Nachtkritik wusste vorgestern zu vermelden, dass der Deutsche Bühnenverein die deutsche Theaterlandschaft auf die Liste der bedrohten Irgendwasse bei der UNESCO, Theaterintendanten auf die rote Liste der aussterbenden Arten, den Deutschen Bühnenverein auf die UN-Liste der Vereine ohne zahlende Mitglieder setzen und durch Blauhelme schützen lassen, zu Besucherstatistiken auch vorbeifliegende Drohnen rechnen will. Das alles ist im inne des erhalts der deutschen Kultur- und Theaterlandschaft natürlich hoch sinnvoll, der Schritt in die richtige Richtung. Allerdings bleibt es weit hinter dem zurück, was Karl Valentin bereits vor Jahrzehnten vorschlug. Mit dem Titel: Zwangsvorstellungen. Kennt vermutlich jeder. Aber weils doch so schön ist, hier noch einmal:
Karl Valentin: Zwangsvorstellungen
Woher diese leeren Theater? Nur durch das Ausbleiben des Publikums. Schuld daran — nur der Staat. Warum wird kein Theaterzwang eingeführt? Wenn jeder Mensch in das Theater gehen muß, wird die Sache gleich anders. Warum ist der Schulzwang eingeführt? Kein Schüler würde die Schule besuchen, wenn er nicht müßte. Beim Theater, wenn es auch nicht leicht ist, würde sich das unschwer ebenfalls doch vielleicht einführen lassen. Der gute Wille und die Pflicht bringen alles zustande.
Ist das Theater nicht auch Schule, Fragezeichen!
Schon bei den Kindern könnte man beginnen mit dem Theaterzwang. Das Repertoire eines Kindertheaters wäre sicherlich nur auf Märchen aufgebaut, wie “Hänsel und Gretel”, “Der Wolf und die sieben Schneewittchen”.
In der Großstadt sind hundert Schulen, jede Schule hat tausend Kinder pro Tag, das sind hunderttausend Kinder. Diese hunderttausend Kinder jeden Tag vormittags in die Schule, jeden Nachmittag ins Theater — Eintritt pro Kinderperson fünfzig Pfennig, natürlich auf Staatskosten, das sind hundert Theater je tausend Sitzplätze. Also per Theater 500RM — sind 50000RM bei hundert Theatern.
Wieviel Schauspielern wäre hier Arbeitsgelegenheit geboten! Der Theaterzwang bezirksweise eingeführt, würde das ganze Wirtschaftsleben neu beleben. Es ist absolut nicht einerlei, wenn ich sage: soll ich heute ins Theater gehen, oder wenn es heißt: ich muß heute ins Theater gehen. Durch diese Theaterpflicht läßt der betreffende Staatsbürger freiwillig alle anderen stupiden Abendunterhaltungen fahren, wie Kegelschieben, Tarocken, Biertischpolitik, Rendezvous, ferner die zeitraubenden blöden Gesellschaftsspiele: “Fürchtet ihr den schwarzen Mann”, “Schneider, leih mir deine Frau” usw.
Der Staatsbürger weiß, daß er ins Theater muß — er braucht sich kein Stück mehr herauszusuchen, er hat keinen Zweifel darüber, soll ich mir heute “Tristan und Isolde” anschauen nein, er muß sichs anschauen — denn es ist seine Pflicht.
Er ist gezwungen, dreihundertfünfundsechzigmal im Jahr ins Theater zu gehen, ob es ihm nun vor dem Theater graust oder nicht. Einem Schüler graust es auch, in die Schule zu gehen, aber er geht gern hinein, weil er muß. — Zwang! — Nur durch Zwang ist heute unser Theaterpublikum zum Theaterbesuch zu zwingen. Mit guten Worten haben wir jetzt Jahrzehnte hindurch wenig Erfolg gehabt. Die verlockendsten Anpreisungen, wie: geheizter Zuschauerraum — oder: während der Pause Rauchen im Freien gestattet — oder: Studenten und Militär vom General abwärts halbe Preise; alle diese Begünstigungen haben die Theater nicht füllen können. — Die Reklame, die bei einem großen Theater jährlich Hunderte von Mark verschlingt, fällt bei dem Theaterzwang gänzlich weg. Ebenfalls auch die Preise der Plätze; denn die Plätze werden nicht mehr nach Standesunterschieden, sondern nach den Schwächen und Gebrechen der Theaterbesucher eingeteilt:
1.- 5. Parkettreihe: Die Schwerhörigen und die Kurzsichtigen.
6.–10. Parkettreihe: Die Hypochonder und Neurastheniker.
11.–15. Parkettreihe: Die Haut- und Gemütskranken.
Sämtliche Rang- und Galerieplätze stehen den Asthmatikern und Gichtleidenden zur Verfügung.
Auf eine Stadt wie Berlin kämen also — ausgenommen die Säuglinge und Kinder unter acht Jahren, Bettlägerige und Greise — täglich rund zwei Millionen Theaterbesuchspflichtige, eine Zahl, die die jetzige Theaterbesucherzahl der Freiwilligen weit überschreitet.
Man hat ja mit der freiwilligen Feuerwehr ebenfalls bittere Erfahrungen gemacht — und nach langer Zeit nun eingesehen, daß es heute ohne Pflichtfeuerwehr nicht geht.
Warum geht es also bei der Feuerwehr und nicht beim Theater? Gerade Feuerwehr und Theater sind heute so innig verbunden — ich habe in meiner langjährigen Bühnenpraxis hinter den Kulissen noch nie ein Theaterstück ohne Feuerwehrmann gesehen.
Sollte die vorgeschlagene “Allgemeine Theaterbesuchspflicht”, genannt “ATBPF”, zur Einführung kommen und, wie oben erwähnt, täglich zwei Millionen Mensehen in das Theater zwingen, so müssen in einer Stadt wie Berlin zwanzig Theater mit je hunderttausend Plätzen zur Verfügung stehen. Oder vierzig Theater mit je fünfzigtausend Plätzen — oder hundertsechzig Theater mit je zwölftausendfünfhundert Plätzen — oder dreihundertzwanzig Theater mit je sechstausendzweihundertfünfzig Plätzen — oder sechshundertvierzig Theater mit dreitausendeinhundertfünfundzwanzig Plätzen — oder zwei Millionen Theater mit je einem Platz.
Was aber dann für eine famose Stimmung in einem vollbesetzten Hause mit, sagen wir, fünfzigtausend Besuchern herrscht, weiß nur jeder Darsteller selbst. Nur durch solche eminente Machtmittel kann man den leeren Häusern auf die Füße helfen, nicht durch Freikarten — nein — nur durch Zwang — und zwingen kann den Staatsbürger nur der Staat.