Das gegenwärtige Konstrukt namens Europäische Union entstand als eine wirtschaftliche Gebilde: EG — EWS — Ecu — EWU — EU (alles hier). Es veränderte und erweiterte sich zu einem politisch-bürokratischen Bund. Und lässt die Frage offen, wie sich die Gesellschaften (jenseits aller Nationen-Fragen) zueinander und miteinander verhalten. Dabei ist es höchste Zeit, sich dieser Frage zu nähern. Soll dieses Europa aus nebeneinander her existierenden, sich gelegentlich besuchenden Subgesellschaften gleich Städten oder Inseln bestehen? Oder soll sich eine gemeinsame Gesellschaft mit Vielheit entwickeln? Kann die europäische Verbindung der Gesellschaften ein utopisches Potenzial entwickeln — oder bleibt es der weitgehend skeptisch betrachtete, halbdemokratisch legitimierte bürokratische Moloch, dem man zwar — einer Versicherung gleich — angehört, mit dem man aber möglichst wenig zu tun haben möchte. Der zwar eine gemeinsame Währung, einen gemeinsamen Wirtschafts- und sich angleichenden Rechtsraum hervorbringt, gemeinsame Armeeteile aufstellt — aber nicht wirklich bei den Menschen ankommt.
Um damit zum Kernthema des Blogs zu kommen: Theaterleute wie Lessing waren es, die bei der Entstehung der Nation, die die Sprachgemeinschaft über die Standesdifferenzen setzen und Einheit herstellen sollte, das Wort führten. Dass die Nationsidee alles andere als unheikel war, stellte sich in der Folge heraus. Allzu machtvoll zog sie Chauvinismus, Nationalismus und was dergleichen mehr ist, hinter sich her. Es wird Zeit, die Frage nach dem transnationalen Europa zu stellen — gerade auch angesichts der gegenwärtigen Turbulenzen. Die Zugehörigkeit oder den Ausschluss eines Landes — wie gegenwärtig im Falle Griechenlands (ausgerechnet das Mutterland des Mythos von zeus und Europa!) — als rein wirtschaftliche Frage zu stellen und beantworten zu wollen, kann nur in die Irre führen. Dann sollten wir schlicht und einafch die ärmeren Länder insgesamt rauswerfen und vielleicht lieber die Kayman-Inseln und Tuvalu aufnehmen. Oder China. Oder Fidschi. Oder ist Europa ein regionales Konstrukt, dem die gemeinschaftlichen Außengrenzen zuvorderst wichtig sind? Sprachgemeinschaft kann es nicht sein. Dieses historische Gebilde sollte überwunden werden durch eine Europaidee.
Was wäre also ein Europatheater? Eines, das im Spieplan — den Opern gleich — die unterschiedlichsten Stücke in ihren Nationalsprachen mit Untertiteln zeigt? Nicht ernsthaft. Eines das Stücke aus allen Ländern in die Regionalsprache übersetzt und damit national assimiliert? Nicht ernsthaft. Ist Sprechtheater keine europäische sondern eine regionale Kunst (also eine Form nationales Mundarttheater) — und Oper oder noch mehr Tanz sind die theatralen Künste Europas? Ist europäisches Theater ein Tanztheater? Oder ist der Tanz wiederum zu universal um europäisch zu sein? Wie kann — in derselben Bewegung wie die Nationaltheaterbewegung Standesunterschiede durch Sprachgemeinschaft überwand — Theater seinen Beitrag zur Utopie einer Europäischen Transgesellschaft (Postgesellschaft?) leisten? Was ist die theatrale Idee von Europa — ohne Chauvinismus, Überlegenheitsdiskurse, Hegemonieträume, Gewaltbegründung? In der Orestie hat Aischylos den Übergang Athens aus einer archaischem in eine Rechtsgesellschaft dargestellt. Es wäre an der Zeit, diesen Versuch auch für eine europäische Idee zu unternehmen. Vielleicht Zeit für ein Europäisches (De-)Zentraltheater neben der Europäischen Zentralbank …?
Es lohnt sich, darüber weiter zu denken.