Die „Inszenierung“ versucht auch zu versprechen, dass ich mir den Abend oder Monat aussuchen kann , also in eine von mehreren Vorstellungen gehen kann – und dennoch die „selbe“ Inszenierung sehe. Wieder einmal Ivan Nagel:
Interpretation als sinnvolles Denk- und Arbeitsmodell hat zwei Bedingungen: Wiederholbarkeit und Vergleichbarkeit des theatralen Produkts. (Schriften zum Drama, 24)
Zwar hat spätestens Kierkegaard in „Die Wiederholung“ festgestellt, dass es gerade im Theater die Wiederholung nicht gibt. Das scheint aber denjenigen nicht zu betreffen, der nicht wiederholt, sondern einmalig in eine Inszenierung geht. Immerhin sehe ich noch dasselbe Werk. Dokumentationsmittel wie das Regiebuch sollen sicher stellen, dass eine Inszenierung wiederholbar ist, gar über Jahre oder Jahrzehnte auch mit wechselnden Darstellern/Sängern/Tänzern aufgeführt werden kann – und dabei dieselbe bleibt. Der Grundglaube der Industriegesellschaft, die überall wo „Nutella“ darauf steht erwartet, dass Nutella darin ist, die Produktidentität an jedem Ort und zu jeder Zeit garantiert, ist hier unverkennbar am Werke. Es ist die Dokumentkultur, die aus dem Zeitfluss ausbrechend versucht, die Aufführung zu einem wiederholbaren Algorithmus zu machen und doch nicht umhin kommt, anzuerkennen, dass selbst dieselbe Inszenierung von Abend zu Abend anders ist. Was sich aber nicht beobachten lässt, da der Beobachter nicht zweimal erstmals in den Zeitfluss steigen kann. Während zugleich die Theatermacher keine glaubwürdigen Auskunftgeber sind, weil für sie die Identität der Inszenierung schon immer ein Kampf gegen Windmühlenfügel war, den sie nicht gewinnen konnten. Der theatereigene Begriff der Indisponiertheit, der also voraussetzt, es gäbe eine Disposition zur identischen Wiederholung, zeugt von diesem Kampf.
Nach der identischen Inszenierung
Das Abrücken vom Inszenierungsbegriff würde Schluss machen können mit dieser Vergeudung. Anstatt die Energie darein zu setzen, immer wieder Selbes herzustellen, kann sie ihre Bahnen in der Freiheit der Andersheit suchen. Keine Identitätsgarantie. Nicht unbedingt als Aufforderung zum Extemporé und zur Improvisation. Sondern zum Im-Proviso: Zum Un-Vorhergesehenen und Un-Vorgesehenen, zum Un-Nachsehbaren zugleich. Jenseits des Vor-Geschriebenen Programmes als auch das Un-Vorgesehene geschehen lassen, nicht als Kadenz oder Freiraum für Solisten. Sondern als die Freiheit des Vollzuges, dem Fußballspiel gleich, das zwar seine festgelegten Regeln und seine trainierten Spielzüge hat, sich aber in situ dennoch mit einer gewissen Freiheit entfalten kann. Die Andersehit des nächsten Abends nicht betrachtend als Misslingen der Selbigkeit und Identität, sondern als Freiheit zum Anderen.
Ivan Nagels Hinweis auf das Spiel fortführen
Das Spiel. Ivan Nagel hat es (ebenfalls) ins Spiel gebracht. Das Spiel ist ein Kandidat, den Begriff der Inszenierung abzulösen. Vorausgesetzt es wird in all seinen im Deutschen vorhandenen Dimensionen aufgenommen und nicht nur als Synonym für die Tätigkeit des Theatermachens oder gar als Antagonist des Ernstes betrachtet. Lassen wir Wikipedia die Ansätze der Spieldimension wiedergeben:
Das Spiel (von althochdeutsch: spil für „Tanzbewegung“) ist eine Tätigkeit, die ohne bewussten Zweck zum Vergnügen, zur Entspannung, allein aus Freude an ihrer Ausübung ausgeführt wird. Es ist eine Beschäftigung, die um der in ihr selbst liegenden Zerstreuung, Erheiterung oder Anregung willen und oft in Gemeinschaft mit anderen vorgenommen wird. Ein Großteil der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung von motorischen Fähigkeiten findet durch Spielen statt, beim Menschen ebenso wie bei zahlreichen Tierarten. Einem Spiel liegen oft ganz bestimmte Handlungsabläufe zugrunde, aus denen, besonders in Gemeinschaft, verbindliche Regeln hervorgehen können. Die konkreten Handlungsabläufe können sich sowohl aus der Art des Spiels selbst, den Spielregeln (Völkerball, Mensch ärgere Dich nicht) oder aber aus dem Wunsch verschiedener Individuen ergeben, gemeinschaftlich zu handeln (Bau einer Sandburg). (hier)
Man teilt die Spiele ein in
- Bewegungsspiele, zu denen unter anderen die Ball‑, Kugel‑, Kegel‑, Versteck- und Fangspiele gehören;
- Ruhespiele, die der Schärfung der Beobachtung und der Aufmerksamkeit und der Betätigung des Geistes dienen. Die meisten der sogenannten Gesellschaftsspiele, dazu auch Karten‑, Brettspiele usw. gehören zu diesem Typus;
- Wettkampfspiele, die das sich Messen mit den Fähigkeiten anderer zum Ziel haben. –
Unter den Wettkampfspielen gibt es solche, bei denen vor Beginn feststeht, wer gewinnt, wenn er keinen Fehler macht (algorithmische Spiele), darunter Streichhölzer wegnehmen und Tic Tac Toe, und solche, bei denen man das (noch?) nicht weiß, darunter Go und Halma.Spielentwicklung bei Kindern:
- Funktionsspiel (Freude an der Bewegung)
- Informationsspiel (Lernspiel)
- Konstruktionsspiel (Bauklötze)
- Illusionsspiel (Als-ob-Spiel)
- Rollenspiel („Vater, Mutter, Kind“)
- Regelspiel (Mensch ärgere Dich nicht)
Unter Lernspielen versteht man Spiele, die neben einer spielerischen Handlung und dem damit implizierten Lernen dem Spieler auch Wissen zu bestimmten Themen oder aber bestimmte Fertigkeiten und Kulturtechniken vermitteln. (hier)
Bei einem Spiel im Sinne der Spieltheorie handelt es sich um ein mathematisches Modell zur Beschreibung von Vorgängen, in denen mehrere Akteure gegenseitig die Ergebnisse ihrer Entscheidung beeinflussen. Im Unterschied zur landläufigen Bedeutung des Wortes Spiel sind damit z. B. Vorgänge der Koordination von Funkfrequenzen bei schlecht verabredeten Rettungseinsätzen eingeschlossen, sämtliche Einpersonenspiele aber ausgeschlossen. Dies hängt damit zusammen, dass sich die Spieltheorie aus der Betrachtung bestimmter Spiele heraus zu einer sehr allgemeinen Sprache für strategische Konflikte entwickelt hat. (hier)
Das Spiel ist der fertigungs- und anwendungsbedingte Bewegungsfreiraum, in dem sich ein mechanisches Bauteil nach der Montage innerhalb der Baugruppe bzw. Funktionseinheit ohne Kraftübertragung frei bewegen lässt. So wird die Bewegungsfreiheit des Auto-Lenkrads, die zu keiner Richtungsänderung der Räder führt, als Lenkradspiel bezeichnet. (hier)
Als Spiel bezeichnet man in der Jägersprache die auffallenden Schwanzfedern verschiedener hühnerartiger Vögel, die vor allem die männlichen Tiere aufweisen. Zu den betreffenden Arten zählen etwa das Birkhuhn oder der Fasan. (hier)
In der Pädagogik werden Spiele, im Gegensatz zum freien Spielen, oft vom Spielleiter im Entwicklungsprozess vorangetrieben. Dabei können prinzipiell alle Spiele pädagogische Spiele sein, wenn sie gezielt zur Förderung eingesetzt werden. Unter anderem der psychotherapeutische Fachbereich der Spieltherapie erarbeitet dafür die theoretischen Grundlagen.
Allgemein kann man unter Sprachspiel jede Form der sprachlichen Äußerung innerhalb eines praktischen Kontexts verstehen, also die unzähligen Arten des Zeichen‑, Wort- und Satzgebrauchs. Wittgenstein betont dies mit dem Begriff, dass „das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform“. Dabei können diese sprachlichen Äußerungen von kleinen Lauten wie „Aua“ oder „Hilfe!“ bis zu komplexen sprachlichen Systemen reichen: Auch die Philosophie, eine Fachsprache, ein Witz, ein literarischer Text oder andere Sprachformen können daher als Sprachspiele bezeichnet werden. (hier)
Keine Ahnung, ob nur mir das so geht – aber die Dimensionen des Spielbegriffs öffnen der Beobachtung von Theater Einblicke, die die dumme Fokussierung auf die „Inszenierung“ verhindert. Der “Speil”-Begriff kann eine Rolle spielen, die das Rollenspiel der Inszenierung ablöst, uhne ihre Rolle zu übernehmen. Die Inszenierung spielt keine Rolle mehr, wenn das Spiel auf die Bühne tritt.
Vor 15 Jahren hatte ich in meiner Magisterarbeit (kann man hier gerne runterladen und nachlesen) dem Jeu-Begriff des genialen Étienne Souriau in seinem fast völlig vergessenen spätstrukturalistischen oder proto-systemtheoreischen Les Deux Cent Mille Situations dramatiques, nachgespürt. Diese Spieldimension lässt sich auf Texte hervorragend anwenden – und öffnet den Blick auf das Spiel mit dem Text, mit dem Körper, dem Publikum, dem Licht, der Zeit, dem Sinn. Sinnspiele – nehmen wir das vielleicht demnächst als Arbeitsbegriff anstelle von inszeniertem Theater?
In Ergänzung zu meinem Kommentar zum ersten Inszenierungsartikel: Welcher Mensch geht denn davon aus, dass eine Inszenierung eine Wiederholung der Premiere ist? Natürlich gibt es Regiebücher, aber die sind doch nicht zuletzt auch Stützen, kaum mehr. Die Sache mit der Wiederholung ist doch vielmehr dem Umstand geschuldet, dass ein Theaterabend auch ein Ereignis ist, an dem viele Menschen über den einen Abend hinaus teilhaben möchten. Wenn ich an einem Abend nicht kann und ich lese eine Kritik oder höre von einem Bekannten, dass der Abend gut war, dann bemühe ich mich um eine Karte, um auch eine guten Abend zu haben. Das Theater schafft da ein gewisses Maß an Verlässlichkeit, aber doch kaum mehr. In diesem Sinne: Einen guten Abend und vielen Dank für die anregenden Postings — auch wenn bzw. gerade weil ich nicht Deiner Meinung bin!
Der Begriff der Inszenierung schleppt diese Wiederholbarkeit mit sich herum. In der Kommunikation über einen Theaterabend werden üblicherweise keine Zeitmarker eingeführt, die zwei über die “Inszenierung” Redende offen kommunizieren lassen, dass der Besuch der Vorstellung am Montag verschieden von derjenigen im Juni ist. Die Beobachtungsgenauigkeit des Entomologen, der unterschiedliche Individuen des Pfauenauges zu beobachten befähigt ist, ist verschieden von der Beobachtung, der es ausreicht, überhaupt das Pfauenauge identifizieren zu können gegenüber einem Dritten, der nur weiß, dass er einen Schmetterling sah. Es gehört zu den Grundannahmen der wraenförmigen Industriewelt anzunehmen, dass unter demselben Namen das identische Produkt zu finden ist. Das sich das nicht sichern lässt — trotz aller Regiebücher — gehört ebensowohl zu den Grundbedingungen von Theater wie die wiederholende Einübung als Inszenierung versucht, diese identische Wiederholbarkeit möglichst zu treffen.
“Der Begriff der Inszenierung schleppt diese Wiederholbarkeit mit sich herum.” Das ist sehr richtig, keine Frage. Aber hat das wirklich was mit Warenwelt zu tun? Ist das nicht vielmehr ein semantisches Problem? Wenn ich “Nutella” sage (um bei Deinem schönen Beispiel zu bleiben), habe ich extrem präzise Vorstellungen, bei “Tempo” ist das schon weniger präzise (muss schließlich nur irgendein Taschentuch sein). Und wenn ich “Stuhl” sage, erst recht. Wir erwarten also vielfach gar nicht etwas exakt Gleiches — und das tun wir im Theater doch auch nicht. Ich denke schon, dass den meisten Theaterbesuchern klar ist, dass zwei Aufführungen nie identisch sind. Aber Theater erfüllt schließlich auch eine soziale Funktion, man will darüber sprechen. Deswegen braucht es auch zuverlässig Vergleichspunkte. Sonst ist das Gespräch darüber beendet — über “Nutella” tausche ich mich schließlich nicht weiter aus, sondern mag es oder nicht. Jetzt aber Schluss mit der Schleichwerbung!