Rolf Todesco hat einen interessanten Text zum Thema Massen und Massenmedien geschrieben (hier).Dabei definiert er Massenmedien folgendermaßen:
Als Massenmedien bezeichne ich Zeitungen, Radio, Fernsehen, usw., also journalistische Artefakte, die funktional zwischen einer Redaktion und einem Publikum vermitteln, indem sie Signale vermitteln, die als Schrift, Bild oder Ton usw. interpretiert werden.
Später formuliert er:
„Massenmedien“ sind Medien, die sich an Massen richten.
Ich finde den Ansatz spannend, würde ihn aber gedanklich ein Stück weit verschieben oder umkehren, wie ich in einem Kommentar dazu geschrieben habe:
„Massenmedien“ sind Medien, die sich an Massen richten. “ – könnte man nicht umgekehrt behaupten, Massenmedien seien Medien, die Massen erschaffen. Spezifizierter (wenn es um als nicht-fiktional gekennzeichnete, sogenannte Nachrichtensendungen geht): ein Publikum oder gar (wenn es sich um politische-gesellschaftliche) Nachrichten handelt: eine Öffentlichkeit? Sodaß der Fluch des Massenmediums darin bestünde, fortgesetzt weiter Inhalte zu produzieren, um die Masse, die sich zwar vereinzelt in den Wohnzimmern befindet, durch Schaffung eines potenziell allgemeinen Gesprächszusammenhangs (Über Politik reden – mit Freunden, an Stammtischen, auf Parties) weiter als Masse zu stabilisieren, die genau idann wieder in ihre Konstituenten zerfiele, wenn das Massenmedium ausfällt?
Nimmt man also als Ansatz: Massenmedien sind Medien, die eine Masse produzieren, wird der diffuse und schwer fassbare Begriff der “Masse” plötzlich nicht nur greifbarer, sondern das Publikum der von Todesco beschriebenen Massenmedien wird plötzlich anschlussfähig an andere Massenbildungen, die durch Medien bewirkt werden. Im Deutschen hat “Publikum” keine Mehrzahl — anders als im Amerikanischen, wo sich in der Formulierung “Appoved for all audiences”, die von der Medienkontrolle verwendet wird, durchscheint, dass sich in einer Masse verschiedene Massen befinden können. Im Amerikanischen sind damit verschiedene Altersgruppen gemeint, die segmentiert und ggf. durch Ratings ausgeschlossen, also spezifiziert werden können. Zugleich wird durch das Zulassen bestimmter Gruppen eine Masse (oder mehrere Massen) definierter Eigenschaften generiert. Im Deutschen scheint für diesen Audience-Begriff lediglich “Zielgruppe” als annähernd adäquate, inhaltlich aber irreführende Formulierung Übersetzung angemessen.
Wenn sich Medien also eine Masse erschaffen, ist es zugleich — führt man den Gedanken von Alex Demiroivic fort, der im Entstehen der Zeitungenen zugleich das Entstehen einer Öffentlichkeit sah, also einer Masse, die den Namen “Öffentlichkeit” verliehen bekommt, weil sie sich mit politischen Inhalten auseinandersetzt — die Aufgabe dieser Massenmedien, Masse zu schaffen. Das Medium addressiert nicht die Masse, es erschafft sie.
Die Verschiebung würde in Luhmanns schon zum wohlfeilen Bonmot geronnenen Satz “alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien” aus der Realität der Massenmedien einen deutlich anderen Fokus setzen. Denn jenseits einer Auskunft über die Realitätskonstruktion durch die Massenmedien sagt dieser Satz implizit auch, dass es ein “wir” gibt. Dieses “wir”, so wäre hinzuzufügen, gäbe es nicht ohne das, was das Wir über Welt und Gesellschaft weiß. Das heißt: Nicht nur die Welt und die Gesellschaft wird durch Massenmedien konstruiert, sondern auch die Masse, die glauben kann, ein Wir zu sein, weil sie dieses Wissen um Welt und Gesellschaft teilt.
Das Massenmedium erschafft die Masse jenseits des stummen Gaffens auf den Bildschirm, das Druckwerk oder die Bühne zugleich als Konversationszusammenhang. Die Masse, die ein bestimmtes Medium konsumiert, hat ein potenziell gemeinsames Set an Themen, weil sich alle Teilnehmer dieser Masse darauf verlassen können, dass sie mit anderen Teilnehmern dieser Masse über die Themen reden können, die das Medium beinhaltete (etwa Luhmanns Buch, der die Leser zu einem Wir vereint, diezugleich Teilgruppe des der Wir-Masse sind, über die gehandelt wird, wie sie eine eigene Masse der Wissenden formiert, die sich gegen Unwissende abgrenzt). Die Masse wird zu einer Gesprächsmasse, die zugleich, über eine längere Zeit Masse gewesen, bestimmte Grundüberzeugungen teilt, die das Medium (Fernsehen oder mediale Systemtheorie) jederzeit reproduzieren muss, um die Masse zu stabilisieren.
Damit sind wir in der Kirche und deren Funktion, Massen zu schaffen. Einerseits die überregionalen Glaubensgemeinschaften, zugleich aber die örtlichen Massen im Sinne einer gemeinde. Die erste Masse ist durch das Massenmedium Buch zusammengehalten. Es ist die Masse derer, die ein bestimmtes Buch lesen und “glauben”. Letztere ist eine Masse, die einen bestimmten Ort frequentieren — die Kirche. Und sich dort die entsprechenden Inhalte, die der Masse wiederum Gesprächsstoff geben (Predigten), abzuholen. Die Masse kommt nicht in die Kirche. Die Masse verlässt die Kirche. Das Medium erschafft Masse und Massen.
“Masse” ist dann aber schon nicht mehr nur einfach ein zufällig aufgeschütteter Haufen von Elementen, sondern Masse ist bereits ein — zunächst unstrukturiertes — Konglomerat. Ein solches, das bereits ein Gemeinsames besitzt, ohne dass dieses Gemeiname noch dazu geführt haben muss, tatsächlich differenzierend zu wirken. Die Massenbildung durch Massenmedien wäre demnach — wollte man dinigermaßen oberflächlich historisch argumentieren — ein Nachfolgemodell von Einheitserzählungen wie Stammes- oder Nationalmythen, die zuvor über die Weitererzählung dazu geführt haben, dass durch mündliche Weitergabe sich eine Masse sukzessive aufaddierte. Man mag an homnerische Mythen, nordische Sagen, Mahabharata und was dergleichen mehr ist, denken. Man mag über die Interferenz von göttlicher und menschlicher, menschlicher und “natürlicher” Natur denken, die in diesen Mythenkreisen zugleich stattfand und dafür gesorgt hat, dass nicht nur eine Masse erzeugt wurde von solchen, die durch diese Mythen zur Masse wurden, sondern zugleich Erklärungsmuster bereitstellten, die das In-der-Welt-sein mit all seinen Unfällen, Zufällen, Naturereignissen für diese Masse transparenter amchten.
Darin aber zeigt sich die Frühform heutiger Massenmedien wie Zeitungen oder Fernsehen: Strukture Erklärungsmuster, die von der Masse geteilt werden, die durch das Medium zur Masse wird. Die Masse ist auch hier eine Masse geteilter Überzeugungen, die sich allerdings nicht auf herkömmliche Massengebiete beschränkt bzw. nicht mit diesen deckungsgleich ist: auch wenn die FAZ die “Zeitung für Deutschland” sein will, ist sie doch nur die Zeitung für die Masse der FAZ Leser. Auch wenn die ARD das “Erste Deutsche Fernsehen” ist, muss es doch mit dem Gedanken sich abfinden, dass es auch ein Zweites und einige Dutzend weitere gibt, die ihre eigenen Massen formen.
Von einer solchen Massenbildung durch ein Medium war hier im Blog letztens im Zusammenhang mit dem Theater die Rede (hier), als es darum ging zu zeigen, dass Theater im 19. Jahrhundert gerade deswegen einen solchen Aufschwung und so rege Bautätigkeit erlebten, weil Massen zu konstituieren waren. In diesem Falle eine einigermaßen gut beschreibbare Masse: Das Biludungs- udn Besitzbürgertum, das sich sowohl von der Adelsgesellschaft als auch von der Arbeitermasse, die sich in hegelscher Tradition durch die Wiederspiegelung in ihrem Werk narzisstisch selbst erkannte, abgrenzen wollte.
Das Neue nun, das das Netz ist, besteht darin, dass die Masse sowohl Medium als auch mediengeneriert ist. Die Rede von der “Internetcommunity”, als die traditionelle Massenmedien kaum anders das Netz beschreiben können, zeigt den Blick von Außen, zeigt zugleich, dass es sich weder um nationale noch inhaltliche Grenzen oder Differenzen handelt, die die Masse unterteilen.
Dafür aber unterteilt sich das Netz in verschidenste Bubbles, in Privatöffentlichkeiten und Freundeskreise, in der die Zurechnung von Sendemedium und Empfänger (wie sie aus der vorherigen Zeit der Massenmedien besteht) nicht mehr gilt. Weil die Masse selbst das Medium ist, das sich selbst in Massen unterteilen mag. Daher die Schwierigkeit zwischen “privat” und “öffentlich” zu unterscheiden, die für gegenwärtig so viel Furore sorgt. “Öffentlichkeit” ist eine bestimmte Form von durch Medien produzierter Masse, das sich im Wesentlichen dadurch auszeichnet, dass es egal ist, wen die Botschaft erreicht. Wenn es dieses Medium nicht mehr (oder nicht mehr als Leitmdium) gibt, bedarf auch der Begriff der Öffentlichkeit einer anderen Definition. Ebenso wie der Begriff der Privatheit, der wiederum eine (sehr viel kleinere) andere Masse umfasst, für die exklusive Inhalte produziert werden, deren Empfänger klar definiert und addressiert sind.
To be continued.
Man könnte vielleicht mit oder gegen Luhmann sagen, dass die Masse die Umwelt des Mediums ist, das Massenmedium genannt wird — also auch das, was hier “WIR” oder Oeffentlichkeit genannt wird. Dann ginge es darum, beide Seiten der Unterscheidung zu beobachten, also das Medium UND die Masse. Vor allem aber würde ich dann neben der Unterscheidung auch den Raum der Unterscheidung beobachten: Durch welche Beobachtung wird Medien/Massen erzeugt?
Eine für mich plausible Beobachtung wäre: Autoren (subjektivierte Autorität) erzeugen diskursiv die Vorstellung, dass sie sich an jemanden richten, und dass dieses “jemand” als Masse (allenfalls sogar mit einem Wir-Gefühl) vorhanden sei.
Ein Blog (wie dieser hier) könnte dann als Produkt einer Ein-Mann-Redaktion als Massenmedium beobachtet werden.
“Ein Blog (wie dieser hier) könnte dann als Produkt einer Ein-Mann-Redaktion als Massenmedium beobachtet werden.” Genau. Möglichkeit zur Bildung einer Masse, wie das Sandkorn der Auster die Möglichkeit bildet, eine Perle zu bilden. Und zugleich ihnen Möglichkeit bietend, ein luhmannsches “Wir” zu bilden durch die Gemeinsamkeit der Rezeption des Blogs, die wahrnehmbar gemacht wird durch das Sich-Zutwittern, das Auf-Facebook-Sharen, das Auch-Fan-der-Seite-sein, das vielleicht sogar Darüber-Reden.
hmmm ;-) so (naturdialektisch) würde ich dagegen nicht beobachten: Die Auster meint ja vermutlich nicht, dass sie aus einem Sandkorn in eine Perle macht, geschweige denn dass es Perlen überhaupt gibt. Redaktionen aber sind wohl bestimmt durch die Vorstellung eine Leserschaft, Oeffentlichkeit, Massenpublikum zu haben.
Mir geht es mehr um die Vorstellungen von Redaktionen (auch Ein-Mann-Redaktionen) als um Massen. Darum, wie wer sich Massen vorstellt, wenn er Massenmedien sagt.