr, auch wenn er inter­es­san­ter­wei­se im Dia­log Gor­gi­as (!) die Ideen­leh­re am Bei­spiel des Malers ver­sinn­bild­lich­te (Gorg. 379).

Las­sen wir die Phan­tom-Mög­lich­kei­ten ein­mal außer acht (fal­scher Kame­ra­win­kel, Stör­sen­der, Fehl­funk­ti­on, Wet­ter­ein­flüs­se usw.), dann ist der Anspruch die­ser Frak­ti­on, einen unmit­tel­ba­ren Zugang zur Wahr­heit zu haben. Das schließt die Bereit­schaft ein, eine tech­ni­sche Fehl­funk­ti­on ent­we­der aktiv zu igno­rie­ren oder bewusst in Kauf zu neh­men und sie mensch­li­cher Fehl­ent­schei­dung gegen­über zu bevor­zu­gen. Die tech­nisch erzeug­te (in ein elek­tro­ni­sches Signal ver­wan­del­te oder als Film­bild auf­ge­zeich­ne­te) „neue“ Wirk­lich­keit wird der­je­ni­gen Wirk­lich­keit über­la­gert oder ersetzt sie, die sie wie­der­zu­ge­ben behaup­tet. Der Rich­ter sitzt also vor dem Bild­schirm statt an der Tor­li­nie. Und er urteilt dar­über, ob das elek­tro­ni­sche Gerät ein Signal gege­ben hat oder ob auf Video­bil­dern etwas zu sehen ist, das als „Tor“ zu beur­tei­len ist. Der Tech­nik wird Wahr­heits­fä­hig­keit zuge­stan­den, jen­seits der mensch­li­chen Urteils­fä­hig­keit. Sie ver­tritt die Stel­le des Gottesbeweises.

Wahr­heit, Gerech­tig­keit und Fußball

Damit wäre das Fuß­ball­spiel an sei­nem Ende ange­langt. Denn der Weg wäre beschrit­ten, das Fuß­ball­spiel zu einer Wahr­heits­pro­be dar­auf zu machen, wer das bes­se­re Team ist. Bei Kus­anow­sky fin­det sich in der besag­ten Kom­men­tar­re­plik fol­gen­de Formulierung:

Ver­mut­lich wird in sport­li­chen Ange­le­gen­hei­ten die Sache so bri­sant nicht, weil Sport Gerech­tig­keit, also Fair­ness, kom­mu­ni­ziert. Fair­ness bedeu­tet ja, dass der Irr­tums­vor­be­halt immer schon berück­sich­tigt ist, dass also der Unter­schied von wahr und falsch nur dar­um treff­si­cher anschluss­fä­hig ist, weil die Betei­lig­ten von ein­an­der wis­sen, dass kei­ne Not­wen­dig­keit dafür gege­ben ist das Spiel fort­zu­set­zen. Es han­delt sich um ein Spiel, das gera­de, weil es nicht gesche­hen muss, die Begeis­te­rung umso mehr stei­gert, je grö­ßer die Frei­heit aller Betei­lig­ten ist, das Spiel nicht fort­zu­set­zen. Dar­um Fair­ness. Fair­ness stellt gleich­sam sicher, dass das Spiel trotz aller Frei­hei­ten des Unter­las­sens den­noch wei­ter geht. Der Grund dafür ergibt sich, wenn die Fair­ness sabo­tiert wird, z.B. durch Doping, Kor­rup­ti­on oder durch ande­re Maß­nah­men. Dann heißt es: so geht es nicht. Fair­ness ist nichts ande­res als Gerech­tig­keit, durch die die Irr­tums­fä­hig­keit der ande­ren im Vor­aus in Rech­nung gestellt wird. Die Regeln der Fair­ness funk­tio­nie­ren gleich­sam als eine ante­zi­pie­ren­de Ver­rech­nungs­re­ge­lung des gegen­sei­tig erwart­ba­ren Schei­terns. Fair­ness heißt, dass jeder dem ande­ren etwas gönnt, was des­halb geht, weil das nie­mand muss. Durch Fair­ness wer­den die Moti­va­ti­ons­grün­de zum Wei­ter­ma­chen gelie­fert. (her­vorh. Von mir)

Die­sen Text soll­te viel­leicht in die Prä­am­beln zukünf­ti­ger Sport­er­eig­nis­se und Tur­nie­re auf­ge­nom­men wer­den. Denn er weist den Weg hin­aus aus der meta­phy­si­schen Ver­knif­fen­heit der Wahr­heit, der meta­phy­si­schen Gerech­tig­keit, der Video­be­wei­se und Chip­im­plan­ta­te und eröff­net den Spiel­raum des Spiels, des­sen Ziel eben nicht das Schul­zeug­nis ist, das die Wahr­heit über die Leis­tung des Bezeug­ten aus­zu­sa­gen vor­gibt. Son­dern es ermög­licht sowohl die Fort­set­zung wie auch das Ende des Spiels. War­um endet es sonst nach etwa 90 Minu­ten? War­um nicht, wenn der letz­te Mann spiel­un­fä­hig am Boden liegt? War­um wird es durch Schieds­rich­ter­pfiff been­det und nicht zu dem Zeit­punkt, da „die Wahr­heit“ offen­bar ist? Und war­um ist es über­haupt mög­lich, län­ger als bis zum ers­ten Tor zu spie­len? Weil es eben ein Spiel ist, das über­haupt erst unter den Regeln der Fair­ness, nicht aber der Gerech­tig­keit begon­nen wer­den kann. Und das nur nach Regeln der Fair­ness geführt oder been­det wer­den kann. Ein Spiel, zu dem eine bestimm­te Schieds­rich­ter­ent­schei­dung eben­so gehört, wie ein geglück­ter oder miss­lun­ge­ner Pass (müss­te bei Ein­füh­rung der Beweis­tech­no­lo­gie nicht auch tech­no­lo­gisch dafür gesorgt wer­den, dass es kei­ne Fehl­päs­se mehr gibt? Kei­ne Fehl­schüs­se? Fehl­grif­fe? Fouls? – die alle die Gerech­tig­keit und Wahr­heit des Aus­gangs mani­pu­lie­ren kön­nen; war­um wer­den Eigen­to­re gewer­tet, die doch nicht für die Leis­tungd er Mann­schaft spre­chen, für die das Tor zählt?).

Anders gesagt: Müss­te man sich nicht an den Gedan­ken gewöh­nen, dass ein Fuß­ball­spiel nicht von der bes­se­ren Mann­schaft gewon­nen wird, son­dern von der­je­ni­gen, die mehr Tore schießt? Dem Rou­lette­spie­ler gleich, der öfter auf die rich­ti­ge, statt auf die fal­sche Far­be gesetzt hat? Und heißt das nicht, auf die Fra­ge nach der Wahr­heit eines Tores (oder der Far­be rot) zu ver­zich­ten? Vor­aus­ge­setzt, man woll­te wei­ter spie­len. Die Fol­ge all des­sen kann nur sein, die meta­phy­si­sche Auf­la­dung der Fuß­ball­spie­le sein zu las­sen, sich dem Spiel zu über­las­sen inklu­si­ve aller Fehl­päs­se, Fehl­schüs­se und Fehl­ent­schei­dun­gen. Und das heißt: Tor­ka­me­ras weg. Chips weg. Tor­rich­ter weg. Wem das nicht gefällt, der möge sich an die Play­sta­ti­on set­zen und dort „Fuß­ball“ spielen.

§ One Response to Wahrheit, Wirklichkeit, Gerechtigkeit und Entscheidung im Fußball — ein Versuch @kusanowsky

  • Den möch­te ich sehen, der nach so viel gezeig­ter und auch plau­si­bel gemach­ter Klug­heit und Ver­nunft, Ana­ly­se­fä­hig­keit und Schluss­re­gel­be­herr­schung nicht lan­ge zögert, dem bereits Gesag­ten noch die gerings­te Ergän­zung hin­zu­fü­gen sich zu getrau­en. Den­noch sei es gewagt:

    Nur muss man mir dann auch gestat­ten, ganz anders vor­zu­ge­hen. Ich will dabei auch voll­kom­men beim Fuss­ball­spiel blei­ben und mir dazu ein prag­ma­ti­sches Ent­schei­dungs­mo­dell machen. Mei­ne Über­le­gun­gen hier­zu voll­zie­hen sich in drei Schrit­ten. Das soll so gehen:

    (1) Dem Fuss­ball­spiel lie­gen ein­seh­ba­re und gedruck­te und auch ver­öf­fent­lich­te Regeln zu Grun­de. Die­se Regeln kennt also jeder und kann auch jeder ken­nen und erken­nen: die Spie­ler bei­der Mann­schaf­ten, die Schieds­rich­ter­crew und das Publikum.

    (2) Jeder am Spiel Inter­es­sier­te geht davon aus, das es Streit­fäl­le geben wird. Des­halb schickt man ja fach­lich geschul­te und ent­spre­chend zer­ti­fi­zier­te Schieds­rich­ter als ein zusam­men­ar­bei­ten­des Team auf das Spiel­feld. Jeder­mann weiss, dass die­ses Schieds­rich­ter­team als­bald wird etwas ent­schei­den müs­sen: Foul, Frei­stoss oder Straf­stoss (Elf­me­ter). Des­halb gibt es eben­falls kano­ni­sier­te, gedruck­te und all­ge­mein bekann­te Aus­le­gungs­re­geln FÜR den Schieds­rich­ter. Dies nen­ne ich die GEREGELTEN Regeln.

    (3) Im drit­ten Schritt wird Fol­gen­des vor­aus gesetzt und all­ge­mein aner­kannt: Wenn eine zur Ent­schei­dung anste­hen­de Situa­ti­on der drei genann­ten Arten oder Mög­lich­kei­ten ansteht, soll gel­ten: Kei­ne tech­ni­schen Hilfs­mit­tel, nur die abso­lu­te Ein­sicht, dass man alle­mal immer nur das ent­schei­den kann, was man (eigent­lich, ganz phi­lo­so­phisch und erkennt­nis­theo­re­tisch) NICHT ent­schei­den kann. Die­se Last wird jetzt dem eigent­li­chen Haupt­schieds­rich­ter, dem Mann mit der Pfei­fe über­tra­gen und auf­ge­bür­det, und zwar im Wis­sen des bereits genann­ten Para­do­xes und mit der zusätz­li­chen Ein­sicht und Erkennt­nis: Wie immer ent­schie­den wird, die Welt wird nach der Ent­schei­dung nie­mals wie­der die­sel­be sein wie genau jetzt im Augen­blick der nöti­gen, der erfor­der­li­che und der dann auch fal­len­den Ent­schei­dung. Alles blickt jetzt auf den Mann mit der Pfei­fe. Er hat auch kei­ne wei­te­re Zeit, er MUSS han­deln. Und weil ALLE wis­sen, man kann gar nicht ent­schei­den, WIRD die­ser Mann nun ent­schei­den, und zwar, wie der Volks­mund zu sagen pflegt: “aus dem Bauch her­aus” ! Des­halb muss der Schieds­rich­ter ein erfah­re­ner Mann und ein alter Käm­pe sein. Und alle müs­sen das wis­sen, beken­nen und auch für immer ein­se­hen. Und genau die­se Situa­ti­on, die­sen drit­ten Schritt im Regel­sys­tem, nen­ne ich die UNGEREREGELT gere­gel­ten Regeln. Kommt der Pfiff und wur­de ent­schie­den, ist das Para­dox vor­bei, gelöst und prag­ma­tisch ent­fal­tet. Anders geht es nicht und kann es auch nicht gehen. Es tritt sofort ein all­ge­mei­ner Feld­frie­de ein. Kei­ner hat zu mur­ren, die Ent­schei­dung, getrof­fen nach unge­re­gelt gere­gel­ten Regeln, sie GILT: Basta !

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