Vor etwa 80 Jahren brachen Soziologen in den österreichischen Ort Marienthal nahe Wien auf, um eine sozialpsychologische Studie über ein im Ganzen arbeitsloses Dorf zu verfassen. Es entstand eines der wichtigsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts, die Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (Buch, Wikipedia, Materialien). Anders als der Name des Ortes, bleiben die Bewohner im Buch anonym. Keine Namen, keine Charakterisierungen, die Fremden die Identifizierung Einzelner ermöglichten.
Vor einigen Jahren brach nun erneut eine Gruppe von Soziologen, begleitet von Theaterleuten, auf, um diese Studie nachzuspielen, zu wiederholen, zu erneuern. Unter Leitung von Heinz Bude besuchten sie Wittenberge in Brandenburg, um eine Studie über eine Verliererstadt anzustellen, in der Ausgangslage fast ähnlich zu Marienthal. Im direkten Vergleich der daraus entstandenen Bücher ist das Wittenberge-Buch „ÜberLeben im Umbruch“ (hier die Projektwebseite) zunächst eine herbe Enttäuschung. Die beobachteten Bewohner wollten nicht so recht mitspielen.
In Marienthal konnten die Forscher noch verschleiern, was ihre wahre Absicht war. Mit Mitteln nachrichtendienstlicher Agententätigkeit konnten sie sich einschleusen, das Vertrauen der Bewohner gewinnen und Einsichten über das beobachtete Leben generieren, bei dem die Beobachteten sich nicht beobachtet wähnten – und sich deswegen nicht für die Beobachtung inszenieren:
Es war unser durchgängig eingehaltener Standpunkt, daß kein einziger unserer Mitarbeiter in der Rolle des Reporters und Beobachters in Marienthal sein durfte, sondern daß sich jeder durch irgendeine, auch für die Bevölkerung nützliche Funktion in das Gesamtleben einzufügen hatte. (28)
Vielfältige Tricks kamen zur Anwendung, die die unverstellte Meinung oder die wahre Situation der Menschen zum Vorschein bringen sollte: Institutionen und Initiativen wurden geschaffen. Selbst die eingerichteten ärztlichen Behandlungen dienten zur Erhebung von Material. Man gewinnt „unauffällige Einblicke“, „Vertrauen“, „Kontrolle“, verschafft sich Aufzeichnungen durch Schnittzeichenkurse, lockt Mädchen durch einen Turnkurs an und horcht Eltern in der Erziehungsberatung aus. Im Verlauf des Textes finden sich gelegentlich Erklärungen, welcher kreativer Methoden man sich bediente, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und verdeckt Informationen zu sammeln. Ein Beispiel:
Die Erhebungsarbeit in Marienthal begann damit, daß wir hundert Familien einen Hausbesuch abstatteten, um sie nach ihren besonderen Wünschen bei einer von uns geplanten Kleideraktion zu fragen. Diese Besuche wurden dazu benutzt, durch Beobachtungen und Gespräche Material über die Grundhaltung dieser Familien zu sammeln. Als dann die Kleider bei uns abgeholt wurden, fragten wir die Betreffenden nach ihren Lebensgeschichten, die gewöhnlich breitwillig erzählt wurden. Dieselben Menschen beobachteten wir in den verschiednsten Situationen: bi unseren Kursen, in politischen Versammlungen, führten über sie und mit ihnen Gespräche, und stets wurde das gesamte Material sofort protokolliert. (64)
In Wittenberge war hingegen schon bei der Ankunft geleakt, was die Fremden in der Stadt wollten und unter welcher Perspektive sie diese Stadt wählten. Als Verlierer von Anfang an gebrandmarkt, lehnten sich örtliche Presse und Politik gegen den Impetus der Studie auf und bescherten den Besuchern mancherlei Probleme, die bei genauerer Betrachtung mehr über die Gegenwart zu erzählen vermögen, als es die ursprüngliche Absicht der Forscher, wie sie im Buch dargestellt wird, vermuten lässt.
Wittenberge
In Wittenberge war der journalistische Nachrichtendienst der Einwohner dem wissenschaftlichen Nachrichtendienst voraus. Diese kamen, um die „anderen“ zu beobachten und sie durch die Beobachtung zu Anderen zu machen, zum Objekt der Beobachtung und stellten fest, dass schon zuvor oder gleichzeitig die Anderen sie selbst zu anderen gemacht hatten, die die Beobachter bei der Beobachtungsarbeit beobachteten und nunmehr – der Mediokratie angemessen – sich selbst so zu inszenieren oder zu verbergen unternahmen, dass die Beobachtung sich nicht mehr neutral zu den Beobachteten verhalten konnte. Man hätte zu den verfeinerten Methoden der Stasi als Stawi greifen müssen, um durch inoffizielle Mitarbeiter Erkenntnisse über die Beobachteten zu gewinnen, die sich während der Beobachtung nicht beobachtet wähnen.
Die nicht hinreichend geheimen Agenten der wissenschaftlichen und künstlerischen Öffentlichkeit wurden so von den Objekten der Forschung sofort als Sozialpornographen enttarnt. Komisch genug, dass die Soziologisch mit solchen sozialen Prozessen offenbar nicht hinreichend gerechnet, sich jedenfalls nicht darauf vorbereitet hatten. Schade aber auch, dass die Wittenberger nicht begonnen haben, Journale zu führen, Fotos von Fotografen gemacht haben, ein Buch herausgebracht haben über die befremdlichen Fremden, die sie selbst zu Fremden machen wollten, um sie der Öffentlichkeit als Fremde bekannt zu machen.
Der Leser als Beobachter der Beobachter der Beobachter .…
Spannend und lesenswert ist das Wittenberge-Buch dennoch, liest man es als Beobachter dessen, was die beobachteten Beobachter beobachteten und beobachtet dabei die Beobachtungskaskade. Denn natürlich sind Soziologen in einem mediokratischen Dorf, in dem sie beobachtet werden, selbst Teil eines neuen Soziotops, das sich nunmehr konstituiert aus den Anderen, die sie als Andere beobachten wollten und den Anderen, zu denen sie dadurch wurden, dass diejenigen, die sie beobachten wollten, sich beobachtet wähnten und die Beobachter beim Beobachten beobachteten. Das Buch als Beobachtung dieser verwickelten Kaskade nunmehr lesend zu beobachten, ist aufschlussreich, weil es die Verwicklung der soziologischen Beobachter in die durch die Beobachtung abgetrennte Gesellschaft dokumentiert. Der Beobachter der Gesellschaft ist in der Mediokratie zugleich Teil der Gesellschaft, etwa in der Form des Re-Entry der Beobachtung und der Beobachterposition in das beobachtete Andere, das zugleich andres ist und nicht mehr ist, weil es zugleich durch die Beobachtung die beobachtenden Anderen abtrennen will, sie aber als anderen Teil der beobachteten Gesellschaft selbst wieder eintritt in das Beobachtete. Was zu beobachten wäre.
Wenn Beobachter bei der Beobachtung auf beobachtete Beobachter treffen…
Man könnte geneigt sein, dies in einer Hegelpersiflage als „Soziophänomenologie des Geistes“ in buchförmiger Sequenzierung aufzulösen, müsste sich dabei aber eingestehen, dass leider den hegelschen Spiralen einige Windungen zu Beginn und zu Ende fehlen.
Es hätte (hätte wäre wenn – hat aber nicht) allerdings durchaus zu einem spannenden Theaterabend gereicht – vorausgesetzt, man hätte die Dialektik auf zwei Spielorte verteilt, die dem Publikum nur die Anwesenheit bei jeweils einem gestatten. Vielleicht einen in Wittenberge, einen in Berlin? Und vielleicht mithilfe der grandiosen Telepresence Magic?
Hinterher lässt sich leicht klugscheißen. Geschenkt – oder wie Freiherr von Knigge sagte: Man soll Theater nicht danach beurteilen, was es sein könnte, sondern danach, was es ist.
Die Theaterperspektive
Dass Theaterleute bei der Aktion dabei sein sollten, ist interessant – und bedauerlich, dass selbst sie nicht durchschaut haben, wie die Verwicklung sich verwickelt. Denn zu glauben, Theater sei das, was auf der Bühne passiert, ist Naivität. Nicht nur das Bühnengeschehen verdoppelt sich im Zuge dessen, was (hier, weiter hier und hier) vor längerem als der Riss beschrieben wurde, die Trennung zwischen Bühne und Auditorium, die dafür sorgt, dass das, was auf der Bühne stattfindet, ein Doppeltes ist, sondern durch die Spaltung vollzieht sich eben auch die Verdoppelung des Auditoriums. Man muss sich im Zuschauerraum als Zuschauer verhalten. Es gibt im Theater keine Position außerhalb des Theaters, nur außerhalb der Bühne, die allerdings im Blick von der Bühne in den Zuschauerraum den Zuschauerraum bühnenhaft zerschlägt.
Der Preis der Beobachtung einer Theatervorstellung ist, dass sich der Zuschauer als Zuschauer beobachtet. Nämlich als Beobachter des zu Beobachtenden, dabei selbst sine Beobachtung beobachtet. Beruhigend wirkt dabei natürlich das Brechtische Versprechen: Man sieht nur die im Licht – und die im Dunkeln sieht man nicht“. Macht es doch den Theaterzuschauern das Versprechen, beim Beobachten nicht beobachtet werden zu können. Dass Soziologen sich dieser Hoffnung hingegeben haben könnten, als Dunkelmänner durch Wittenberge streichen zu können, das Wittenberger Theater also aus der dunklen Position des Theaterzuschauers wahrnehmen zu dürfen, mag man kaum glauben.
Die assoziierten Soziologen
Der Soziologe kommt nicht umhin, sich dem Sozius, den er in und durch seine Beobachtung als Sozius konstituieren will, zu assoziieren. Als ein solcher Assoziologe wird er assozial und sozialisiert sich mit dem ihm als Assozius gegenüberstehenden Sozius, der eben im Akt der Assoziation zum Assozius des Assozius wird. Es kann keiner einen anderen als beobachtbaren anderen setzen, ohne sich selbst dabei als anderen (des anderen) gesetzt zu haben. Der Soziologe wollte sich asozial außerhalb des Sozius stellen – und endet als Assozius und damit Teil der Assoziation.
Wenn also von Verlierern die Rede ist im Buch – wer sind dann die Verlierer wenn nicht die Soziologen, die sich den Verlust ihrer Beobachterposition eingestehen müssen und selbst zu Beobachteten werden. In einer Gesellschaft, die sich gegenüber Soziologen beobachtend verhält und ihr Verhalten auf die assoziierten Soziologen zuschneidet, lässt sich nicht viel Anderes sagen, als dass das Soziale bereits soziologisch ist, bevor die Soziologen es beobachten. Es wäre vielleicht der spannendere Ansatz gewesen zu untersuchen, wie eine durch Medien bereits beobachtete und damit zutiefst soziologische Gemeinschaft wie die Stadt Wittenberge, deren Problem nicht nur ihre Lage, sondern auch die sich in Beschreibungen ausdrückende Beobachtung ist, auf sich assoziierende Soziologen reagiert.
In Marienthal konnten sich die Beobachter noch durch Verkleidung als Publikum ausgeben, konnten ihre Doppelrolle von Beobachtern und Mitspielern kaschieren, die sie dazu befähigte, die anonymen Einwohner Marienthals in der Rolle von „Arbeitslosen“ zu beobachten. Noch konnten also Zuschauspieler Darsteller beobachten, einerseits in der Helle der Öffentlichkeit, zugleich in einer Doppelrolle als Dunkelmänner. Die Sozilogen in Wittenberge hingegen sahen sich in einer Position, in der sie nicht mehr sichern konnten, Zuschauer zu sein. Vielmehr wurden sie selbst auf der Bühne, die sie betreten oder als Zuschauer beobachten wollten, selbst zu Beschauten, wurden selbst auf eine Bühne auf der Bühne gerissen. Zugleich aber brachen beide Bühnen zusammen, denn wer für wen welche Rolle spielte ließ sich nicht durch Gesamtsituationen konstituieren. Ein Magritte’scher Raum statt eines theatralen.