Zum Begriff der Inszenierung und ihrer Kritik — ein Extemporé zum Spiel

Juli 11th, 2011 § 3 comments

Die „Insze­nie­rung“ ver­sucht auch zu ver­spre­chen, dass ich mir den Abend oder Monat aus­su­chen kann , also in eine von meh­re­ren Vor­stel­lun­gen gehen kann – und den­noch die „sel­be“ Insze­nie­rung sehe. Wie­der ein­mal Ivan Nagel:

Inter­pre­ta­ti­on als sinn­vol­les Denk- und Arbeits­mo­dell hat zwei Bedin­gun­gen: Wie­der­hol­bar­keit und Ver­gleich­bar­keit des thea­tra­len Pro­dukts. (Schrif­ten zum Dra­ma, 24)

Zwar hat spä­tes­tens Kier­ke­gaard in „Die Wie­der­ho­lung“ fest­ge­stellt, dass es gera­de im Thea­ter die Wie­der­ho­lung nicht gibt. Das scheint aber den­je­ni­gen nicht zu betref­fen, der nicht wie­der­holt, son­dern ein­ma­lig in eine Insze­nie­rung geht. Immer­hin sehe ich noch das­sel­be Werk. Doku­men­ta­ti­ons­mit­tel wie das Regie­buch sol­len sicher stel­len, dass eine Insze­nie­rung wie­der­hol­bar ist, gar über Jah­re oder Jahr­zehn­te auch mit wech­seln­den Darstellern/Sängern/Tänzern auf­ge­führt wer­den kann – und dabei die­sel­be bleibt. Der Grund­glau­be der Indus­trie­ge­sell­schaft, die über­all wo „Nutel­la“ dar­auf steht erwar­tet, dass Nutel­la dar­in ist, die Pro­dukt­iden­ti­tät an jedem Ort und zu jeder Zeit garan­tiert, ist hier unver­kenn­bar am Wer­ke.  Es ist die Doku­ment­kul­tur, die aus dem Zeit­fluss aus­bre­chend ver­sucht, die Auf­füh­rung zu einem wie­der­hol­ba­ren Algo­rith­mus zu machen und doch nicht umhin kommt, anzu­er­ken­nen, dass selbst die­sel­be Insze­nie­rung von Abend zu Abend anders ist. Was sich aber nicht beob­ach­ten lässt, da der Beob­ach­ter nicht zwei­mal erst­mals in den Zeit­fluss stei­gen kann. Wäh­rend zugleich die Thea­ter­ma­cher kei­ne glaub­wür­di­gen Aus­kunft­ge­ber sind, weil für sie die Iden­ti­tät der Insze­nie­rung schon immer ein Kampf gegen Wind­müh­len­fü­gel war, den sie nicht gewin­nen konn­ten. Der thea­ter­ei­ge­ne Begriff der Indis­po­niert­heit, der also vor­aus­setzt, es gäbe eine Dis­po­si­ti­on zur iden­ti­schen Wie­der­ho­lung, zeugt von die­sem Kampf.

Nach der iden­ti­schen Inszenierung

Das Abrü­cken vom Insze­nie­rungs­be­griff wür­de Schluss machen kön­nen mit die­ser Ver­geu­dung. Anstatt die Ener­gie dar­ein zu set­zen, immer wie­der Sel­bes her­zu­stel­len, kann sie ihre Bah­nen in der Frei­heit der Anders­heit suchen.  Kei­ne Iden­ti­täts­ga­ran­tie. Nicht unbe­dingt als Auf­for­de­rung zum Extem­po­ré und zur Impro­vi­sa­ti­on. Son­dern zum Im-Pro­vi­so: Zum Un-Vor­her­ge­se­he­nen und Un-Vor­ge­se­he­nen, zum Un-Nach­seh­ba­ren zugleich. Jen­seits des Vor-Geschrie­be­nen Pro­gram­mes als auch das Un-Vor­ge­se­he­ne gesche­hen las­sen, nicht als Kadenz oder Frei­raum für Solis­ten. Son­dern als die Frei­heit des Voll­zu­ges, dem Fuß­ball­spiel gleich, das zwar sei­ne fest­ge­leg­ten Regeln und sei­ne trai­nier­ten Spiel­zü­ge hat, sich aber in situ den­noch mit einer gewis­sen Frei­heit ent­fal­ten kann. Die Ander­se­hit des nächs­ten Abends nicht betrach­tend als Miss­lin­gen der Sel­big­keit und Iden­ti­tät, son­dern als Frei­heit zum Anderen.

Ivan Nagels Hin­weis auf das Spiel fortführen

Das Spiel. Ivan Nagel hat es (eben­falls) ins Spiel gebracht. Das Spiel ist ein Kan­di­dat, den Begriff der Insze­nie­rung abzu­lö­sen. Vor­aus­ge­setzt es wird in all sei­nen im Deut­schen vor­han­de­nen Dimen­sio­nen auf­ge­nom­men und nicht nur als Syn­onym für die Tätig­keit des Thea­ter­ma­chens oder gar als Ant­ago­nist des Erns­tes betrach­tet. Las­sen wir Wiki­pe­dia die Ansät­ze der Spiel­di­men­si­on wiedergeben:

Das Spiel (von alt­hoch­deutsch: spil für „Tanz­be­we­gung“) ist eine Tätig­keit, die ohne bewuss­ten Zweck zum Ver­gnü­gen, zur Ent­span­nung, allein aus Freu­de an ihrer Aus­übung aus­ge­führt wird. Es ist eine Beschäf­ti­gung, die um der in ihr selbst lie­gen­den Zer­streu­ung, Erhei­te­rung oder Anre­gung wil­len und oft in Gemein­schaft mit ande­ren vor­ge­nom­men wird. Ein Groß­teil der kogni­ti­ven Ent­wick­lung und der Ent­wick­lung von moto­ri­schen Fähig­kei­ten fin­det durch Spie­len statt, beim Men­schen eben­so wie bei zahl­rei­chen Tier­ar­ten. Einem Spiel lie­gen oft ganz bestimm­te Hand­lungs­ab­läu­fe zugrun­de, aus denen, beson­ders in Gemein­schaft, ver­bind­li­che Regeln her­vor­ge­hen kön­nen. Die kon­kre­ten Hand­lungs­ab­läu­fe kön­nen sich sowohl aus der Art des Spiels selbst, den Spiel­re­geln (Völ­ker­ball, Mensch ärge­re Dich nicht) oder aber aus dem Wunsch ver­schie­de­ner Indi­vi­du­en erge­ben, gemein­schaft­lich zu han­deln (Bau einer Sand­burg). (hier)

Man teilt die Spie­le ein in

  • Bewe­gungs­spie­le, zu denen unter ande­ren die Ball‑, Kugel‑, Kegel‑, Ver­steck- und Fang­spie­le gehören;
  • Ruhe­spie­le, die der Schär­fung der Beob­ach­tung und der Auf­merk­sam­keit und der Betä­ti­gung des Geis­tes die­nen. Die meis­ten der soge­nann­ten Gesell­schafts­spie­le, dazu auch Karten‑, Brett­spie­le usw. gehö­ren zu die­sem Typus;
  • Wett­kampf­spie­le, die das sich Mes­sen mit den Fähig­kei­ten ande­rer zum Ziel haben. –
    Unter den Wett­kampf­spie­len gibt es sol­che, bei denen vor Beginn fest­steht, wer gewinnt, wenn er kei­nen Feh­ler macht (algo­rith­mi­sche Spie­le), dar­un­ter Streich­höl­zer weg­neh­men und Tic Tac Toe, und sol­che, bei denen man das (noch?) nicht weiß, dar­un­ter Go und Halma.

Spiel­ent­wick­lung bei Kindern:

  • Funk­ti­ons­spiel (Freu­de an der Bewegung)
  • Infor­ma­ti­ons­spiel (Lern­spiel)
  • Kon­struk­ti­ons­spiel (Bau­klöt­ze)
  • Illu­si­ons­spiel (Als-ob-Spiel)
  • Rol­len­spiel („Vater, Mut­ter, Kind“)
  • Regel­spiel (Mensch ärge­re Dich nicht)

Unter Lern­spie­len ver­steht man Spie­le, die neben einer spie­le­ri­schen Hand­lung und dem damit impli­zier­ten Ler­nen dem Spie­ler auch Wis­sen zu bestimm­ten The­men oder aber bestimm­te Fer­tig­kei­ten und Kul­tur­tech­ni­ken ver­mit­teln. (hier)

Bei einem Spiel im Sin­ne der Spiel­theo­rie han­delt es sich um ein mathe­ma­ti­sches Modell zur Beschrei­bung von Vor­gän­gen, in denen meh­re­re Akteu­re gegen­sei­tig die Ergeb­nis­se ihrer Ent­schei­dung beein­flus­sen. Im Unter­schied zur land­läu­fi­gen Bedeu­tung des Wor­tes Spiel sind damit z. B. Vor­gän­ge der Koor­di­na­ti­on von Funk­fre­quen­zen bei schlecht ver­ab­re­de­ten Ret­tungs­ein­sät­zen ein­ge­schlos­sen, sämt­li­che Ein­per­so­nen­spie­le aber aus­ge­schlos­sen. Dies hängt damit zusam­men, dass sich die Spiel­theo­rie aus der Betrach­tung bestimm­ter Spie­le her­aus zu einer sehr all­ge­mei­nen Spra­che für stra­te­gi­sche Kon­flik­te ent­wi­ckelt hat. (hier)

Das Spiel ist der fer­ti­gungs- und anwen­dungs­be­ding­te Bewe­gungs­frei­raum, in dem sich ein mecha­ni­sches Bau­teil nach der Mon­ta­ge inner­halb der Bau­grup­pe bzw. Funk­ti­ons­ein­heit ohne Kraft­über­tra­gung frei bewe­gen lässt. So wird die Bewe­gungs­frei­heit des Auto-Lenk­rads, die zu kei­ner Rich­tungs­än­de­rung der Räder führt, als Lenk­rad­spiel bezeich­net. (hier)

Als Spiel bezeich­net man in der Jäger­spra­che die auf­fal­len­den Schwanz­fe­dern ver­schie­de­ner hüh­ner­ar­ti­ger Vögel, die vor allem die männ­li­chen Tie­re auf­wei­sen. Zu den betref­fen­den Arten zäh­len etwa das Birk­huhn oder der Fasan. (hier)

In der Päd­ago­gik wer­den Spie­le, im Gegen­satz zum frei­en Spie­len, oft vom Spiel­lei­ter im Ent­wick­lungs­pro­zess vor­an­ge­trie­ben. Dabei kön­nen prin­zi­pi­ell alle Spie­le päd­ago­gi­sche Spie­le sein, wenn sie gezielt zur För­de­rung ein­ge­setzt wer­den. Unter ande­rem der psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Fach­be­reich der Spiel­the­ra­pie erar­bei­tet dafür die theo­re­ti­schen Grundlagen.

All­ge­mein kann man unter Sprach­spiel jede Form der sprach­li­chen Äuße­rung inner­halb eines prak­ti­schen Kon­texts ver­ste­hen, also die unzäh­li­gen Arten des Zeichen‑, Wort- und Satz­ge­brauchs. Witt­gen­stein betont dies mit dem Begriff, dass „das Spre­chen der Spra­che ein Teil ist einer Tätig­keit, oder einer Lebens­form“. Dabei kön­nen die­se sprach­li­chen Äuße­run­gen von klei­nen Lau­ten wie „Aua“ oder „Hil­fe!“ bis zu kom­ple­xen sprach­li­chen Sys­te­men rei­chen: Auch die Phi­lo­so­phie, eine Fach­spra­che, ein Witz, ein lite­ra­ri­scher Text oder ande­re Sprach­for­men kön­nen daher als Sprach­spie­le bezeich­net wer­den. (hier)

Kei­ne Ahnung, ob nur mir das so geht – aber die Dimen­sio­nen des Spiel­be­griffs öff­nen der Beob­ach­tung von Thea­ter Ein­bli­cke, die die dum­me Fokus­sie­rung auf die „Insze­nie­rung“ ver­hin­dert. Der “Speil”-Begriff kann eine Rol­le spie­len, die das Rol­len­spiel der Insze­nie­rung ablöst, uhne ihre Rol­le zu über­neh­men. Die Insze­nie­rung spielt kei­ne Rol­le mehr, wenn das Spiel auf die Büh­ne tritt.

Vor 15 Jah­ren hat­te ich in mei­ner Magis­ter­ar­beit (kann man hier ger­ne run­ter­la­den und nach­le­sen) dem Jeu-Begriff des genia­len Éti­en­ne Sou­ri­au in sei­nem fast völ­lig ver­ges­se­nen spät­struk­tu­ra­lis­ti­schen oder pro­to-sys­tem­the­or­ei­schen Les Deux Cent Mil­le Situa­tions dra­ma­ti­ques, nach­ge­spürt. Die­se Spiel­di­men­si­on lässt sich auf Tex­te her­vor­ra­gend anwen­den – und öff­net den Blick auf das Spiel mit dem Text, mit dem Kör­per, dem Publi­kum, dem Licht, der Zeit, dem Sinn. Sinn­spie­le – neh­men wir das viel­leicht dem­nächst als Arbeits­be­griff anstel­le von insze­nier­tem Theater?

§ 3 Responses to Zum Begriff der Inszenierung und ihrer Kritik — ein Extemporé zum Spiel"

  • Kai Bremer sagt:

    In Ergän­zung zu mei­nem Kom­men­tar zum ers­ten Insze­nie­rungs­ar­ti­kel: Wel­cher Mensch geht denn davon aus, dass eine Insze­nie­rung eine Wie­der­ho­lung der Pre­mie­re ist? Natür­lich gibt es Regie­bü­cher, aber die sind doch nicht zuletzt auch Stüt­zen, kaum mehr. Die Sache mit der Wie­der­ho­lung ist doch viel­mehr dem Umstand geschul­det, dass ein Thea­ter­abend auch ein Ereig­nis ist, an dem vie­le Men­schen über den einen Abend hin­aus teil­ha­ben möch­ten. Wenn ich an einem Abend nicht kann und ich lese eine Kri­tik oder höre von einem Bekann­ten, dass der Abend gut war, dann bemü­he ich mich um eine Kar­te, um auch eine guten Abend zu haben. Das Thea­ter schafft da ein gewis­ses Maß an Ver­läss­lich­keit, aber doch kaum mehr. In die­sem Sin­ne: Einen guten Abend und vie­len Dank für die anre­gen­den Pos­tings — auch wenn bzw. gera­de weil ich nicht Dei­ner Mei­nung bin!

  • Postdramatiker sagt:

    Der Begriff der Insze­nie­rung schleppt die­se Wie­der­hol­bar­keit mit sich her­um. In der Kom­mu­ni­ka­ti­on über einen Thea­ter­abend wer­den übli­cher­wei­se kei­ne Zeit­mar­ker ein­ge­führt, die zwei über die “Insze­nie­rung” Reden­de offen kom­mu­ni­zie­ren las­sen, dass der Besuch der Vor­stel­lung am Mon­tag ver­schie­den von der­je­ni­gen im Juni ist. Die Beob­ach­tungs­ge­nau­ig­keit des Ento­mo­lo­gen, der unter­schied­li­che Indi­vi­du­en des Pfau­en­au­ges zu beob­ach­ten befä­higt ist, ist ver­schie­den von der Beob­ach­tung, der es aus­reicht, über­haupt das Pfau­en­au­ge iden­ti­fi­zie­ren zu kön­nen gegen­über einem Drit­ten, der nur weiß, dass er einen Schmet­ter­ling sah. Es gehört zu den Grund­an­nah­men der wraenf­ör­mi­gen Indus­trie­welt anzu­neh­men, dass unter dem­sel­ben Namen das iden­ti­sche Pro­dukt zu fin­den ist. Das sich das nicht sichern lässt — trotz aller Regie­bü­cher — gehört eben­so­wohl zu den Grund­be­din­gun­gen von Thea­ter wie die wie­der­ho­len­de Ein­übung als Insze­nie­rung ver­sucht, die­se iden­ti­sche Wie­der­hol­bar­keit mög­lichst zu treffen.

  • Kai Bremer sagt:

    “Der Begriff der Insze­nie­rung schleppt die­se Wie­der­hol­bar­keit mit sich her­um.” Das ist sehr rich­tig, kei­ne Fra­ge. Aber hat das wirk­lich was mit Waren­welt zu tun? Ist das nicht viel­mehr ein seman­ti­sches Pro­blem? Wenn ich “Nutel­la” sage (um bei Dei­nem schö­nen Bei­spiel zu blei­ben), habe ich extrem prä­zi­se Vor­stel­lun­gen, bei “Tem­po” ist das schon weni­ger prä­zi­se (muss schließ­lich nur irgend­ein Taschen­tuch sein). Und wenn ich “Stuhl” sage, erst recht. Wir erwar­ten also viel­fach gar nicht etwas exakt Glei­ches — und das tun wir im Thea­ter doch auch nicht. Ich den­ke schon, dass den meis­ten Thea­ter­be­su­chern klar ist, dass zwei Auf­füh­run­gen nie iden­tisch sind. Aber Thea­ter erfüllt schließ­lich auch eine sozia­le Funk­ti­on, man will dar­über spre­chen. Des­we­gen braucht es auch zuver­läs­sig Ver­gleichs­punk­te. Sonst ist das Gespräch dar­über been­det — über “Nutel­la” tau­sche ich mich schließ­lich nicht wei­ter aus, son­dern mag es oder nicht. Jetzt aber Schluss mit der Schleichwerbung!

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