Warum so viele Klassikerinszenierungen: Die Todsünden des Theaters (Antwort auf Nora Decker)

April 11th, 2011 § 3 comments

Die Schau­spiel­stu­den­tin Nora Decker hat mir eine Fra­ge gemailt, die nur auf den ers­ten Blick oft gehört und wie ein miso­thea­tra­ler Stoß­seuf­zer erscheint:

war­um wer­den sovie­le büh­nen­klas­si­ker insze­niert (shake­speare, goe­the, ibsen, usw.)?

gab es nicht eine zeit, in der stü­cke geschrie­ben u auf die büh­ne gebracht wur­den und gebrauch­te stü­cke im schrank blieben?

und wenn ja, war­um ist das nicht mehr so, war­um sieht die hit­lis­te der spiel­plä­ne so aus? :

1 Faust (Goe­the)
2 Der Gott des Gemet­zels (Reza)
3 Romeo und Julia (Shake­speare)
4 Ein Som­mer­nachts­traum (Shake­speare)
5 Kaba­le und Lie­be (Schil­ler)
6 Klamms Krieg (Hen­sel)
7 Wert­her (Goe­the)
8 Sze­nen (Lori­ot)
9 Die Räuber (Schil­ler)
10 Maria Stuart (Schil­ler)
11 Nathan der Wei­se (Les­sing)
12 Der zer­broch­ne Krug (Kleist)
13 An der Arche um acht (Hub)
14 Ham­let (Shake­speare)
15 Die Grönholm-Methode (Gal­ceran)
16 Der Men­schen­feind (Molière)
17 Ladies Night (Sinclair/McCarten)
18 Bud­den­brooks (Mann/Düffel)
19 Wer hat Angst vor Vir­gi­nia Woolf? (Albee)
20 Micha­el Kohl­haas (Kleist)

Ich fin­de die Fra­ge rele­vant. Und möch­te sie des­we­gen nicht per Mail son­der mit einem Pos­ting beantworten.

Erster Ansatz: Der Markt

Man könn­te es sich ein­fach machen und ange­bots­öko­no­misch argu­men­tie­ren: „Nun­ja, es gibt halt nicht genug Nach­schub, der insze­niert wer­den könn­te.“ Das ist kein Argu­ment: Öko­no­mi­schen Regeln fol­gend, müss­te eine Nach­fra­ge sich ein Ange­bot erschaf­fen. Übri­gens: Das tut es sogar.

Zweiter Ansatz: Der Wahrnehmungsfehler

Tat­säch­lich gab es in den letz­ten Spiel­zei­ten so vie­le Urauf­füh­run­gen wie ver­mut­lich nie in der Thea­ter­ge­schich­te zuvor (Werk­sta­tis­tik Büh­nen­ver­ein 2008/09: 609 Ur- und Erst­auf­füh­run­gen!). Also: „Wahr­neh­mung öff­nen und sehen, dass die Behaup­tung falsch ist.“

Sie ist aller­dings nicht falsch. Die von den Batt­le­group-Autoren vor­ge­tra­ge­ne Behaup­tung, es gäbe zwar einen unstill­ba­ren Hun­ger nach Urauf­füh­run­gen, die zumeist von Jung­re­gis­seu­ren auf Werk­statt­büh­nen ver­heizt wür­den, trifft zu. Und sie ändert nichts an der Situa­ti­on, dass unter dem Deck­män­tel­chen des „Wir spie­len ja Neu­es“ tat­säch­lich eine basalt­e­ne Grund­struk­tur der Klas­si­ker­in­sze­nie­run­gen zu fin­den ist (2008/9 wur­den ins­ge­samt 3.710 Wer­ke laut Büh­nen­ver­ein auf­ge­führt – ein Sechs­tel also nur neue Tex­te, 3.100 nicht­neue Wer­ke bei ins­ge­samt 7.090 Insze­nie­run­gen, von denen dann die „neu­en“ Stü­cke, die zumeist nur ein­mal insze­niert wer­den, gera­de ein­mal  8,6% sind), in die nur gele­gent­lich eini­ge „embedded aut­hors“, die als Dra­ma­tur­gen oder ähn­li­ches im Betrieb durch­ge­nu­delt wer­den, inte­griert sind.

Der groß­ar­ti­ge, hier (lei­der offen­bar nicht mehr) blog­gen­de Frank Kroll vom Hen­schel-Schau­spiel­ver­lag hat sich vor eini­gen Jah­ren die Mühe gemacht, die Büh­nen­ver­eins-Sta­tis­tik jen­seits des ers­ten posi­ti­ven Ein­drucks nach­zu­rech­nen und kommt zu dem Ergebnis:

Zwar ist, abso­lut be­trach­tet, die Zahl der ur- und erst­auf­ge­führ­ten Wer­ke seit Beginn der 90er Jah­re um etwa ein Drit­tel ange­stie­gen, im sel­ben Zeit­raum redu­zier­te sich die durch­schnitt­li­che Vor­stel­lungs­zahl pro Werk jedoch um ein höhe­res Maß. Immer mehr Wer­ke wer­den von den Thea­tern «ent­deckt», erle­ben dann aber immer weni­ger Auf­füh­run­gen. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit neu­er deutsch- und fremd­spra­chi­ger Dra­ma­tik sta­gniert wei­ter­hin auf einem nied­ri­gen Level. Den viel­be­schwo­re­nen «Hype» mit Neu­er Dra­ma­tik hat es nie gege­ben. Zwi­schen der Selbst­dar­stel­lung der Thea­ter und dem tat­säch­li­chen Büh­nen­ge­sche­hen besteht eine deut­li­che Dis­kre­panz. (Quel­le)

Nur weil Buch­händ­ler auch lus­ti­ge Gruß­post­kar­ten an der Kas­se ver­kau­fen wer­den sie noch lan­ge nicht zu Gruß­post­kar­ten­ge­schäf­ten. Das „Kern­ge­schäft“ der Thea­ter ist und bleibt die bis zu Erbre­chen wie­der­hol­te Klas­sik. Warum?

Dritter Ansatz: psycho-ethisch

Tat­säch­lich begrün­det sich die­ses Ver­hal­ten aus fünf künst­le­ri­schen Tod­sün­den: Faul­heit, Feig­heit, Dumm­heit, Eitel­keit und Geiz. Und zwar so:

Ers­te Tod­sün­de Die Faul­heit der Theater

Es ist weit­aus ein­fa­cher, durch­ge­setz­te Tex­te aus dem Schrank zu zie­hen, deren Autoren bereits als rele­vant und per­sön­lich bedeu­tend kate­go­ri­siert sind, als sich mit irgend­wel­chen daher­ge­lau­fe­nen Neu­schrei­ber­lin­gen aus­ein­an­der zu set­zen. Das neue Stück hart viel­leicht Schwä­chen, der Autor ist selbst unbe­kannt und in sei­nen gedank­li­chen Struk­tu­ren noch in kei­ner Schub­la­de gelan­det. Sei­ne ideo­lo­gi­sche Rele­vanz und zugleich Unver­däch­tig­keit ist noch nichts bestä­tigt. Letzt­lich führt die Auf­füh­rung eines Tex­tes natür­lich immer dazu, sich hin­ter eine (viel­leicht homöo­pa­thisch dosier­te) Grund­aus­sa­ge oder Grund­ein­stel­lung zu stel­len, die am Thea­ter kei­nen unge­teil­ten Rück­halt fin­det. Da ist es doch viel ein­fa­cher, mit Les­sing die Tole­ranz zu fei­ern, mit Shake­speare die Inter­de­pen­denz zwi­schen Han­deln­den du Macht zu erkun­den, mit Goe­the die faus­ti­sche See­le des Deut­schen zu beleuch­ten. Und so weiter.

Man könn­te natür­lich die Arbeits- und Her­an­ge­hens­wei­se ändern und als Thea­ter mehr Ein­luss im Ent­ste­hungs­pro­zess neh­men. Es fin­det eine unglaub­li­che Talent­ver­schwen­dung im Bereich Thea­ter statt, die daher rührt, dass Autoren ihre Tex­te erst fer­tig stel­len bevor sie zum ers­ten Mal beur­teilt wer­den. Man mag schnel­ler oder lang­sa­mer schrei­ben: der eine nur 8 Wochen für einen Text brau­chen, die ande­re 12 Mona­te. Es ist viel Zeit und Auf­wand in einen Text geflos­sen, der dann auf den Dra­ma­tur­gen­schreib­ti­schen kom­pos­tiert, weil er das Haus sowie­so nicht, nicht in die­ser Form, Beset­zung bla inter­es­siert. Dann drehts doch um und ori­en­tiert euch an der Film­bran­che: Da wird mit einem Kurztre­at­ment begon­nen. Eine Sei­te. Kur­ze Beschrei­bung. Viel­leicht eine Sei­te Text­bei­spiel. Das lässt sich für Autoren an einem Wochen­en­de machen. Und die Ent­wick­lung kann in Gemein­schafts­ar­beit statt­fin­den. Viel­leicht sogar mit meh­re­ren Autoren an einem Text … Nur: Das schützt euch vor einem nicht. Die Thea­ter müs­sen wis­sen, was sie wol­len. Inhaltlich.

Sowohl die Aus­ein­an­der­set­zung mit einem text­li­chen Stand­punkt als auch die Beauf­tra­gung eines eige­nen Stücks for­dert das Bezie­hen eines eige­nen Stand­punk­tes jen­seits von: Kul­tur im All­ge­mei­nen und Thea­ter im Beson­de­ren ist wich­tig und muss des­we­gen öffent­lich finan­ziert wer­den. Etwas, das man eine Hal­tung nennt.  Damit wären wir bei der zwei­ten Sünde.

Zwei­te Tod­sün­de Die Feig­heit der Theater

Aller­or­ten gera­ten Thea­ter in öko­no­mi­schen Recht­fer­ti­gungs­druck. Sitz­aus­las­tun­gen und Ein­nah­men wer­den vom Trä­ger kon­trol­liert, Inten­dan­ten wie Mana­ger an den Zah­len gemes­sen. Platz­aus­las­tung schlägt Hirn­aus­las­tung. In sol­chen Bedro­hungs­zei­ten nei­gen mensch­li­che Kör­per und öffent­li­che Kör­per­schaf­ten zu Schock­re­ak­ti­on: Der Kör­per schal­tet im Augen­blick der Bedro­hung die Orga­ne ab (bzw. durch­blu­tet sie weni­ger), die als nicht unmit­tel­bar lebens­wich­tig gel­ten. Bei gro­ßem Blut­ver­lust wer­den Nie­re, Leber, Ver­dau­ungs­or­ga­ne, Haut usw. schlicht weni­ger mit Blut und Sau­er­stoff ver­sorgt – zuguns­ten der lebens­wich­ti­gen Zen­tral­or­ga­ne. Bewusst­lo­sig­keit folgt. Das ent­spricht der Situa­ti­on im Thea­ter. Man schal­tet auf lebens­er­hal­ten­de Tex­te um – und hat damit einen nicht zu  über­se­hen­den Erfolg beim Publi­kum. Aus simp­len öko­no­mi­schen Grün­den: Die Mar­ke machts.

Unter mit­tel­mä­ßi­gen Musi­kern garan­tiert das Dasein als Cover­band noch immer ein eini­ger­ma­ßen soli­des Aus­kom­men auf Aus­flugs­damp­fern und bei Kon­fir­ma­tio­nen. Ein biss­chen Elvis, Beat­les, Smo­key, Bob Mar­ley – und schon läuft die Par­ty und das Musikerle­ben. Und so trei­bens auch die Thea­ter. Shake­speare, Les­sing, Goe­the oder gar die Lite­ra­tur­no­bel­preis­trä­ger Tho­mas Mann und Her­tha Mül­ler las­sen sich gut auf Pla­ka­te dru­cken, sor­gen in noch vor­han­de­nen bil­dungs­bür­ger­li­chen Schich­ten für Kar­ten­kauf (dar­über hat sich Sta­del­mei­er beim Vor­blick auf die gegen­wär­ti­ge Sai­son unter dem Titel „Kommt raus, ihr Feig­lin­ge, ihr seid erzählt!“ wun­der­bar pole­misch über das „Best­sel­le­ri­sche“ aus­ge­las­sen) und sor­gen in kul­tur- und finanzp­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen natür­lich für viel schwe­rer Geschüt­ze . Es macht ein­fach kei­ner­lei Sinn, den Namen eines unbe­kann­ten Autors zu pla­ka­tie­ren. Das zieht nicht. Aus dem Bestre­ben, das Thea­ter als Insti­tu­ti­on zu kon­ser­vie­ren folgt ein inhalt­li­cher Kon­ser­va­ti­vis­mus, der ver­mut­lich den restau­ra­ti­ven The­am­terma­chern der 50er und 60er, den Bar­logs, Gründ­gens, Quad­fliegs, Goberts, Liet­zaus die FReun­den­trä­nen über den spä­ten Sige gegen die Rebel­len in die Augen trei­ben würde.

Eine Schock­re­ak­ti­on, die eben­falls in der Bewusst­lo­sig­keit endet. Der Spiel­be­trieb muss auf­recht erhal­ten wer­den. Scheiß auf Leber, Nie­re, Milz, Hirn. Wer kann es sich schon leis­ten, einen neu­en Namen zur Mar­ke zu machen – wo über­haupt sol­che Neu­au­to­ren nur im enge­ren Fach­zir­kel über­haupt ankom­men. Nicht ein­mal Hei­ner Mül­ler ist einem brei­ten Publi­kum ver­traut. Es braucht Inves­ti­ti­on, um einen Autor zu einer sol­chen Mar­ke zu machen. Und es bräuch­te: Mut, nicht in die Schock­star­re zu ver­fal­len und das Hirn auszuschalten.

Denn es bräuch­te neben der Kühn­heit, eine eige­ne Kunst zu ent­wi­ckeln, vor allem eine eige­ne Grund­hal­tung. Man fei­ert die DDR-Künst­ler noch dafür, Hal­tung gehabt zu haben, vom Staat nicht kor­rum­piert wor­den zu sein. Wer damals eine Hal­tung ent­wi­ckel­te, ris­kier­te Vie­les oder Alles: Wer heu­te eine Hal­tung ent­wi­ckel­te, ris­kier­te nichts. Es wür­den Betriebs­lei­ter dann wie­der zu Inten­dan­ten und Schau­fens­ter­ge­stal­ter wür­den wie­der als Regis­seu­re wahr­nehm­bar wer­den. Aber ris­kie­ren – was denn? Anzu­ecken. Zu pola­ri­sie­ren. Zu pro­vo­zie­ren, wie es einst, als durch Nackt­heit auf der Büh­ne ver­sucht wur­de, die im You­porn-Zeit­al­ter aller­dings nicht mehr für Erre­gung son­dern aller­höchs­tens zum Liken oder Bewer­ten der kör­per­li­chen Vor- und Nach­tei­le der so prä­sen­tier­ten Nack­ten führt. Wo lie­gen die Pain­points der Gesell­schaft, in die hin­ein zu sto­ßen, in denen mit einer Hal­tung auf­zu­tre­ten, Pro­vo­ka­ti­on und Skan­dal wäre?  Müss­te man mal über­le­gen. Womit wir bei der drit­ten Sün­de ange­langt wären.

Drit­te Tod­sün­de: Die Dumm­heit der Theater

Jen­seits von Mar­ken­na­men für Öffent­lich­keit zu sor­gen hie­ße: Pro­duk­te anzu­bie­ten, die jen­seits der Mar­ke inhalt­li­che Rele­vanz hät­ten. Will hei­ßen: Mer­ce­des ver­lauft Autos, weil Leu­te die Mar­ke Mer­ce­des lie­ben. Tes­la ver­kauft Autos, weil sie ein gran­dio­ses Auto bau­en, das auf ein aktu­el­les Bedürf­nis trifft. Was wären denn The­men, die für Rele­vanz und Inter­es­se sor­gen wür­den? Wenn Thea­ter viel­leicht einen Augen­blick lang nicht nur die in aller Medi­en lie­gen­de Mas­sen­kri­tik dumm über­näh­men, son­dern begön­nen, sich mit der Gegen­wart aus­ein­an­der zu set­zen. Was ist die­se Gegen­wart? Natio­nen wer­den von Ban­ken an den Abgrund getrie­ben. Die „Von deut­schem Boden dar nie wie­der Krieg aus­ge­hen“ Nati­on schickt Sol­da­ten in alle Tei­le der Welt, wirft Bom­ben auf euro­päi­sche Regio­nen, führt töd­li­che Gefech­te am Hin­du­kusch, kon­trol­liert die Welt­mee­re. Die neu­en Medi­en sor­gen für eine nie dage­we­se­ne Ver­än­de­rung der Poli­tik, der Wirt­schaft und des mensch­li­chen Mit­ein­an­ders. Und die Thea­ter? Schau­en dumm drein. Sau­dumm. Stand­punk­te? Stel­lung­nah­men? Dis­kur­se auf der Büh­ne (und nicht nur in Foy­er-Dis­kus­sio­nen oder Tru­bi­na­len)? Fehlanzeige.

Es fin­det kei­ne Aus­ein­an­der­set­zung jen­seits von „Hab ich ges­tern in Moni­tor gese­hen – ist schlimm, müs­sen wir auch mal sagen“ oder „Mei­ne Frau liest gera­de ein Buch über die Aus­beu­tung der drit­ten Welt, man müss­te dazu mal was machen“ statt. Der Gedan­ke, dass das Nach­plap­pern feuil­le­to­nis­ti­scher Gegen­warts­kri­tik kei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit der Gegen­wart ist, dass viel­mehr die feuil­le­to­nis­ti­sche Kri­tik selbst zum Teil der Gegen­wart gehört, mit der sich aus­ein­an­der­zu­set­zen nötig wäre – denks­te! Ne: Denks­te nicht. Wie das Kanin­chen blickt das Thea­ter auf die kame­ra­lis­ti­sche Schlan­ge der „Subventions“-kürzungen. Und betrach­tet die­sen Bereich der Öko­no­mie, die ans eige­ne Kunst­le­der greift, als die ein­zig inter­es­san­te Öko­no­mie. Wie das auf die Schrei­ber zurück­schlägt, hat Chris­toph Nuß­bau­me­der (mit eini­gen wei­te­ren Gedan­ken, deren Tenor sich in die hier dar­ge­leg­te psycho-ethik der Ursün­den recht naht­los ein­fügt) kürz­lich sehr prä­gnant im Frei­tag (hier) dar­ge­legt. Es kommt aller­dings noch ein Vier­tes dazu, das aus dem Betrieb selbst stammt und nicht unter­schätzt wer­den sollte.

Vier­te Tod­sün­de: Die (Ver-)Eitelkeit der Theaterschaffenden

Regis­seu­re und Dar­stel­ler sind Inter­pre­ten. Nie­mand ver­kör­pert eine Rol­le, nie­mand führt einen Text „werk­treu“ auf. Die­se Gespens­ter der Ver­kör­pe­rung der Werk­treue waren und blei­ben der größ­te und dümms­te Bal­last, den man Thea­tern anhän­gen kann. Zugleich führt das Inter­pre­ten­tum dazu, dass die betrieb­li­che Eitel­keit ein­fach gran­di­os genährt wird. Wie im klas­si­schen Musik­busi­ness Diri­gen­ten und voka­le oder instru­men­ta­le Solis­ten ihre eige­ne Grö­ße durch die indi­vi­du­el­le Inter­pre­ta­ti­on eines Wer­kes gewin­nen – so auch Regis­seu­re und Dar­stel­ler. Und es ist natür­lich alle­mal der Eitel­keit dien­li­cher, als indi­vi­du­ell ori­gi­nell in der Inter­pre­ta­ti­on einer bekann­ten „Rol­le“ oder eines „Wer­kes“ wahr­ge­nom­men zu wer­den, als in einem unbe­kann­ten Werk unun­ter­scheid­bar mit dem Ver­fas­ser zu sein. „Sie glänz­te als Ophe­lia wie kei­ne zuvor“ oder „Sein Richard III ist ein­zig­ar­tig“ leis­tet der Eitel­keit natür­lich wun­der­ba­ren Vor­schub – und ver­ei­telt Neu­es. Es gibt Berei­che, in denen Cover­bands zu Stars wer­den – eben in der Klassik.

So kämpft man in den Thea­tern um den Preis der bes­ten Cover­band mit gele­gent­li­chen „Wir haben auch was eige­nes dabei“-Einlagen namens Urauf­füh­rung. Schau­spie­ler kämp­fen um den Preis des am schöns­ten Aus­se­hens beim Klas­si­ker aus­wen­dig auf­sa­gen. Regis­seu­re spie­len „Thea­ter nach Zah­len“ malen – mit der Her­aus­for­de­rung, die Vor­zeich­nung mög­lichst indi­vi­du­ell zu be- oder über­ma­len. Mit Kunst hat das wenig zu tun, eher mit Vir­tuo­sen­tum. Wenn Thea­ter zum beleb­ten Schau­fens­ter his­to­ri­scher Muse­en und Biblio­the­ken wird – dann kann es nur Ziel der Dar­stel­ler wer­den, die schöns­te Schau­fens­ter­pup­pe zu wer­den. Und wenn die­se Eitel­keit sich erst ein­mal hin­rei­chend durch­ge­setzt hat, wird sie zum Selbst­läu­fer des Hirn­to­des. Zom­bie­thea­ter. Das aller­dings auf geis­ti­ge Nah­rung ver­zich­ten kann – was durch­aus eine Erspar­nis ist.

Fünf­te Tod­sün­de: Der Geiz

Noch mal der Text von Frank Kroll in eini­ger Ausführlichkiet:

Büh­nen­bild­ner, Requi­si­teu­re, Regie­as­sis­ten­ten wie Büh­nen­tech­ni­ker erhal­ten fixe Gagen oder Gehäl­ter. Autoren­ho­no­ra­re hin­ge­gen wer­den pro Vor­stel­lung und damit risi­ko­ab­hän­gig ent­lohnt. Eine Gegen­über­stel­lung der Bezü­ge (auch die­se fehlt in «Wer spiel­te was?») ergä­be, dass Autoren nicht sel­ten wie Gar­de­ro­ben­aus­hilfs­kräf­te bezahlt wer­den. […]Immer öfter ist […] davon die Rede, dass jun­ge Autoren doch dank­bar sein soll­ten, dass man sie über­haupt spielt. Der Umgangs­ton wird von Jahr zu Jahr ruppiger.

Es sind in aller Regel ande­re als finan­zi­el­le Grün­de, die jun­ge Autorin­nen und Autoren dazu bewe­gen, fürs Thea­ter zu schrei­ben. Nie­mand erwar­tet ernst­haft, es in die­sem Metier zu nen­nens­wer­tem Wohl­stand zu brin­gen. Es wird – ganz unpa­the­tisch – für die Kunst geschrie­ben. In der Hoff­nung, dass die­se dann auch statt­fin­det. Die Aus­ein­an­der­set­zung mit neu­en Stü­cken an den Thea­tern voll­zieht sich jedoch nicht sel­ten unter frag­wür­di­gen Umstän­den. Die über­wie­gen­de Zahl der Insze­nie­run­gen neu­er Stü­cke fin­det in Neben­spiel­stät­ten statt. Ein Stu­dio­thea­ter muss kein schlech­ter Raum für die Ent­de­ckung eines neu­en Stü­ckes sein. Neue Wer­ke mit etwas grö­ße­rer Beset­zung bekom­men hier jedoch schnell Atem­not. Nicht weni­ge Autorin­nen und Autoren haben über die Jah­re mit «klein­for­ma­ti­gen» Stü­cken auf die­sen Trend zu reagie­ren versucht.

Gleich­zei­tig hat der gestie­ge­ne Event-Bedarf der Thea­ter zur Aus­bil­dung eige­ner, «schnel­ler» und «jun­ger» Dar­bie­tungs­for­men jen­seits nor­ma­ler Insze­nie­run­gen geführt. Die Zahl der sze­ni­schen Lesun­gen, der Werk­statt­in­sze­nie­run­gen und klei­nen Autoren­spek­ta­kel nimmt wei­ter zu. Neben insze­na­to­risch zurück­hal­ten­den «Tisch-Lesun­gen» haben dabei die «anin­sze­nier­ten» For­men in den letz­ten Jah­ren immer mehr an Bedeu­tung gewon­nen. Dort tref­fen dann nicht sel­ten ambi­tio­nier­te Regie­as­sis­ten­ten auf über- und gleich­zei­tig unter­for­der­te Schau­spie­ler, die nach weni­gen Stun­den Pro­ben­zeit zwangs­läu­fig an kom­ple­xe­ren Figu­ren­zeich­nun­gen und Vor­gän­gen schei­tern. Wo Autoren­för­de­rung betrie­ben wer­den soll, wird unge­bremst in psy­cho­lo­gi­sche Fal­len getappt, wer­den Stück­mög­lich­kei­ten nicht sel­ten mit fal­scher Emo­tio­na­li­tät, Betrof­fen­heits­kitsch oder schep­pern­dem Requi­si­ten­spiel unter bes­ten Absich­ten begra­ben. Klei­ne Tisch­feu­er­wer­ke neu­er Dra­ma­tik, die nach ein­ma­li­ger Ver­an­stal­tung wir­kungs­los ver­puf­fen. Gleich­zei­tig wer­den sze­ni­sche Lesun­gen und soge­nann­te «Werk­statt­in­sze­nie­run­gen» mitt­ler­wei­le mit dem Auf­wand nor­ma­ler Pre­mie­ren bewor­ben. Sol­ches Ersatz- oder Instant-Thea­ter bedeu­tet dann mit­un­ter auch schon das Ende für die dort vor­ge­stell­ten Stü­cke. Das Urauf­füh­rungs­sie­gel ist abge­ris­sen, die «Ent­de­ckung» voll­zo­gen, nur sel­ten kommt es am betref­fen­den Haus selbst oder an ande­ren Thea­tern in der Fol­ge noch zu einer seri­ös gear­bei­te­ten Insze­nie­rung mit nor­ma­len Kon­zep­ti­ons- und Pro­ben­zei­ten. Neue Stü­cke, die es auf grö­ße­re Büh­nen schaf­fen, blei­ben die Ausnahme. […]

«Vor­sicht bei der Berufs­wahl!», will man den vie­len Talen­ten ange­sichts der dür­ren mate­ri­el­len wie künst­le­ri­schen Per­spek­ti­ven zurufen. […]

Vie­le Büh­nen sehen sich einem unver­min­der­ten Kos­ten­druck aus­ge­setzt, obwohl sie spä­tes­tens seit Mit­te der 90er Jah­re mas­si­ve Mit­tel­kür­zun­gen und schmerz­haf­te struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen umset­zen muss­ten. Unter die­sen schwie­ri­gen Bedin­gun­gen kann es kei­ne Lösung sein, finan­zi­el­len Druck an Autoren wei­ter­zu­lei­ten. Auch unter thea­ter öko­no­mi­schen Gesichts­punk­ten muss es frag­wür­dig erschei­nen, wenn pro­ble­ma­ti­schen kul­tur­po­li­ti­schen Vor­ga­ben mit einer Redu­zie­rung von Autoren­ho­no­ra­ren begeg­net wer­den soll. Der Zusam­men­hang lässt sich auch all­ge­mei­ner beschrei­ben: Ein Thea­ter, das sich hin­sicht­lich sei­ner Gegen­stän­de, sei­ner Pro­duk­ti­ons­wei­sen und sei­ner Wir­kun­gen als sozia­le Kunst ver­steht, betreibt die Aus­gren­zung des Autors aus dem Kunst­pro­zess Thea­ter, wenn es ihn nicht in ange­mes­se­ner Wei­se an den öffent­li­chen Kul­tur­in­ves­ti­tio­nen teil­ha­ben lässt. (Quel­le)

Was ist dem noch hin­zu­zu­fü­gen? Ach so, viel­leicht ein kur­zer Aus­zug aus der Ant­wort von Jon von Düf­fel und Andre­as Beck auf Krolls Text:

Die Autoren, ob jung oder alt, sind Teil eines Mark­tes, nach dem ers­ten Ent­de­ckungs­ju­bel steht oder fällt ihr Markt­wert von Stück zu Stück. (Quel­le)

Jungs, habt ihr noch alle Nadeln an der Tan­ne? Markt? Thea­ter ori­en­tiert sich an Markt­öko­no­mie? Dann wärt ihr eure Jobs los. Ohne jeden Umstand. Dann heißt es: Tags Taxi fah­ren, nachts Thea­ter machen. Auf dem Rücken der Autoren Markt­öko­no­mie leben und selbst öffent­li­che, steu­er­fi­nan­zier­te Gehäl­ter kas­sie­ren? Geht’s noch? Spinnt ihr? War­um wer­det ihr selbst, eure Dar­stel­ler und Schau­fens­ter­ge­stal­ter nicht pro­zen­tu­ell aus den Abend­ein­nah­men bezahlt? War­um trägt der Autor das Markt­ri­si­ko, nicht aber sein Inszenator?

Fazit: Nichts Neues

Tap­fer, wer sich lesend bis hier­her durch­ge­kämpft hat. Ist doch ver­mut­lich wenig Neu­es in die­ser Sua­da zu fin­den. Gelang­weilt wen­den sich der Betriebs­lei­ter und sein Per­so­nal ab. Alles schon gehört.

Wie wäre es denn aber, wenn die Schock­star­re und Bewusst­lo­sig­keit euch nicht län­ger im Griff hiel­te. Die thea­tra­le Tita­nic ist auf den kame­ra­lis­ti­schen Eis­berg gelau­fen. Abge­sof­fen muss also jetzt wer­den. Wie wollt ihr die letz­ten Minu­ten ver­brin­gen? In Schock­star­re gegen­über dem (ver­meint­lich oder ver­mut­lich) Unaus­weich­li­chen? Zit­ternd und bebend? Oder auf­recht ste­hend und mit aller Kon­se­quenz. Ver­bal­lert das Geld, das euch noch bleibt und geht laut­stark unter, statt still aus Todes­angst zu ster­ben. Ihr habt zu wenig Geld? Über­zeiht doch die Bud­gets, dass das Meer­was­ser schäumt von eurer Wut. Was ist die Kon­se­quenz? Ihr ver­liert die Jobs, die euch ver­mut­lich sowie­so abhan­den­kom­men. Ihr wer­det leben wie die Autoren heu­te. Ihr geht in den Knast? Ist es das nicht wert? Für eine Spiel­zeit, in der ihr das getan habt, was ihr schon immer in den Kan­ti­nen erträumt habt kurz bevor euch der Wirt besof­fen ins Taxi oder über die Klo­schüs­sel geschleift hat. Und wenn ihr nach hal­ber Spiel­zeit mit Schimpf und Schan­de aus euren Nor­mal­ver­trä­gen gewor­fen wer­det? Es gibt genug offe­ne Stel­len bei der Bun­des­an­stalt für Arbeit. Wäre es das nicht wert? Statt in Sün­de zu leben den Unter­gang als gege­ben hin­zu­neh­men – und ein­fach eine Run­de Scham­pus aufs Haus zu sau­fen? Ihr sauft doch eh ab. Mine­ral­was­ser­be­stel­lun­gen schüt­zen davon nicht. Die Finanz­göt­ter haben euch nicht lieb. Sie wer­den euch nicht lieb haben. Und Autoren ins klaf­fen­de Leck zu stop­fen und zu hof­fen, dass deren frü­hes Ersau­fen den Rest ret­tet – wird auch nicht hel­fen. Das Stück ist ein Stück Thea­ter ohne das Thea­ter kein Thea­ter ist.

Was kommt?

Die Welt, in der die Thea­ter sich noch befin­den, gibt es nicht mehr. Wer die­ses Blog liest, hat bereits eine Ahnung von der neu­en Welt. Nicht des Inhalts die­ses Blogs wegen – son­dern der digi­ta­len Welt wegen, in der das hier statt­fin­det. In der sich ein Irgend­je­mand ein eige­nes Publi­ka­ti­ons­or­gan schafft. Ohne Dru­cke­rei. Ohne Ver­trieb.  Ohne Bezah­lung. Das Netz – wie in dem einen oder ande­ren Pos­ting hier bereits aus­ge­führt – ver­än­dert die Welt mehr als alle Revo­lu­tio­nen und Erfin­dun­gen zuvor. Thea­ter wol­len heu­te noch die alte Welt bewah­ren. Für die­se Dino­sau­ri­er ist kein Platz mehr. Und Geld? Auch nicht. Die Flucht in die Ver­gan­gen­heit der Klas­si­ker ist der fal­sche Weg. Die Flucht geht nach vor­ne, zum Neuen.

Nora,

Faul­heit, Feig­heit, Dumm­heit, Eitel­keit als Grün­de für die Klas­si­ker­ver­haf­t­et­heit — wäre das eine Ant­wort auf dei­ne Frage?

 

§ 3 Responses to Warum so viele Klassikerinszenierungen: Die Todsünden des Theaters (Antwort auf Nora Decker)"

  • frank sagt:

    lie­ber dr. post­dra­ma­ti­ker, dan­ke fürs aus­führ­li­che zitie­ren (sogar mit quel­len­an­ga­be, ganz gegen den trend!). zum thea­ter als “stü­cke­markt” viel­leicht noch eine ket­ze­ri­sche anmer­kung, die ich mir damals aus tak­ti­schen grün­den gespart habe, weil es mir zuerst dar­um ging, pro­tes­tie­ren­de autorIn­nen zu unter­stüt­zen: natür­lich ist es auch ein pro­blem, dass so vie­le schwa­che stü­cke auf dem markt sind. neben weni­gen star­ken stü­cken. das hat auch grün­de im pro­fi­lie­rungs­be­dürf­nis von thea­ter­leu­ten, die für eine bestimm­te kurz­zeit­nach­fra­ge sor­gen. aber für tex­te ohne grö­ße­ren nach­klang sind immer zuerst ihre autorIn­nen ver­ant­wort­lich. manch­mal liegts an den publi­kums­oh­ren, wenn es nichts erlauscht. aber hier­zu­lan­de wird doch aller­or­ten sehr genau hin­ein­ge­horcht in stü­cke, wür­de ich mal behaup­ten. trotz­dem oft nur: rosa rau­schen. fro­he ostern wünscht jeden­falls mit auf­ge­stell­ten lau­schern — fk

  • Postdramatiker sagt:

    Ser­vus,
    frei­lich ist dem so, dass schwa­che Stü­cke nicht von Thea­tern her­ge­stellt wer­den und dass sich ver­mut­lich Vie­les auf dem gedul­di­gen Papier oder den Rech­nern fin­det, das eigent­lich nicht die Kraft für die Büh­ne hät­te (und gele­gent­lich den­noch da lan­det). Nun lese ich Neu­es nicht annä­hernd so exten­siv wie Sie — wes­we­gen ich mir kei­nen ent­spre­chen­den Rant auf Schrei­ber erlau­ben kann und will.
    Und wenn man Beck/Düffels Sot­ti­se zum The­ma Öko­no­mie des Stü­cke­marks für Autoren ernst nimmt, müss­ten Thea­ter vor allem das Ent­ste­hen neu­er Stü­cke sowohl durch Finan­zie­rung als durch Pro­fes­sio­na­li­sie­rung des Ent­ste­hungs­pro­zes­ses för­dern. Und zwar mit einer Ent­schie­den- und Ent­schlos­sen­heit, dass ent­spre­chen­de Erfol­ge sicht­bar wer­den. Man­gel­der Erfolg ist nur auf man­gel­des Momen­tum der Anstren­gun­gen zurük­zu­füh­ren. Don­t’t try — do!
    Ich jeden­falls gebe mich bis auf Wei­te­res nicht mit einem Seuf­zer zufrie­den “Ach, es gibt kei­ne star­ken Autoren mit star­ken Stü­cken mehr heut­zu­ta­ge.” (Den ich gera­de Ihnen natür­lich auch nicht unter­stel­le). Bis zum Beweis des Gegen­teils behaup­te ich: Sie wur­den nur ent­we­der noch nicht gefun­den, oder nicht (ernst zu neh­mend) auf­ge­führt, oder noch nicht geschrie­ben. Denn soll­te es sie nicht geben — kön­nen wir lang­sam über­le­gen, wofür die schö­nen Bau­ten genutzt wer­den kön­nen, nachem die Thea­ter geschlos­sen sein werden.
    Auch fro­he Ostern! Im Namen der Auferstehung…!

  • Postdramatiker sagt:

    Ach und eins noch: Blog doch mal wie­der bis­serl mehr. Gibt so wenig Den­kens- und Lesens­wer­tes zum Thea­ter im deut­schen Netz.

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